Warten
Leise senkte sich die Dämmerung über das Tal. Wie ein roter Feuerball verschwand langsam die Sonne hinter den Hügeln. Die Blüten schlossen ihre Kelche, gleichsam zum Schutz gegen die aufkommende Kühle. Die Mücken begannen ihr Spiel über dem Wasser. Eine Lerche stieg hoch in der Luft und erfreute mit ihrem unvergleichlichen Gesang.
Im Haus war es still. Nur das Knistern der brennenden Holzscheite war zu hören. Lautlos schwang das Pendel der großen Uhr hin und her. Unaufhörlich verrannen die Minuten.
Elisabeth hielt es schon lange nicht mehr in ihrem geliebten Sessel. Sie hatte das Buch zur Seite gelegt. Immer wieder hatte sie versucht sich zu konzentrieren, die Spannung der Handlung mit Freude aufzunehmen. Am Ende der Seite fing sie jedoch immer wieder von vorne an, weil nichts von den Worten im Gedächtnis haften geblieben war. Zu sehr waren ihre Gedanken abgelenkt. Sie kreisten nur um das eine. Sabine! Wo war sie?
Seit einer Stunde müßte sie bereits hier sein. Die kurze Strecke war leicht in vierzig Minuten zu fahren. Ihre Tochter war mit ihrem neuen, kleinen Flitzer unterwegs zu ihr. Sie hatte angerufen und fröhlich mitgeteilt: "Mutti, ich komme. In einer guten halben Stunde bin ich bei dir. Mach schon mal einen guten Kaffee. Ich habe dir ganz viel zu erzählen." Ich antwortete: "Ich freue mich Kind. Fahr Vorsichtig!"
Das sgt sie nicht ohne Grund. Viel zu sehr waren ihr noch die schrecklichen Augenblicke in Erinnerung. Augenblicke, die alles verändern sollten. Ihr ganzes Leben von einer Minute zur anderen.
Auch damals war es ein wunderschöner Abend. Auch damals hatte sie zu lesen versucht und war zu unruhig, weil er so lange ausblieb. Seit Stunden hätte er schon da sein müssen. Seine Arme hätten sie umfangen, seine dunkle volle Stimme sie begrüßen müssen. Ihr Herz hätte einen Takt schneller schlagen und das Haus wäre lebendig geworden.
Wie heute, so stand sie damals am Fenster, unruhig, angstvoll. Damals vor fast acht Jahren. Zwei Polizeibeamte brachten schließlich die Nachricht. Fast schuldbewußt standen sie in der Türe. Es war ihnen unangenehm ihr in das kalkweiße Gesicht zu sehen, ihren Schmerz miterleben zu müssen. Höflich boten sie Hilfe an und waren froh, als sie diese ablehnte.
Sabine hatte es ebenfalls furchtbar getroffen. Monatelang weigerte sich sich in ein Auto zu steigen. War es doch eines von ihnen, der ihr den geliebten Vater genommen hatte. Lange wollte sie keinen Führerschein machen. Erst im vergangenen Sommer, mit zweiundzwanzig Jahren, konnte sie ihr Freund dazu überreden. Seit dem jedoch, war sie mit Freude unterwegs. Leider fuhr sie viel zu schnell. Die Sorglosigkeit der Jugend hatte gesiegt.
Nun war sie seit über einer Stunde überfällig. Natürlich wird es einen harmlosen Grund geben. Das Schicksal würde doch nicht zweimal auf die selbe grausame Weise zuschlagen.
Der Zeiger der Uhr rückte unaufhörlich weiter. Die Sonne war nun ganz hinter dem Horizont verschwunden. Morgen wird wieder ein schöner Tag werden.
Endlich kam ein Wagen die Auffahrt herauf. Langsam, als wolle er gar nicht vorwärtskommen. Es war nicht der kleine silberne Intaliener. Das Polizeiauto fuhr ohne Sirene, aber das Blaulicht schickte seine rotierendes Licht gespenstisch über die Wiesen als schicke es gleichsam die Botschaft voraus.
Das Warten hatte ein ENDE.