Wartezimmer (Arbeitstitel)
Die Halogenlampen taten in den Augen weh. Ihr kaltes, künstliches Licht tauchte den Warteraum in eine unwirkliche Atmosphäre, die einen die Zeit vergessen ließ. Ich wusste nicht mehr, wie lange ich schon dasaß. Ich wusste nur noch, dass die kleine Gruppe junger Menschen schon dagewesen war, als ich den Raum betreten hatte, und dass der Mann, der jetzt konzentriert in seine Zeitung starrte, erst eine ganze Weile nach mir gekommen war. Seitdem hatten wir kein Wort miteinander gesprochen. Der Mann mit der Zeitung hatte sich still hingesetzt und zu lesen begonnen. Die drei jungen Leute schienen von ihrer Umgebung keine Notiz zu nehmen. Einer von ihnen, ein dunkelhaariger Mann, vielleicht Mitte 20, saß in seinem Stuhl und spielte unablässig mit einem Feuerzeug in seinen Händen herum. Er hatte eine Zigarette im Mund, hatte sie aber die ganze Zeit über nicht angezündet. Er hätte sie sowieso sofort wieder ausmachen müssen. Im Stuhl neben ihm saß ein Mädchen, eine junge Frau. Sie schien in Gedanken weit weg zu sein, während sie auf den Nägeln ihrer zitternden Fingern kaute. Der dritte, ein dünner Blonder, der etwas jünger war als der andere Mann, lief ohne Pause in kurzen Bahnen auf und ab, wie ein Tiger im Käfig. Manchmal ging er zum gekippten Fenster und atmete durch den Spalt in tiefen Zügen die kühle Nachtluft ein. Von Zeit zu Zeit wechselten die drei untereinander ein paar leise Worte. Einmal hatte der Blonde anscheinend einen Witz gemacht, denn daraufhin hatten alle drei verlegen die Münder zu einem Lächeln verzogen. Aber ihre Augen hatten nicht mitgelächelt. Ansonsten war nur das Knistern des Zeitungspapiers zu hören.
So hatten wir eine halbe Ewigkeit zusammen verbracht, und wir hätten vermutlich auch noch die andere Hälfte der Ewigkeit gemeinsam abgesessen, hätten wir nicht im Korridor die Doppeltür aufschwingen hören, gefolgt vom Murmeln mehrerer Stimmen. Das Mädchen fuhr aus ihrem Stuhl auf. Mehrere Ärzte und Schwestern gingen an der Plexiglasscheibe zwischen Korridor und Wartezimmer vorüber. Meine vier Mitwartenden sahen erwartungsvoll zur Tür. Ein älterer Arzt kam herein und ging auf die Gruppe zu. Der Mann widmete sich wieder seiner Zeitung und bemühte sich sichtlich, nicht hinzuhören. Ich hörte, wie der Arzt leise mit den drei jungen Leuten sprach. Nein, sie wollten nicht mit ihm mitkommen, sie wollten sofort wissen, wie es stand. Der Arzt sprach noch ein wenig leiser. Es war schwer zu verstehen, aber er sprach von inneren Blutungen, die er nicht mehr hatte stoppen können, und davon, dass die Zeit einfach zu knapp gewesen sei. Sie sahen ihn mit großen Augen an. Er sagte, dass es ihm leid täte. Der Dunkelhaarige bedankte sich bei dem Arzt, der daraufhin das Zimmer verließ. Die drei blieben stehen. Das Mädchen bemühte sich, ein Schluchzen zu unterdrücken. Der Dunkelhaarige hatte beim Aufstehen Feuerzeug und Zigarette fallen lassen und machte keine Anstalten, sie wieder aufzuheben. Der Blonde lief wieder zum Fenster und atmete in die Nacht hinaus. Der Mann verkroch sich tiefer in seine Zeitung.
Ich suchte den Blick des Mannes, um ihm zu signalisieren, dass mir die Angelegenheit ebenso unangenehm war wie ihm. Aber er erwiderte meine Blicke nicht. Das Mädchen hatte ihren Kampf mit den Schluchzern verloren. Der dünne Blonde stand regungslos neben dem Fenster und starrte die Wand an. Er gab kein Geräusch von sich, während ein ständiger Tränenstrom aus seinen Augen floss und von seinen Wangen auf den Fußboden tropfte. Der Dunkelhaarige behielt die Beherrschung. Er nahm das Mädchen in den Arm, das nun hemmungslos weinte.
Ich fragte mich, ob sie vielleicht die Freundin des Toten war. Oder seine Frau oder Tochter. Vielleicht war der Dunkelhaarige ihr Bruder. Ich fragte mich, ob er tatsächlich so beherrscht war, wie es schien und ob der Blonde verantwortlich für den Tod des Betrauerten war. Während ich nachdachte, wurde mir bewusst, dass ich die Gruppe die ganze Zeit anstarrte. Verschämt drehte ich meinen Kopf zur Seite und blickte zum Fenster. Draußen war es dunkel, und das einzige, was im Fenster zu sehen war, war der seitenverkehrte Warteraum. Mein Spiegelbild fixierte mich mit seinem leeren Blick.
Ich schloss meine Augen. Von Zeit zu Zeit zeigte mir ein Schluchzen, dass die drei jungen Leute immer noch da waren. Ich dachte nach. Über den Tod. Über den Toten. Ich fragte mich, ob er ein guter Mensch gewesen war. Es hatte den Anschein, denn seine Freunde oder Verwandten waren offensichtlich tief betroffen. Ich überlegte, ob sich der Wert eines Lebens an der Anzahl der Trauernden nach dem Tod festmachen ließe. Es erschien mir logisch, und ich versuchte, eine Art Formel herzustellen, eine Proportionalität zwischen dem Wert eines Menschen und dem prozentualen Anteil seiner Bekannten, die wegen seines Todes weinten. Ich dachte darüber nach, wer wohl nach meinem Tod weinen würde. Erschrocken musste ich feststellen, dass mir niemand einfiel. Ich verwarf den Gedanken einer Proportionalität wieder und widmete mich anderen Gedanken. Ich überlegte, ob es den drei Trauernden helfen würde, wenn sie wüssten, dass in dem Moment, in dem ihr Freund/Verwandter ge-storben war, vielleicht nur ein Stockwerk über uns, ein neuer Mensch geboren worden war, der den Platz des Toten auf der Erde einnehmen würde. Aber ich bezweifelte, dass diese Überlegung den dreien in irgendeiner Weise Trost spenden konnte.
Ich öffnete meine Augen wieder. Die kleine Gruppe war inzwischen gegangen, ohne dass ich etwas bemerkt hatte. Ich war jetzt allein mit dem Mann mit der Zeitung. Er schien immer noch keineswegs interessiert, sich mir mitzuteilen. Die drückende Stille und das grelle Licht wurden mir unerträglich. Als ich es nicht mehr aushielt, sprang ich von meinem Stuhl auf und lief hinaus auf den Korridor. Der Mann mit der Zeitung zeigte nach wie vor keine Reaktion. Mir ging durch den Kopf, dass er seine Zeitung inzwischen schon mindestens viermal gelesen haben musste. Der Korridor war menschenleer und erstrahlte im gleichen unwirklichen Licht wie der Warteraum. Am einen Ende des Ganges befand sich der Fahrstuhl zum Empfangsbereich. Am anderen Ende war der Operationssaal, aus dem die Ärzte gekommen waren. Die Doppeltür stand einen Spalt weit offen. Ich bewegte mich darauf zu. Da niemand in der Nähe war, der es mir hätte verbieten können, betrat ich den OP ohne weiter darüber nachzudenken.
Ich stand in einem kleinen Vorraum mit einem Waschbecken und einigen Ärztekitteln, die an der Wand hingen. Der Raum war dunkel. Nur durch den Türspalt drang ein Lichtstrahl in den Vorraum und durch eine weitere Tür ein Stück weit in den OP hinein. Ich blickte angestrengt ins Dunkel des OP‘s. In der Mitte des Raumes, zwischen Monitoren und Tischen, auf denen wohl üblicherweise das Operationsbesteck lag, stand noch die Bahre. Unter dem darüber ausgebreiteten weißen Tuch erkannte ich die Form des toten Körpers. Ich betrat den OP und näherte mich der Bahre. Ich verharrte eine ganze Weile neben dem zugedeckten Toten. Dann schlug ich das Leichentuch zurück.
Der Tote war ein junger Mann im gleichen Alter wie die drei aus dem Wartezimmer. Er schien nach einem Unfall gestorben zu sein. Er hatte eine verkrustete Platzwunde über dem Auge und seine Nase schien gebrochen zu sein. Auf seiner Brust zeichneten sich deutlich die frischen Narben ab. Ich sah auf das friedliche Gesicht im Halbdunkel herab. Aber da war nichts, was meine Fragen hätte beantworten können. War er ein guter Mensch? War er die Trauer seiner Freunde wert gewesen? Ich wusste es nicht. Vorsichtig legte ich das Leichentuch wieder über meinen Körper und schritt zurück ins Licht.