Warum?
Ich saß in meinem Zimmer, als es an der Tür klingelte. Meine Eltern würden schon aufmachen, dachte ich mir und blieb am Fenster sitzen. Jeder andere wäre bei dem Anblick des Polizeiautos sofort nach unten gelaufen, um die neusten Informationen zu erhalten. Ich aber blieb lieber alleine in der Sicherheit meiner vier Wände. Wenigstens an diesem Ort konnte ich eine Art Zuflucht finden, mich einfach vor der Wirklichkeit verstecken. Ja, verstecken. Ich hatte genug, ich wollte einfach nichts mehr von all dem, was da draußen geschah, wissen. Es kam doch eh nichts Gutes dabei heraus. Und es brachte mir auch meine Schwester nicht zurück.
Es war seltsam leer ohne sie. Keiner blockierte mehr morgens das Bad… Meine Sachen blieben unangetastet… Nichts verschwand mehr aus meinem Schrank… Gut, ich müsste eigentlich froh über diese Veränderung sein. Aber ich war es nicht. All diese negativen Sachen, die mich so sehr genervt hatten, hatten zu meinem Alltag, zu meinem normalen Leben gehört. Und nun, da sie nicht mehr bestanden, merkte ich, wie sehr ich sie doch brauchte. Überhaupt: Warum merkte man es erst im Nachhinein, wenn es zu spät war?
Und ging ich an ihrem Zimmer vorbei, hoffte ich noch immer, sie dort zu erblicken. Aber sie war nun nicht mehr da. Sie würde auch nicht wiederkommen. Ich musste mich damit abfinden.
Als es an meiner Zimmertür klopfte, schrak ich beinahe erschrocken zusammen. Kurz darauf trat ein junger Mann – anscheinen einer der Polizisten - ein. Das Gefühl der Zuflucht zerplatze wie eine einfache Seifenblase. Die Wirklichkeit holte einen doch immer ein, das wurde mir wieder einmal schmerzhaft bewusst.
„Hey.“, sagte er und versuchte ein aufmunterndes Lächeln auf sein Gesicht zu zaubern. „Ich muss dir leider einige Fragen stellen.“
Ich schluckte. Ja gut, ich hatte gewusst, dass es irgendwann so weit sein würde. Aber gleich so schnell? Einen Tag nachdem man Sylvi im Wald gefunden hatte? Ich schauderte bei dem Gedanken. Bilder ihres verstümmelten bleichen Körpers kamen mir in den Sinn. Man hatte sie inmitten des Waldes gefunden, um sie herum unzählige erleuchteter Kerzen. Man hatte ihr ein umgedrehtes Kreuzzeichen in den Bauch geritzt. Sie war voller Blut gewesen. Und dann auch noch diese seltsamen aufgemalten Zeichen überall auf ihrem Körper… Satanisten, hallte es in meinem Kopf wieder! Aber hier? In unserem beinahe idyllischen Ort?! Ich konnte mir das einfach nicht vorstellen? Und was sollte Sylvi mit ihnen zu tun gehabt haben!? Und warum hatten sie sie ermordet! Warum!? Und dann einfach achtlos im Wald liegen gelassen!?
Ich sah den jungen Mann abschätzend an. Er mochte erst Anfang zwanzig sein, noch sehr jung also. Wäre ich in einer anderen Situation gewesen, hätte ich mir wahrscheinlich über sein gutes Aussehen Gedanken gemacht und was jemanden wie ihn dazu bewog überhaupt Polizist zu werden. So aber dachte ich nur an Sylvi.
„Mein Name ist Martin Selter.“, stellte der Polizist sich vor und schloss die Tür leise hinter sich. Seine Augen überflogen jede Kleinigkeit meines Zimmers und blieben schließlich auf mir haften. Es schien, als wollte er alles in sich aufnehmen. Jede kleinste Veränderung meiner Gesichtszüge, einfach alles.
„Es tut mir sehr leid.“, begann er und setzte sich neben mich auf mein Bett. Ich biss mir schmerzhaft auf die Zunge. Zu oft hatte ich diese Worte in den letzten Stunden nun schon gehört.
„Ja, mir auch.“, murmelte ich und sah betrübt zu Boden. „Mir auch.“
Gestern noch wäre ich bei diesen Worten in Tränen ausgebrochen. Heute saß ich einfach nur da. Tränenlos und irgendwie sogar hart geworden. Hart, ja, so kam ich mir vor. Warum saß ich nicht heulend in der Ecke? Warum dachte ich nur an mich? Nur daran, dass ich alleine war. Dass ich Sylvi vermisste?
„Meinst du, du bist bereit dazu mir einige Fragen zu beantworten?“, fragte der Polizist schließlich und setzte sich neben mich. „Es könnte bei der Aufklärung helfen.“
Ich nickte. Die Aufklärung… Wie das klang. Als wenn Sylvi ein Fall wäre! Aber gut, für ihn war sie auch nur ein Fall, der aufgeklärt werden musste. Weiter nichts.
„Wann hast du sie das letzte Mal gesehen?“
„Das war nach der Schule. Vorgestern. Ich wollte nach Hause und sie hat gesagt, sie wollte noch mit Freunden in die Stadt und dann kommen. Aber… Sie ist nicht bekommen.“
„Hattet ihr ein gutes Verhältnis?“
Ich stutzte. Was sollte diese Frage!?
„Ich muss diese Fragen stellen. Es tut mir leid.“, erklärte er.
„Ich weiß nicht, wer Sylvi das hätte antun können…“, begann ich schließlich. Ich wollte ihn so schnell wie möglich wieder aus meinem Zimmer haben. Ich wollte die Sicherheit, die Geborgenheit meiner vier Wände zurück! „Ich weiß nicht, warum man sie so gefunden hat. Und ich weiß auch nichts von irgendwelchen Satanisten oder sonstigen Leuten. Ich weiß eigentlich gar nichts.“ Ich wusste nichts, es war grausam in einer solchen Ungewissheit zu leben!
„Wir werden die Antworten auf all diese Fragen bekommen. Bald. Das verspreche ich.“ Immer noch musterte er mich eindringlich. Diese Augen… Ein kalter Schauer lief mir den Rücken hinunter. Es war, als könnte er tief in mich hineinblicken – auch wenn es Unsinn war.
Etwas später spazierte ich langsam durch eben diesen Wald, in dem man meine Schwester gefunden hatte. Ich schluckte. Die seltsamsten Gedanken kamen mir in den Sinn. Blöde Kriminalfilme… Die Nachrichten… Und gerade das sollte Sylvi zugestoßen sein!? Ich konnte es noch immer nicht glauben. Ich meine, da saß man vor dem Fernseher und hörte von einem Mord… Und am nächsten Tag konnte einem selber genau das gleiche passieren…
So langsam begann es zu dämmern. Doch ich wollte noch nicht zurück. Was sollte ich denn dort auch machen? Es war wahrlich kein schönes Gefühl zu sehen, wie sehr die eigenen Eltern litten…
Leise knackten einige Äste unter meinen Schritten, als ich den Waldweg verließ und tiefer in den Wald eindrang. Ich wusste nicht, wohin ich ging. Ich ging einfach, ohne darüber nachzudenken, bis es schließlich fast vollkommen dunkel geworden war.
Und plötzlich war ich hellwach. Irgendwo hier musste Sylvi gefunden worden sein. Mein Herz pochte in immer wilderen Sprüngen. Warum war ich hier? Und wieder war da dieses „warum“.
Ein Knacken! Licht! Ich versteckte mich sofort hinter einem Baum und blickte in die Richtung, aus der das Licht kam. Ein Feuer? Ja. Und Gestalten. Schreie. War das etwa ein Baby? Ich versuchte genaueres zu erkennen. Ich sah dunkle Gestalten, die um ein Lagerfeuer herum standen und ein Baby in die Höhe hielten.
Auf einmal hatte ich Angst. Ich rannte, wie ich noch nie gerannt war und blickte mich immer wieder nervös um. Die Polizei! Ich musste die Polizei rufen!
„Wer ist da?“, hörte ich eine Stimme. Dann schnelle Schritte.