Was am Ende bleibt...
Von kalten Händen werde ich hinab gezogen. Ich fühle einen Fall.
Von warmen Händen werde ich hinaufgetragen. Ich fühle einen Wind.
Ich höre Stimmen. Sie klingen aufgeregt.
Ein eisiger Wind weht mir über die Haut. Ich fühle mich einsam.
Ein warmer Hauch streichelt meine Haut. Ich fühle mich erfüllt.
Ich höre Geräusche. Sie klingen leise.
Die Welt um mich herum ist anders als sonst.
Sie ist unter einem schwarzen Schleier begraben.
Sie ist von hellen Sonnenstrahlen durchflutet.
Alles scheint offen, aber eines ist gewiss. Ich bin tot...bald.
Am Himmel kreisen aufgeregte Krähen, die sich laut krächzend über die Ruhestörung beschweren. Ihre Augen erblicken am Boden ein einziges Gewirr aus Menschen und Autos und nirgendwo in diesem Chaos scheint ein Funken von Ordnung zu herrschen. Aber in den Augen der Rettungskräfte läuft alles nach einem geordneten Plan. Es verläuft alles genauso, wie es in unzähligen Übungen geprobt wurde.
Ein Auto ist von der Fahrbahn abgekommen und hat sich förmlich um einen Baum gewickelt. In diesem Auto sitzt ein Mann, dessen Augen glasig ins Nichts blicken. Starr und leer.
Die Wolken beginnen zu ziehen und ich erlebe...lebe.
Die vielen Halme der grünen Wiese wiegen sich sanft in einem lauen Sommerwind. Mitten in diesem Meer aus pflanzlichen Leben sitzt ein Kind, dessen kleine Hand über die Spitzen des Grases streichelt. Es lacht und quiekt vergnügt über die vielen neuen Eindrücke, die es an diesem Tag wieder entdeckt hat.
Eine Schneeflocke legt sich langsam zu Boden und schmilzt wie in Zeitlupe dahin, während sich die ersten warmen Sonnenstrahlen des Jahres durch die weiße Wolkendecke kämpfen. Unter diesem weißen Himmel steht ein Mädchen zusammen mit einem Jungen ihren Alters. Beide sehen sich tief in die Augen und ihre Körperhaltung wirkt verschüchtert und aufgeregt. Ihre Hände zittern und ihre Herzen schlagen so laut, dass es in ihren Köpfen einem Trommelschlag gleicht. Dann kann sich Mädchen nicht mehr halten und alle Ängste verwandeln sich in Mut. Sie geht den letzten Schritt auf den Jungen zu und küsst ihn erst zärtlich, dann heftiger, bis sich beide schließlich ineinander verlieren.
Ein Blütenregen geht unter lautem Gelächter, wilden Rufen und Glückwünschen auf das Brautpaar nieder. In beiden Gesichtern liegt eine ungetrübte Zukunft. Eine Welt voller Hoffnung.
Ein kräftiger Windstoß weht unzählige Blätter aus den ehemals grünen Baumkronen. Unterdessen blickt ein Mann an einen Türrahmen gelehnt an den Geschehnissen die vor ihm passieren vorbei.
Immer noch gehen die brauen Blätter zu Boden, als der Mann seine Frau und ihren Liebhaber im eigenen Ehebett erschlägt. Dann fährt er einfach weg. Er versucht in seinem Auto zu fliehen.
Mittlerweile sind die Krähen wieder zur Ruhe gekommen und picken am angrenzenden Bach nach Futter. Unter sprühenden Funken versuchen die Rettungskräfte den Mann aus dem zusammengestauchten Auto zu holen. Einige schütteln schon besorgt den Kopf, als ein Zittern den Körper des Opfers durchläuft.
War ich gut? War ich schlecht? Wer entscheidet wie ich mein Leben gelebt habe?
Habe ich es bereits entschieden? Wird es erst jetzt entschieden?
Der Himmel ist ein Ort des Friedens und der Ruhe. Ich erlange dort die völlige Freiheit und laufe den ganzen Tag auf saftig grünen Wiesen, wie ein Kind, wie ich als Kind, einfach nur hin und her.
Ich glaube an den Himmel. Ich glaube daran, dass ich mein Leben gut gelebt habe.
Die Hölle ist ein Ort der absoluten Pein. Ich werde gezwungen den ganzen Tag den Anblick meiner Frau zu ertragen. Jeden Tag leide ich unter physischen und psychischen Qualen.
Ich glaube an die Hölle. Ich glaube daran, dass ich mein Anrecht auf den Himmel mit einer einzelnen Tat verwirkt habe.
Ist es der Glauben, der einen rettet? Ich weiß, dass die Hölle oder der Himmel so existieren, wie ich sie mir vorstelle. Und ich glaube an den Himmel und die Hölle, aber wird mich der Glauben retten? Wenn meine Vorstellungen der Wahrheit entsprechen, wenn dies alles so eintrifft; was passiert wenn ich nicht glaube? Kann ich an mich selbst glauben und das geschehene ungeschehen machen? Nein! Ich werde in die Hölle kommen. Ich darf nicht glauben. Ich glaube nicht.
Ein Sanitäter streckt seine Hand in das innere des Autos, um den Puls des Mannes zu fühlen. Er ist schwach und nur noch ein Hauch von Leben ist in seinem Körper zu spüren, bevor das Herz aufhört zu schlagen und den Mann in das Leben danach entlässt.
Ich habe meine Wahl getroffen. Ich glaube nicht. Ich spüre keine kalten Hände und auch keinen warmen Wind. Meine Seele hat ihre Existenz verloren. Ich spüre nichts...Nichts.