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Was du heute kannst besorgen...
Was du heute kannst besorgen...
Es ist ein verflucht kalter Tag an dem sich Hams endlich seinen Leben stellen will. Normalerweise muss er dafür immer bis zum Frühling warten, da ihn seine Antriebslosigkeit, die der Winter in ihm verursacht, leicht depressiv macht und er sich damit automatisch in einem Kreislauf der Lethargie befindet, doch heute sollte alles anders sein.
Er hatte sich sogar eine To-Do-Liste gemacht, die ich jetzt Punkt für Punkt abarbeiten wollte. Eigentlich hält Hans nichts von solchem Lebenshilfen, die zu sehr eine Assoziation zu Wochenendseminaren zum Thema Erfolg wecken. Überhaupt fiel es ihm schwer sich selbst wieder zu erkennen. Schließlich muss er sonst um 10Uhr lang und breit überzeugen, dass es sich lohnt überhaupt jetzt schon aufzustehen. So früh schon produktiv zu sein, erscheint ihm sonst als unmöglich.
Sein erster Punkt auf der Liste ist die Anschaffung eines Rollos für sein Zimmerfenster. Auf dem Weg in die Fensterabteilung im Baumarkt
steift sein interssierter Blick durch die Regale auf der suche nach weiteren sinnvollen Dingen. In seiner Altbau-WG gibt es viele Ecken, die einer Auffrischung bedürfen, doch bevor er etwas finden kann, ist er schon
bei den Rollos angekommen.
Die Auswahl an passenden Rolles ist gering und da er sowieso ein möglichst schlichtes Modell sucht, fällt die Auswahl leicht. Ihn hat das eigentlich nie gestört, dass er keins hatte und das die Reste des Rollos vom Vormieter völlig nutzlos und wenig ansehnlich über dem Fenster hingen, aber er hat eingesehen, dass dies den ersten Eindruck für Besucher unnötigerweise verschlechtert.
"17,99" sagte die hübsche Kassiererin. Hans versuchte in dem Blick der Kassierin zu lesen, ob ihr dieses Rollo gefallen würde, wenn sie nach einer durchzechten Nacht bei ihm im Zimmer aufwachen würde, doch alles was er
erkennen konnte, war, dass sie offenbar nicht mit so einem Gefühl wie er aus dem Bett gestiegen ist. Kurz darauf muss er innerlich über sich lachen. Als wenn man eine Baumarktkassierin mit einem Rollo beeindrucken könnte, denkt er sich, noch dazu mit dem schlichtesten, was zu finden war.
Fast rutscht ihm eine Entschuldigung raus, er sagt dann aber doch nur "Danke" und wünscht der Kassierin noch einen schönen Tag, in der Hoffnung, dass dadurch zumindest ein Funken seiner guten Stimmung auf die Kassierin überspringen würde.
Die Zigarette auf dem Weg zur Bahn schmeckt gut, nach Triumpf, sein erster Erfolg in seinem neuen alten Leben. Er lebte jetzt seit bereits über zwei Jahren in diesem Zimmer und nie hatte seine Motivation ausgereicht, ein Rollo
zu besorgen. Die Bahn erreicht er allerdings nur knapp, er muss die Zigarette wegwerfen und rennen, um sie nicht zu verpassen. Als er keuchend in der Bahn stand, überlegt er, ob er gestern auch bereit gewesen wäre zu rennen, um eine Bahn zu erwischen. Er entschließt sich dagegen, obwohl er sich eigentlich darüber überhaupt nicht sicher ist, es kam schon vor, dass er früher auch schon gerannt ist, um eine Bahn noch zu erwischen, aber so konnte er sich noch besser fühlen. Organisierter Selbstbetrug, dachte er mit einem Grinsen auf dem Lippen, der Weg zum Glück.
Glückerlichweise passte das neue Rolle zu den Resten des Vormieterrollos, sodass der Einbau nur mit Schraubenziehr und innerhalb von 5 Minuten vonstatten gehen konnte. Hans ist fast von dem wenigen Aufwand den er erbringen muss enttäuscht und überlegt, als der den Punkt auf seiner To-Do-
Liste abhaken will, ob er das überhaupt unter "Einbau eines Rolles" verbuchen kann. Er entscheidet sich für "Ja", schließlich wäre sonst schon beim ersten Punkt die Sinnhaftigkeit der Liste in Frage gestellt, das könnte
seine Motivation mindern und das galt es um jeden Preis zu verhindern.
Der nächste Punkt wartet. Hans beschließt sich nicht mehr in solchen Gedankengängen verlieren zu wollen. Beim Blick auf den nächsten Punkt freut sich Hans, da der nächste Punkt schnell gehen würde.
Er hatte beim erstellen der Liste absichtlich relativ zeitaufwändige Punkte und Punkte, die innerhalb von wenigen Minuten abgearbeitet werden
konnten, abgewechselt und findet das jetzt im nachhinein ziemlich genial. Motivation haben ist die eine Sache, aber die Motivation nicht zu verlieren, dass ist die eigentliche Herausforderung, dachte Hans und fuchtelte mit einem
imaginären Zeigefinger in der Luft rum. "Arzttermin machen" ist der nächste Punkt. Ein Routinecheck, besonders wollte er Gewissheit, dass seine Blutwerte in Ordnung sind.
Die Telefonnummer seines Arztes, den er sonst eigentlich nur in der Prüfungszeit am Ende des Semesters aufsucht, um sich
für Klausuren, für die er nicht gelernt hat, krank schreiben zu lassen, ist schnell rausgefunden und die Sprechstundenhilfe ist nicht an Smalltalk interessiert, sodass der Termin schnell fest steht. Bleibt nur zu hoffen,
dass der diesen Termin in zwei Wochen nicht verfluchen würde, wenn er um 8 aufstehen muss, denn trotz seiner Euphorie und seiner kleinen Psychotricks, die er für die Ausfaltung seiner Motivation verantwortlich macht, zweifelt er, dass er das zwei Wochen lang durchhalten kann. So schnell konnte der Optimismus seinen über Jahre gehegten Pessimismus
nicht verdrängen. Beim Haken setzten ließ er sich allerdings mehr Zeit, perfekt sollte er sein. Das gelingt ihm auch fast, mit den Proportionen
ist Hans zufrieden, nur stört ihn, dass er sich vom ersten Haken stark unterscheidet. Hans zieht sich wieder Schuhe an und stopft sich Bücher in den Rucksack. Diese Bücher waren von der Bücherei und sollten nun endlich zurückgegeben werden. Bei seiner Bücherei konnte man im Internet Bücherausleihen verlängern. Diese Funktion nutzte Hans immer gerne, sodass er die Bücher auch nachdem er sie durchgelesen hatte noch sehr lange bei sich im Zimmer lagen. Jedes mal, wenn er sie sah, führte es ihm vor Augen wie faul er war. Selbst solche Kleinigkeiten machten ihm Probleme und nagten an seinem Selbstbewusstsein. Nichts ist schlimmer, als Dinge, die einem immer wieder die eigenen schlechten Seiten vor Augen führen.
In der Bücherei angekommen schaut er sich erstmal um. Vielleicht ein neues Buch ausleihen? Heute Abend ein schönes Buch zu lesen? Wesentlich besser als sich den Schrott im Fernsehen anzuschauen, wie er es sonst gerne tat.
Am Besten keine Unterhaltungsliteratur, sondern irgendwas, was ihn weiterbildet, denkt er. Plötzlich hat er "Sorge dich nicht, Lebe" in der Hand. "So ein Scheiß", flüstert er und blättert drin rum. Doch bei den Passagen die er liest, stellt er immer mehr fest, dass er der fleischgewordene Motivationsroman ist. Er fühlt sich in dieser Rolle überhaupt nicht wohl, hat er diese Bücher doch immer verachtet. Er stellt sich die Frage, wie aus ihm plötzlich so ein Mensch geworden ist. Einer dieser Menschen, die unsympathisch und hektisch, aber erfolgreich sind. Eins steht fest, so wollte Hans auf jeden Fall nie werden, denn solche Menschen können unmöglich das Leben genießen. "Ihr blöde Idioten" will er allen optimierungsgeilen Anzugträgern zurufen. Es muss etwas mit dieser Nachricht zu tun haben, die er vor dem Schlafen gehen
gelesen hatte. "Tod nach Brust-OP: Leiche von Erotikdarstellerin Cora wird obduziert", ist aber die einzige Nachricht, die ihm vom Vortag spontan einfällt, winkt dann aber sofort wieder gedanklich ab: "Das kann es nun wirklich nicht sein." Er verlässt ohne Bücher die Bücherei und wirft seine To-Do-Liste in den ersten Mülleimer, den er findet. Sein altes Leben gefällt ihm besser.