Was geblieben ist
Meine Mutter ist krank.
Wenn ich mir das nur lange genug einrede, dann würde ich es irgendwann glauben und wenn ich es erst glaube, dann würde es den Schmerz und die Erinnerung erträglicher machen.
Das sage ich mir seit vier Jahren.
Der Schmerz ist geblieben, und die Erinnerungen auch. Nicht mehr so allgegenwärtig wie am Anfang, aber doch in regelmäßigen Abständen präsent.
Mit ihnen kommen die Zweifel.
Wieviel ist geblieben, von mir, von dem was ich war bevor meine Mutter zum ersten Schlag ausholte.
Wenn ich das Leben spüre, das in mir heranwächst, die kräftigen Tritte meiner gesunden Tochter meine Bauchdecke wölben, dann sind die Zweifel am größten.
Wieviel von mir ist geblieben?
Ist es genug um diesem, meinem Kind eine gute Mutter zu sein?
Ist noch genug von mir selbst da, oder bin ich schon zu sehr meine Mutter?
Meine Mutter ist wirklich krank, daran besteht kein Zweifel. Ich weiß nicht wieso oder was passiert ist. Was ich weiß ist, dass meine Mutter eines Morgens als ich siebzehn war aus der Haustür ging und als sie wieder kam, war sie nicht mehr meine Mutter. Nach außen war sie noch immer dieselbe Person aber in ihrem Inneren war nichts von ihr geblieben und es kam auch nichts davon je wieder zurück.
Wieso?
Das hab ich mich oft gefragt.
Ich bekam nie eine Antwort. Ich stellte mir oft diese Frage, aber noch viel öfter habe ich sie ihr gestellt. Ich stellte sie ihr, als sie vor meinen Augen mein Handy bis zur Unkenntlichkeit und vor allem Unrettbarkeit auseinandernahm, weil sie dort Nummern oder Nachrichten vermutete, die nicht exestierten, von Leuten, die ich nicht kannte.
Ich stellte ihr diese Frage auch während eines Nervenzusammenbruchs, den sie mit wüsten Beschimpfungen und haltlosen Anschuldigungen verursacht hatte.
Der Zusammenbruch ging vorbei, die Erinnerung daran bleibt.
Ich stellte immer nur diese eine Frage, sie hingegen stellte viele, doch so wie sie mir nie eine Antwort gab, hat sie auch von mir nie eine erhalten. Sie wollte nicht antworten, ich konnte es nicht, weil ich die Antworten nicht wusste, ja nicht einmal die Fragen verstand.
Ob ich bei dem Mann gewesen wäre mit dem sie meinen Vater betrogen hatte?
Ich hatte diesen Mann nur einmal gesehen, da war er bei uns zu Besuch gerade als mein Vater ausgezogen war. Ich kam nach Hause, mein Vater war weg und dafür stand dieser Mann da. Ein Mann der selbst Frau und zwei kleine Kinder hatte. Ein Mann der meine Mutter nur zum vögeln brauchte, weil seine eigene Frau ihn nicht mehr ranließ, der meiner Mutter aber das blaue vom Himmel versprach.
War ich bei ihm gewesen?
Nein!
Mehr konnte ich nicht antworten.
Ob ich irgendwelche Schwierigkeiten hätte?
Schwierigkeiten welcher Art, mit wem, wieso?
Gegenfragen von mir als Antwort. Ich verstand ihre Frage nicht, sie wollte meine Antwort nicht verstehen.
Ob ich als Prostituierte arbeiten würde?
Darauf fiel mir weder eine Antwort, noch eine Gegenfrage ein. Sie fand scheinbar einen anderen Weg an die gewünschten Antworten zu kommen, denn aus ihren Fragen wurden Feststellungen.
Ich war bei diesem Mann den ich gar nicht kannte! Ich hatte Schwierigkeiten und ich war eine Prostituierte, eine Hure, eine Schlampe! Ich war dies alles und noch viel mehr, jeden Tag aufs Neue. Ich war es solange, dass ich schließlich aufgab mich dagegen zur Wehr zu setzen. Ich fragte nicht mehr wieso. Die Frage stellte ich nicht wenn ich nach Hause kam und mein Zimmer durchwühlt vorfand.
Als sie extra ein neues Telefon kaufte um meine Gespräche mit Freunden mitschneiden zu können, fragte ich nicht wieso.
Wenn sie mir verbot mit Freunden wegzugehen, blieb dieses Wort ebenfalls unausgesprochen.
Als sie schließlich das erste Mal zuschlug, fragte ich mich überhaupt nichts mehr, weder wieso noch sonst etwas. Ich begann stattdessen mich zu erinnern. Ich erinnerte mich an ihre Worte, als sie das erste Mal die blutigen Kratzer auf meinen Unterarmen sah.
Ich wäre nichts besonderes, auch wenn ich mir die Arme aufschneiden würde.
Die Erinnerung an diese Worte ist geblieben, so wie die Narben des Messers.
Ich versuchte mich an eine Mutter zu erinnern, die mich in den Arm nahm wenn ich traurig war oder die mir sagte, dass sie mich liebte, dass sie stolz auf mich war.
Es gab keine Erinnerung dieser Art.
Ich erinnerte mich an Worte die sie einmal unter Tränen gesagt hatte. Das Schlimmste, was man ihr unterstellen könnte wäre, dass sie ihre Kinder schlägt. Die Erinnerung an diese Worte kam immer dann, wenn ich versuchte die Schmerzen zu ignorieren, die ihre Schläge verursachten. Sie hatte scheinbar die Worte vergessen, derer ich mich plötzlich so lebhaft erinnerte, aber sie hatte so unendlich viel in ihrem Leben vergessen. Da kam es auf diese paar Worte nicht mehr an.
Vor die Wahl gestellt, sie zu verlassen oder endgültig an ihr zu zerbrechen, entschied ich mich zu gehen. Da war ich noch nicht einmal ganz achtzehn.
Wieviel von mir war damals noch geblieben als ich von einem Tag auf den anderen auszog?
Ich war längst nicht mehr vollständig Ich, aber wieviel Ich war ich noch?
Es wurde leichter sie zu ertragen. Mit einer Art Gleichgültigkeit nahm ich ihre Anrufe hin, in denen sie mir sagte, dass sie mich hasste und nichts mehr mit mir zu tun haben wollte, weil ich wusste, sie würde eine, höchstens zwei Wochen später wieder vor der Tür stehen. Sie würde kommen und mir wie selbstverständlich von den Stimmen erzählen, die sie hörte, von den Nachbarn die ihr Böses wollten und von der eigenen Familie die sie belogen, betrogen und verraten hätte. Menschen, die wahrscheinlich genauso wie ich aufgehört hatten zu fragen, wieso.
Sie würde wieder gehen und sie würde wieder anrufen und mich hassen, wieder kommen, wieder gehen, wieder kommen und jedes mal würde das Kommen schlimmer sein als das Gehen.
Sie kam und ich ging schließlich, wieder einmal.
Diesmal weiter fort.
Ich zog erneut weg, in eine andere Stadt und, wie ich heute weiß in ein anderes Leben.
Raus aus ihrem, rein in mein Leben.
Sie versucht wieder vor der Tür zu stehen, aber dieses mal wird sie verschlossen bleiben.
Ich frage mich wieviel von mir geblieben ist. Wieviel hat meine Mutter mir gelassen?
Wenn ich das Zimmer betrete das für meine Tochter eingerichtet wird, wenn ich unter meiner Bauchdecke die Wölbung ihres kleinen Köpfchens fühlen kann oder wenn ich den Vater dieses, meines Kindes betrachte wie er beim Essen immer Krümel in seinem Bart verteilt, wenn ich diesen Mann betrachte, der mich liebt und mich so nimmt wie ich bin, der mich in den Arm nimmt, wenn ich traurig bin und der mir sagt, dass er stolz auf mich ist, dann weiß ich was von mir geblieben ist.
Die Fähigkeit zu lieben!
Nicht nur mich selbst zu lieben, mit all meinem Schmerz, meinen Erinnerungen und meinen Narben, sondern auch das Kind in meinem Bauch und den Vater dieses Kindes.
Vielleicht ist das nicht viel von dem, was ich einmal war, aber das ist geblieben.
Ich bin noch da und ich bleibe.