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Was ist denn schon normal
Was ist denn schon normal
Elfriede, eine kleine, rundliche Frau Ende fünfzig, öffnete seufzend eine Rolle mit Kleingeld für die Registerkasse. Wartend, ihre Speisetabletts mit Geschirr und Servietten vor sich herschiebend, standen die Menschen an der Theke. Elfriede schaute auf die Uhr, noch eine Stunde bis Feierabend. Sie konnte es kaum erwarten, die Kasse zu schließen und den Kittel abzulegen, um nach Hause zu gehen.
Elfriede erinnerte sich mit Wehmut an die Zeit, als sie noch beim "Piccolino", einem kleinen italienischen Lokal, kellnerte. Hier herrschte ein heiteres Arbeitsklima. Die Kundschaft war auch sehr erbaulich; größtenteils bestand sie aus Angestellten der nahe gelegenen Genossenschaftsbank. Elfriede gefiel es, die Herren in ihren feinen, dunklen Anzügen und die Damen in ihren adretten Kostümen, zu bedienen. Ansonsten war ihr Arbeitstag recht gemütlich. Das Lokal lag etwas abseits und war an den Wochenenden schwach besucht. Leider gingen die Umsätze immer weiter zurück und der Wirt musste letztendlich sein Ristorante schließen. Elfriede war gezwungen, sich nach einem neuen Job umzusehen. In ihrem Alter war es nicht mehr allzu leicht, eine gute Arbeit im Gaststättengewerbe zu bekommen. Nach mehreren Absagen, ging sie schließlich auf das Angebot ihrer Schwester ein, sich um einen Kassiererjob in der Kantine der Psychosozialen Klinik zu bewerben. Elfriede war zuerst strikt dagegen, sie wollte keinesfalls in einer "Irrenanstalt" arbeiten. Jedoch nach der fünften Absage kam ihr der bange Gedanke, dass sie noch einige Zeit arbeiten musste, um später einigermaßen mit ihrer Rente über die Runden zu kommen.
"Elfriede", sagte sie zu sich. "Es ist nur eine kurze Zeit, die du hier verbringen musst. Bei der nächsten Jobzusage bist du weg." Inzwischen war sie schon über einem Jahr in dieser Kantine beschäftigt. Sie hasste es Menschen zu bedienen, die sie im "Piccolino" normalerweise nach Absprache mit ihrem Chef weggeschickt hätte. Sie war froh und erleichtert, wenn sich mal einige Pfleger oder sogar ein Stationsarzt, unter den Wartenden befanden. Dann war Elfriede immer besonders freundlich. Auch verirrten sich ab und zu einige Gäste von außerhalb in die Kantine. Der große Park mit den alten Bäumen und den nett angelegten Blumenbeeten lockte die Spaziergänger an und diese Cafeteria hatte den Anschein, ein öffentliches Café zu sein, zumindest sah der Terassenbereich mit den großen Blumenkübeln recht einladend aus.
Elfriede waren nicht alle Insassen gleich unsymphatisch, sie machte da schon einige Unterschiede. Die Leute mit Depressionen, die fand sie zum Beispiel angenehm. Die waren halt sehr traurig, aber wenigstens noch "normal". Auch die Leute aus der Abteilung Psychotherapie, die unter anderem an Panikattacken, Burn-Out- oder Borderline-Symptomen litten, waren ihr genehm. Nur störten ihr bei den letzteren die vielen kleinen Schnittwunden an den Armen.
Elfriede warf einen Blick auf eine junge Frau, die sich hinten an der Warteschlange anstellte. Diese Person mit blassem Gesicht und langen, strähnigen Haaren, war ihr äußerst unsymphatisch.
"Aha", dachte sie. "Wieder mal so ein Neuzugang aus der 'Inneren', die versuchsweise mal in die Kantine darf. Vielleicht ist sie eine Schizo", dachte sie mit einem Anflug von Gänsehaut.
Elfriede stellte sich kerzengerade hin, Busen raus, Nase hoch und rief im wechselndem Tonfall: "Hallo, hallo."
Die Frau schien zu reagieren, schaute aber mit abwesendem Blick auf die Anrichte mit den Süßspeisen.
"Hallo, ich spreche mit Ihnen", wiederholte sie in einem Ton, den eine Kindergärtnerin bei einem begriffsstutzigen Kind anwendet: "Was wollen wir denn essen?"
"Ich ... möchte", sagte die Frau mit schleppender Stimme und schaute auf die Anrichte.
Elfriede trommelte nervös mit den Fingern auf das Holz. Zum Glück kam gerade ihre Thekenhilfe, die Nigerianerin Samira, schwer beladen mit einem Transportkorb frischgespülter Gläser, hinzu. Dieses Mädchen schien Nerven wie Stahlseile zu haben. Mochte der Andrang in der Kantine noch so groß sein, nie legte sie ihre ruhige, etwas träge Art ab. Trotzdem leistete sie gute Arbeit und das war für Elfriede wichtig, denn in letzter Zeit verschusselte sie öfters einige Dinge.
Samira schaute die junge Frau mit ihren freundlichen, dunklen Augen an und nickte ihr aufmuntert zu.
"Ich möchte ...", mit unsicherer Handbewegung zeigte sie auf die Aufschrift "Szgediner Gulasch". "Dies hier."
"Sind Sie Gast oder Patientin?", fragte Elfriede harsch. Sie spürte ein Kribbeln unter den Haarwurzeln und zwischen ihren Augen bildete sich eine Zornesfalte.
Das Gesicht der jungen Frau wurde erst blass, dann rot vor Zorn.
"Weder das eine noch das andere", sagte sie überraschend laut und deutlich.
"Da müssen wir aufpassen", raunte Elfriede Samira zu. "Die ist eine extrem aggressive Patientin."
Samira schüttelte ihren Lockenkopf: "Nein, dies hier ist keine Patientin, das ist unsere neue Praktikantin aus der "Ergo". Sie litt nach einem Unfall unter einem schweren Schädel-Hirntrauma. Ihr geht es nun wieder etwas besser und sie möchte gerne den Beruf der Ergotherapeutin erlernen, weil ihr diese Arbeit damals in der Reha so beeindruckt hatte."
Elfriede war stumm und Samira fragte freundlich: "Ja, diesen Gulasch - wollen Sie noch einen Schokopudding zum Nachtisch?"
Der nächste in der Warteschlange war der Stationsleiter der Abteilung "Psychotherapie". Elfriede bemühte sich um bessere Laune. Dies war ein rechtschaffener Mann und er verdiente es nicht, mit so einem missmutigen Gesicht bedient zu werden.
Eine schlanke Frau mit hochgesteckten, blonden Locken stellte sich auf die Zehenspitzen und spähte über seine Schulter auf das Schild mit dem Tagesgericht. Beide tuschelten dann etwas, 'über die astronomischen Preise für diesen Fraß' und lachten.
"Das ist doch die Chefsekretärin?", überlegte Elfriede. "Irgendetwas war doch da?" Ihr Kopf fühlte sich leer an und sie hatte Mühe mit der Herausgabe des Restgeldes. Sie schaute zu der lachenden, jungen Frau.
"Vielleicht hat mich auch nur diese neue Frisur an ihr irritiert", dachte Elfriede. "Sie sieht so fremd und um einiges jünger aus, ich hätte sie beinahe nicht erkannt."
Elfriede war erleichtert, als ihr Arbeitstag vorbei war und sie sich auf den Heimweg begeben konnte. "Habe ich auch nichts vergessen und alles abgeschlossen?" überlegte sie und ging in Gedanken noch mal alle Arbeitsschritte nach: Geld aus der Kasse nehmen, Kasse abschließen, alle Lichter ausschalten, Kantinentür und Personalausgang abschließen.
In der Hoffnung, alles richtig erledigt zu haben, lief sie mit zügigen Schritten zur Straßenbahn. Aber dann sah sie wieder die blonde Sekretärin vor sich und erinnerte sich, was sich ereignet hatte: Sie begab sich nach einem kurzen Telefonat ins Sekretariat und diese Frau übergab ihr einen großen, weißen Briefumschlag. Was sie daraufhin besprochen hatten, fiel ihr nicht mehr ein. Auch konnte sie sich nicht erinnern, ob sie den Brief in ihre Handtasche steckte oder im Fach unter der Registerkasse liegen ließ. Elfriedes Puls beschleunigte sich. Sie durfte niemals etwas in der Kantine liegen lassen, denn am nächsten Tag, war es weg - gestohlen. Erst kürzlich hatte Elfriede ihren Schlüsselbund vermisst. Vor Aufregung hätte sie beinahe eine Herzattacke erlitten. Die Erleichterung war groß, als der Pförtner anrief und ihr mitteilte, dass der Schlüssel in der Damentoilette gefunden wurde. Auf dem Deckel eines Kosmetikeimers hätte er gelegen. Voller Empörung überlegte sie, wer sich diesen üblen Scherz mit ihr erlaubt hatte: War es einer dieser Irren, oder war es Samira, die ihr etwas heimzahlen wollte? Man konnte Heutzutage Niemandem mehr trauen!
Sie öffnete den Bügelverschluss ihrer Tasche und stellte erleichtert fest: "Der Brief ist da."
"Endlich frei!", dachte sie, als sie an der Straßenbahnhaltestelle ankam und sich am Kiosk eine Zeitung kaufte. Ihr Nachhauseweg betrug eine dreiviertel Stunde Fahrtzeit, die sie am liebsten mit Lesen verbrachte.
Elfriede schlug den Anzeigenteil auf, in der Hoffnung ein gutes Jobangebot zu finden. Aber alles was sie sah, waren Angebote zur Katalogzustellung, eine ältere Dame suchte eine Putzhilfe, und da waren noch einige dubiöse Jobs, bei denen man auf Anhieb 1000 Euro verdienen konnte. Schluss, aus, das war Alles, was der Anzeigenmarkt zu bieten hatte. Weiter unten kamen dann die privaten Annoncen. Elfriede las mit gerunzelter Stirn: "Wellensittich entflogen - sehr sprachbegabt - Lieblingswörter: Mein Hase und Schatzimausi".
"Bei uns ist noch ein Bett auf der "Geschlossenen" frei", dachte sie, während sie die Zeitung zerknüllte.
Elfriede steckte den Schlüssel in das rostige Schloss ihres Briefkastens.
Einige bunte Umschläge flatterten ihr entgegen, die sich aber letztendlich als Reklamepost entpuppten. Elfriede war enttäuscht, denn insgeheim hatte sie sich ein Antwortschreiben von dem großen Kurhotel am Tegernsee erhofft. "Der Brief aus Bad Wiessee müsste doch schon längst bei mir angekommen sein", murmelte sie. "Es wird doch hoffentlich niemand hier im Hause auf die Idee kommen, mein Kuvert aus dem Briefschlitz zu ziehen?"
Aber ihr blieb ja noch der große Briefumschlag in ihrer Handtasche.
"Vielleicht ist es eine Gehalterhöhung", dachte Elfriede. "Natürlich steht mir eine Gehalterhöhung zu! Die hübsche Samira kann zwar perfekt Deutsch und gibt sich viel Mühe. Aber in der Zeit, in der sie mit den Pflegern und Ärzten flirtet, muss ich doppelte Arbeit leisten."
Der Hausmeister fand dann Elfriede. Lang ausgestreckt lag sie im Hausflur, ihr feistes Gesicht war totenblass und eingefallen. Neben ihr lag ein Kopfbogen auf dem stand:"... wegen dem Verdacht auf Demenz kann Ihre Arbeit als Servicekraft bis auf weiteres nicht mehr ausgeführt werden. In Ihrem eigenen Interesse bitten wir Sie, den Testbogen zur Früherkennung von 'Morbus Alzheimer' auszufüllen und bei der Geschäftsleitung abzugeben."