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Was man ohne Hände sehen kann...

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29.04.2006
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Was man ohne Hände sehen kann...

„Wenn du die Augen schließt und kräftig mit deinen Fingern gegen die Augenlider drückst, siehst du nicht einfach nur das ewig Schwarze. Nach einiger Zeit fangen die Nervenbahnen hinter deinen Augen an zu reagieren, sie flattern und flackern, bis du verschiedene Schemen siehst, Ornamente, Muster – wie alte, entflammte Kupferstiche.“
Marius geriet fast außer sich vor Begeisterung.
„Ich kann mir nicht gegen meine Augenlider drücken, Marius. Ich habe keine Hände mehr.“
„Dann stelle dir wenigstens vor, Isa, wie es wäre. Stell dir vor, was du alles sehen könntest, wenn du noch Hände hättest.“

Marius zündete ihr eine Zigarette an, stand auf und steuerte behäbig in Richtung Badezimmer. Selbst bei geöffneten Augen huschten Hundertschaften kleiner Sternchen über das Panorama, das er wahrnahm. Eine natürliche Reaktion - hatte ihm die letzte halbe Stunde, die er mit Isa in ihrem Bett verbracht hatte, doch einiges an Kraft und körperlichem Einsatz abverlangt.
Einige Kaltwasser werfende Hände später fühlte er sich schon deutlich erholter. Marius wusch seinen Körper mit der Eile, die ihm die Zeit gebot. Um fünf würde er wieder zu Hause sein müssen, sonst würde irgendein Nachbar sicherlich Verdacht schöpfen. Selbst er hatte noch einen Hauch von Ruf zu verlieren.

Dort lag es noch – das weiße T-Shirt mit der schwarzen „2“, die sich riesengroß über die Frontseite zog. Kaum mehr erkennbar, da das Hemd zusammengeknäult über dem Rand von Isas Badewanne lag und vom Treiben der ganzen letzten Stunde nichts mitbekommen hatte. Behutsam wie einen goldenen Götzen, den er nach einer langen Expedition endlich in seinen Händen halten durfte, ergriff Marius das Bündel aus Hemd und legte es andächtig in seine Sporttasche, die er bei seiner Ankunft vor einer Stunde hier im Badezimmer abgestellt hatte. Ein Griff in die Seitentasche und bald schon konnte er in ein frisches T-Shirt schlüpfen. Weiß. Eine gigantische „1“ auf der Vorderseite.

Er verließ wieder das Bad. Isa hockte noch immer in einer bizarren Position auf ihrem Bett. Das Laken zurückgeworfen, kauerte sie wie im Schneidersitz auf ihrer Matratze, zwischen ihrem dicken Zeh und ihrem Zeigezeh die letzten Reste der Zigarette.
„Du musst dich noch umziehen, Isa. Du weißt schon… die Vorschriften.“
„Hm… ich brauche deine Hilfe, Marius… mein erstes Mal, du verstehst.“
„Ich weiß. Wie hätte ich es übersehen können. Also?“
„Der Buchenschrank. Rechter Türflügel, ganz oben. Das große Paket.“
Marius lief hinüber und keine fünf Minuten später hatte er das gigantische Päckchen auf die Betthälfte gestellt, in der er noch vor einiger Zeit gelegen und getobt hatte. Er öffnete es und staunte.
„…ich meine, ich wusste es ja, Isa. Aber wenn man es vor sich sieht, bekommt es doch noch eine ganz andere Qualität.“

Feinsäuberlich eingeschweißt lagen sie vor ihm in der Kiste: Isas verbliebene 999 T-Shirts. Akkurat gefaltet und seit ihrer Ausgabe, am Tag, als Isa achtzehn geworden war, kein weiteres Mal berührt.
„Steh nicht so lange herum, ich will endlich mein T-Shirt wechseln. Weißt du überhaupt, was das für mich bedeutet? All die Jahre? Der Spot und Hohn? Nun komm endlich, pack die ,999’ aus!“
Marius tat wie ihm aufgetragen wurde. Auf Isas weitere Bitte half er ihr sogar, ihr T-Shirt mit der aufgedruckten „1000“, das sie die ganze letzte Stunde anbehalten hatte, auszuziehen, um es gehen das neue T-Shirt mit der „999“ zu ersetzen.
„Das ist immer noch Schande genug, aber jetzt bin ich wenigstens keine ,1000’ mehr, verstehst du? Echte Arschlöcher tragen die ,1000’. Die ganzen Psychopathen und Pickelfressen, die fetten Kühe und Ochsen. Mir fehlen einfach nur die Hände. Mehr nicht."

Marius antwortete nicht. Er ging zum Fenster und schaute hinaus auf die kleine Straße vor Isas Haus und die Passanten. Er räusperte sich und sprach, weniger mit Isa als in den Raum hinein:
„Früher hatte es nicht so viele Null-Träger gegeben, die so jung waren. Als ich achtzehn war oder zwanzig, meine ich.“
„Meine Schwester war eine Null, bevor sie den Führerschein hatte, überlege dir das mal.“

Ein Schweigen trat ein. Viele Sekunden lang. So lange, bis Isas Blick auf Marius’ frisches T-Shirt fiel.
„Und was ist mit dir? Du darfst jetzt noch ein einziges Mal. Ein allerletztes Mal. Weißt du schon, mit wem?“
Marius zuckte mit den Achseln.
„Mal sehen, soviel wert ist mir das auch nicht. Ich habe wie jeder bei 1000 angefangen, ich habe meinen Teil getan. Ich bin glücklich.“
Isa nestelte wieder mit ihren Zehen an der Zigarettenschachtel herum, bis sie ungewohnt schüchtern wurde.
„Könntest du dir vorstellen, dein letztes Mal vielleicht… mit mir…“

Wieder traten einige Sekunden der Stille ein. Marius schüttelte den Kopf.
„Ich denke nicht. Es war gut so, wie es war. Du bist keine ,1000’ mehr – du hast bekommen, was du wolltest.“
Isa senkte ihren Blick.
„Aber sei nicht traurig, Isa. Du bekommst etwas von mir, das wird dir irgendwann einmal viel mehr wert sein.“

Und Marius drückte ihr auf die Augenlider, so dass Isa Dinge sehen konnte, die sie noch nie zuvor sah.

 
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Hi König_Bindehaut,

leider kann ich keine Verbindung zu dem Titel, dem ersten und letzten Absatz zur Geschichte entdecken.
Sex ist also wie einst Lebensmittel rationiert, die getragenen T-Shirts sind die für jeden sichtbaren Lebensmittelmarken, Statussymbol und Ablaufschema in einem.
Mal abgesehen davon, welchen Sinn das haben könnte, stolperst du damit natürlich über eine Ungereimtheit. Dein Prot kann so pünktlich zu Hause sein, wie er will, durch das T-Shirt wird er doch auffliegen.
Auch stelle ich mir für diese T-Shirts viel zu viele Tausch- und Fälschungsmöglichkeiten vor.
Fragen bleiben natürlich auch offen, ob Masturbation oder gleichgeschlechtlicher Sex auch unter die Rationierung fallen.
Gut, die Geschichte steht unter Seltsam, dennoch unterstelle ich ja immer, dass ein Autor nachdenkt, wenn er etwas schreibt. Ich kann aber leider weder der Rationierung folgen (schon gar nicht angesichts sinkender Geburtenraten), noch der Verbindung zu diesem Augenphänomen (für das übrigens einfaches Zukneifen (auch ohne Arme möglich) reicht).
Natürlich sehe ich, dass du es als Form der Sublimierung für den fehlenden Sex anbietest, und dass diese Möglichkeit in etwas so effektiv ist, wie die kalte Dusche, mag von dir beabsichtigt sein. Es bleibt die Frage nach dem Warum.
Ich kann mir solche Rationierung im Kontext neuen christlichen Fundamentalismus vorstellen, dann aber genau, um die Jungfräulichkeit bei Unverheirateten zu überprüfen. Gerade ein Mädchen, das noch vor der Fahrschule auf 0 wäre, müsste also ziemlich geächtet sein.
Auch sehe ich ein praktisches Problem. Schließlich müssen T-Shirts auch mal gewaschen werden.
Es muss eine Erstausgabe reguliert werden. Bekommt jeder so eine Kiste, von einem Einjährigen zum Zeitpunkt der Einführung bis zu einem neunzigjährigen? Da könnte ich mir einen schwunghaften Schwarzmarkt der Nummern vorstellen.
Technisch finde ich die Geschichte in Ordnung, inhaltlich finde ich sie leider noch zu unausgegoren. Vielleicht denke ich einfach zu pragmatisch?

Ich bin wohl deshalb wohl mehr wert als eine ,1000’, oder?“
Der Satz sticht nicht nur wegen des doppelten "wohl" negativ raus.

Lieben Gruß, sim

 

Danke für die Kritik

Hallo Sim!

Danke für deine Antwort und tut mir leid dass ich sie solch lange Zeit nicht kommentiert habe - jetzt habe ich zumindest wieder Zugang zum Netz.

Deine harte und faire Kritik hat mir gut gefallen. An einem Punkt gebe ich dir auch klar Recht, nämlich die Stelle mit dem "um fünf zu Hause sein". Es ging mir mehr darum, dass es ihm um seinen Ruf geht, nicht bei "solch einer Person" in flagranti erwischt zu werden, weniger darum, dass seine Ehefrau zu Hause etwas mitbekommen könnte. Die Stelle habe ich mittlerweile abgeändert, jetzt wird es deutlicher. Auch das doppelte "wohl" ist raus.

Die angesprochenen Punkte von Schwarzmarkt über Fälschungen bis Kriminalität sind wohl wahr - und auch bewusst so von mir als Spielraum gelassen. Natürlich dürften all diese Arten von Entwicklungen rund um die T-Shirts passieren, aber Marius ist jemand, der diesen ganzen Trubel nicht (mehr) mitmacht.

Zur Frage nach den Gründen dieser T-Shirt-Regelungen kann ich nur sagen: Deshalb steht die Geschichte ja unter "Seltsam". :)

Und zum Drücken auf die Augen: Du hast Recht, langes Zukneifen erzeugt auch diese flackernden Bilder, aber andere und nicht so intensive wie durch längeren Fingerdruck auf die Augen. Eigenexperiment genügt.

Leicht gefeilt habe ich an ihr nun also noch einmal, ich hoffe, sie schaut jetzt besser aus.

Nicht grußlos verbleibt
König_Bindehaut

 

Euer Majestät,

ich bin ein bisken unsicher.
Du beschreibst eine Welt, in der Menschen genau 1000x Sex haben dürfen/wollen/können, dazu eine Frau ohne Hände, die von ihrer Jungfräulichkeit scheinbar erlöst wurde. Das ist wirklich seltsamer Erzählstoff, für den Du mMn ein wenig zu sehr auf der Oberfläche bleibst. Die Lösung, dieses Limit über T-Shirts abzubilden springt da z.B. zu kurz, wenn Du beschreibst, daß sie das Shirt die letzte Stunde (nur) anhatte, und dann den lange ungenutzten Karton mit den anderen 999 Shirts zu beschreiben.
Die Frau hat keine Hände, und das so scheint es mir nur dafür, um von ihm am Ende mit dieser fürwahr seltsamen Erinnerung beschenkt zu werden (wobei auch das ein wenig kurz springt, schliesslich kann sie sich im Liegen gegen etwas drücken, so daß ihre Augen genau den gleichen Effekt generieren wie mit Fingern).

aber Marius ist jemand, der diesen ganzen Trubel nicht (mehr) mitmacht.
Das lese ich auch nicht in der Geschichte, er ist an seinem Ende angekommen, was wird mit ihm geschehen, was mit anderen Nullern ? Das scheint mir extrinsisch zu sein, von Marius Innenwelt und einige wesentliche Parameter der Aussenwelt bekomme ich nichts zu sehen.

Daher bin ich mir nicht sicher wie ich sie finde, seltsam wohl, doch auch noch nicht ganz gar.


Und cooler Nick :)

Grüße,
C. Seltsem

 

Hallo C.Seltsem!

Danke für deine Worte und deine Unsicherheit *g*.

In der Tat ist das Motiv der Entjungferung unserer Protganonisten natürlich ein entscheidenes Element und sollte natürlich auch ein wenig in der Hinsicht herausstechen, da sie eben bislang noch nicht stattgefunden hatte. Isa bedurfte also irgendeiner Besonderheit, aber sie bewusst mauerblümchen-like zu gestalten, wollte ich dann auch. Vielmehr eben einen Bezug setzen, zum hedonistischen Surrogat Marius', dem Augendrücken, wozu sie eben irgendwie nicht fähig sein sollte. So entstand dann der Gedanke der Armlosigkeit. Es mag ein wenig zu bewusst und gewollt wirken - aber um sowas zu erkennen habe ich mich ja bei kg.de angemeldet... um eben diese Schwächen meiner Erzählweise zu erkennen und z.B. dabei subtiler zu werden.

Marius' Intension sowie seine Herauslösung aus diesem Konzept, also eben sich nicht "wie eine Null zu fühlen, obwohl er bei der Null angekommen ist", habe ich in der Tat bewusst eher offengelassen, dem Leser schenke ich gerade bei so einer skurrilen Geschichte gerne viel Raum für die Eigeninterpretation. Vielleicht habe ich es bei dieser zu gut gemeint damit ;)

Als Abschlussgedanke: Sowohl du als auch Sim haben Recht, wenn ihr sagt, dass der "Augendruck" natürlich auch durch andere Dinge erzeugt werden kann. In meiner Intension sollte er aber nicht seinen zwischenmenschlichen Charakter verlieren... was wäre das für eine Welt, wo sich die Menschen lieber gegenseitig auf die Augen drücken, anstatt miteinander zu schlafen :drool:

Nicht grußlos verbleibt
König_Bindehaut

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo König_Bindehaut, :D

Kaum mehr erkennbar, da das Hemd zusammengeknäult über dem Rand von Isas Badewanne lag und vom Treiben der ganzen letzten Stunde nichts mitbekommen hatte.
Komischer Satzbau. Sowas mag ich ja gar nicht:
Das Hemd war kaum mehr erkennbar, da es zusammengeknäult über dem Rand von Isas Badewanne lag und vom Treiben der ganzen letzten Stunde nichts mitbekommen hatte.

Haha, also ich finde die Story echt cool. Lauter witzige Einfälle, wie die mit den T-shirts und dem Mädchen ohne Hände. Sie tut einem dann schon leid, wenn man sich vorstellt, wie sie da sitzt, mit "999" auf der Brust.
Erst dachte ich beim Lesen, die beiden würden ihre Tshirts tauschen. Weil es stimmt, die Betrugsgefhr ist ja imens. Aber auf der anderen seite denkt man sich auch, dass dieses System fundamental in der Gesellschaft verankert ist und niemand auf die Idee kommt, zu betrügen. Sowas lässt du natürlich offen, sonst würde es nicht mehr einfach nur seltsam sein, sondern zur sci-fi rüberdriften.
Das Ende ist echt schön, allerdings vermute ich einfach mal, dass man keine Hände bracht um diesen Effekt zu erzielen.

Eike

 

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