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Was man ohne Hände sehen kann...
„Wenn du die Augen schließt und kräftig mit deinen Fingern gegen die Augenlider drückst, siehst du nicht einfach nur das ewig Schwarze. Nach einiger Zeit fangen die Nervenbahnen hinter deinen Augen an zu reagieren, sie flattern und flackern, bis du verschiedene Schemen siehst, Ornamente, Muster – wie alte, entflammte Kupferstiche.“
Marius geriet fast außer sich vor Begeisterung.
„Ich kann mir nicht gegen meine Augenlider drücken, Marius. Ich habe keine Hände mehr.“
„Dann stelle dir wenigstens vor, Isa, wie es wäre. Stell dir vor, was du alles sehen könntest, wenn du noch Hände hättest.“
Marius zündete ihr eine Zigarette an, stand auf und steuerte behäbig in Richtung Badezimmer. Selbst bei geöffneten Augen huschten Hundertschaften kleiner Sternchen über das Panorama, das er wahrnahm. Eine natürliche Reaktion - hatte ihm die letzte halbe Stunde, die er mit Isa in ihrem Bett verbracht hatte, doch einiges an Kraft und körperlichem Einsatz abverlangt.
Einige Kaltwasser werfende Hände später fühlte er sich schon deutlich erholter. Marius wusch seinen Körper mit der Eile, die ihm die Zeit gebot. Um fünf würde er wieder zu Hause sein müssen, sonst würde irgendein Nachbar sicherlich Verdacht schöpfen. Selbst er hatte noch einen Hauch von Ruf zu verlieren.
Dort lag es noch – das weiße T-Shirt mit der schwarzen „2“, die sich riesengroß über die Frontseite zog. Kaum mehr erkennbar, da das Hemd zusammengeknäult über dem Rand von Isas Badewanne lag und vom Treiben der ganzen letzten Stunde nichts mitbekommen hatte. Behutsam wie einen goldenen Götzen, den er nach einer langen Expedition endlich in seinen Händen halten durfte, ergriff Marius das Bündel aus Hemd und legte es andächtig in seine Sporttasche, die er bei seiner Ankunft vor einer Stunde hier im Badezimmer abgestellt hatte. Ein Griff in die Seitentasche und bald schon konnte er in ein frisches T-Shirt schlüpfen. Weiß. Eine gigantische „1“ auf der Vorderseite.
Er verließ wieder das Bad. Isa hockte noch immer in einer bizarren Position auf ihrem Bett. Das Laken zurückgeworfen, kauerte sie wie im Schneidersitz auf ihrer Matratze, zwischen ihrem dicken Zeh und ihrem Zeigezeh die letzten Reste der Zigarette.
„Du musst dich noch umziehen, Isa. Du weißt schon… die Vorschriften.“
„Hm… ich brauche deine Hilfe, Marius… mein erstes Mal, du verstehst.“
„Ich weiß. Wie hätte ich es übersehen können. Also?“
„Der Buchenschrank. Rechter Türflügel, ganz oben. Das große Paket.“
Marius lief hinüber und keine fünf Minuten später hatte er das gigantische Päckchen auf die Betthälfte gestellt, in der er noch vor einiger Zeit gelegen und getobt hatte. Er öffnete es und staunte.
„…ich meine, ich wusste es ja, Isa. Aber wenn man es vor sich sieht, bekommt es doch noch eine ganz andere Qualität.“
Feinsäuberlich eingeschweißt lagen sie vor ihm in der Kiste: Isas verbliebene 999 T-Shirts. Akkurat gefaltet und seit ihrer Ausgabe, am Tag, als Isa achtzehn geworden war, kein weiteres Mal berührt.
„Steh nicht so lange herum, ich will endlich mein T-Shirt wechseln. Weißt du überhaupt, was das für mich bedeutet? All die Jahre? Der Spot und Hohn? Nun komm endlich, pack die ,999’ aus!“
Marius tat wie ihm aufgetragen wurde. Auf Isas weitere Bitte half er ihr sogar, ihr T-Shirt mit der aufgedruckten „1000“, das sie die ganze letzte Stunde anbehalten hatte, auszuziehen, um es gehen das neue T-Shirt mit der „999“ zu ersetzen.
„Das ist immer noch Schande genug, aber jetzt bin ich wenigstens keine ,1000’ mehr, verstehst du? Echte Arschlöcher tragen die ,1000’. Die ganzen Psychopathen und Pickelfressen, die fetten Kühe und Ochsen. Mir fehlen einfach nur die Hände. Mehr nicht."
Marius antwortete nicht. Er ging zum Fenster und schaute hinaus auf die kleine Straße vor Isas Haus und die Passanten. Er räusperte sich und sprach, weniger mit Isa als in den Raum hinein:
„Früher hatte es nicht so viele Null-Träger gegeben, die so jung waren. Als ich achtzehn war oder zwanzig, meine ich.“
„Meine Schwester war eine Null, bevor sie den Führerschein hatte, überlege dir das mal.“
Ein Schweigen trat ein. Viele Sekunden lang. So lange, bis Isas Blick auf Marius’ frisches T-Shirt fiel.
„Und was ist mit dir? Du darfst jetzt noch ein einziges Mal. Ein allerletztes Mal. Weißt du schon, mit wem?“
Marius zuckte mit den Achseln.
„Mal sehen, soviel wert ist mir das auch nicht. Ich habe wie jeder bei 1000 angefangen, ich habe meinen Teil getan. Ich bin glücklich.“
Isa nestelte wieder mit ihren Zehen an der Zigarettenschachtel herum, bis sie ungewohnt schüchtern wurde.
„Könntest du dir vorstellen, dein letztes Mal vielleicht… mit mir…“
Wieder traten einige Sekunden der Stille ein. Marius schüttelte den Kopf.
„Ich denke nicht. Es war gut so, wie es war. Du bist keine ,1000’ mehr – du hast bekommen, was du wolltest.“
Isa senkte ihren Blick.
„Aber sei nicht traurig, Isa. Du bekommst etwas von mir, das wird dir irgendwann einmal viel mehr wert sein.“
Und Marius drückte ihr auf die Augenlider, so dass Isa Dinge sehen konnte, die sie noch nie zuvor sah.