Was nicht war
was nicht war
Ich hätte gern eine Großmutter gehabt, die auf dem Land lebte. Eine kleine, rundliche Frau mit roten Pausbäckchen wie aus der Werbung, die hätte ich gerne zur Großmutter gehabt. Und mein Großvater wäre ein hochgewachsener, hagerer Mann gewesen unter dessen strengem Blick wir Kinder uns klein gemacht hätten wie Häschen in ihrer erdigen Mulde.
Ich hätte mir auch einen Bauernhof gewünscht für meine Großeltern, einen Bauernhof mit vielen Tieren. Meine Großmutter wäre jeden Morgen als erstes aufgestanden. Sie hätte die Kühe gemolken; im Morgennebel auf dem Innenhof die prallen Euterzitzen in die rauen, faltigen Hände genommen und ein fester Strahl reinweißer, schäumender Milch wäre zischend in einen Metalleimer geflossen. Wenn ich im Schlafanzug in die Küche getappt wäre, hätte es nach frischem Kaffee geduftet, den ich nicht hätte trinken dürfen, weil ich noch zu klein gewesen wäre, und meine Großmutter hätte mir wortlos ein Glas schaumige Milch auf die blaublumige Tischdecke gestellt.
Auf dem Hof meiner Großeltern hätte jede Kuh einen Namen gehabt und ich hätte sie aussuchen dürfen. Ich hätte ein eigenes Lämmchen gehabt, mit einer roten Schleife um den Hals, und es mit einer Babyflasche großgezogen. Sonntags wären wir alle in die Kirche gegangen und ich hätte einen steifkragigen Anzug tragen müssen und polierte Schuhe mit Lack. Es wäre unbequem gewesen, aber ich wäre stolz gewesen, weil meine Großmutter gesagt hätte, Jetzt siehst du fast aus wie Großvater, Junge.
Zum Mittagessen hätte es Rinderbraten mit Klößen gegeben oder Schweinshaxe mit Stampfkartoffeln oder Gemüseeintopf. Wir hätten um einen schweren Eichentisch in der guten Stube gesessen, mein Großvater vor Kopf, und hätten vom Familienporzellan gegessen. Vor dem Essen hätte mein Großvater ein Gebet gesprochen und alle hätten Amen gemurmelt.
Nachmittags wäre ich hoch oben auf dem Traktor mitgefahren, hätte das Tuckern des Motors am ganzen Körper gespürt und mich so stark gefühlt, wie sich nur Kinder stark fühlen können. Ich wäre auf die Eiche neben dem Wohnhaus geklettert und mit den Nachbarsjungen um die Wette ins Heu gesprungen. Einmal, beim Kirschkernweitspucken, hätte ich nicht aufgepasst. Und mit einem leisen „Plong“ wäre mein Kirschkern auf der blankpolierten Glatze meines Großvaters gelandet. Er wäre rot angelaufen, hätte mit den Armen gefuchtelt, aber wir hätten oben auf dem Baum gesessen, mucksmäuschenstill mit dem grünen Laub verschmolzen und er hätte uns nicht sehen können.
Abends wäre ich müde gewesen und dennoch kaum dazu zu überreden, ins Bett zu gehen, aber meine Großmutter hätte mich hinaufgebraucht und die dicke, weiße Bettdecke um meinen Körper festgestopft. Ihren Gute-Nacht-Kuss hätte ich nicht mehr mitbekommen, denn ich hätte schon geträumt, vom Traktor und von meinem starken Großvater, von meinem Lämmchen und von der frischen Milch.
Meinen ersten Kuss hätte ich vom braunäugigen Nachbarsmädchen in einer Brombeerhecke bekommen. Mit blutigen Kratzern an Beinen und Armen wäre ich nach Hause gekommen und mein Großvater hätte mich einen Lausbengel geschimpft. Meine Großmutter hätte, wie immer wortlos, brennendes Jod auf die Wunden getropft und ihr stilles Großmutter-Lächeln gelächelt.
Und doch wäre auch diese Kindheit irgendwann und viel zu schnell zuende gegangen. Und ich hätte auf meinem rot-weißen, rostigen Mofa in der Hofeinfahrt gehockt, eine Zigarette in den Mundwinkel geklemmt und missmutig mit meinem Pubertätspickelgesicht in die Ferne gestarrt. Ich hätte kein Lämmchen mit roter Schleife mehr gehabt, hätte keine Kirschkerne mehr gespuckt und hätte den Kühen keine Namen mehr gegeben. Ich hätte Kaffee trinken dürfen, aber da hätte ich schon keinen Kaffee mehr trinken wollen.