- Beitritt
- 01.09.2005
- Beiträge
- 1.170
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 14
Was zu erzählen
Eine harte Nuss. Die Party war zum Kotzen und eigentlich hatte ich nach zehn Minuten schon wieder fahren wollen. Stattdessen lehnte ich noch immer in der Küche am Gewürzregal, wo ich mich in der Nähe des Bieres in Position gebracht hatte. Eins noch, und dann noch eins, und dann vielleicht noch eins und zack, war es zwei Uhr morgens.
Nicht nur das Bier, auch dieser Typ mit seinem Rolling Stones T-Shirt hatten mich hier gehalten. Dieser Idiot war unglaublich. Wir waren über irgendeinen Schwachsinn ins Gespräch gekommen und hatten uns das ins Ohr geraunt, was man bei lauter Musik und überfüllter Küche auf Studentenwohnheimpartys für gewöhnlich so von sich gab: „Boah, ist das voll, Mann, ist das stickig, Mann, ist das heiß, Mann, bin ich dicht, Mann, ist das kalt, ich glaube nicht, dass Voltaire Recht hatte, als er sagte“ etc.
Jetzt weigerte er sich, wieder zu gehen und fing an, mir seine Autobiographie zu diktieren, in der eine Erfolgsgeschichte nahtlos in die nächste überging. Seine Freundinnen, sein Studium, seine Eltern, seine eigene kleine Firma, er hatte alles im Griff und war trotz der vielen erfolgreichen Arbeit zur beliebtesten Partysau des Bundeslandes mutiert.
Das interessierte mich natürlich mordsmäßig, und auch seine ‚Hab’ ich alles schon gesehen’ – Art, mit der er mir die belanglosen Details seines Lebens um die Ohren haute, fand ich einfach klasse. Nicht.
Irgendwann war das Maß dann voll und ich begann, seinen Geschichten mein Leben entgegenzuhalten, in dem ja auch die eine oder andere Sache passiert war. Teilweise modifizierte ich die Wahrheit dabei meinem Alkoholpegel entsprechend, aber selbst, wenn ich log wie gedruckt, hatte der spätgeborene Mick-Jagger-Enthusiast noch einen draufzusetzen. Es war widerlich.
Ich erzählte, dass ich teilweise mehrmals pro Jahr in der Schweiz zum Snowboardfahren war. Er ließ mich an seinen Erlebnissen in Amerikas Nobel–Skigebiet Vermont teilhaben und beschrieb bildhaft, wie er dort seiner Freundin Champagner aus der, na, sie wissen schon, geschlürft hatte.
Als ich erwähnte, dass ich in Hamburg auf der Reeperbahn einmal Speed angetestet hatte, berichtete er mir von einer Tour de Koks mit Rene Weller und Konsorten aus dem Kiezmilieu an seiner Seite.
Mit zehn hatte ich über vierzig Star-Wars-Figuren gehabt, von denen ich einen Großteil noch immer sorgfältig in meinem Zimmer bei meinen Eltern aufbewahrte. Er hatte allein fünfzig Storm-Trooper gehabt. Doppelt und dreifach und immer wieder hatte er seine Eltern genötigt, diese spezielle Figur anzuschaffen, damit Sohnemann die Szenen auf dem Todesstern möglichst realitätsnah nachspielen konnte – Wäre ja blöd gewesen, wenn die Truppen des dunklen Imperiums nur aus fünf Leuten oder so bestanden hätten, ha ha.
Und so weiter, und so weiter.
Ich hatte keinen Bock mehr, wollte nach Hause, aber dieser Kerl und seine Geschichten, ich wollte ihn schlagen, einfach nur etwas erzählen, worauf ihm mit Sicherheit nichts einfallen würde.
Also grub ich aus den nach Untiefen meiner längst verblichenen Pubertät einen untoten Storyzombie von besonderer Widerwärtigkeit aus, von dem ich fest glaubte, dass er von einer schützenden Aura der Einzigartigkeit umgeben war.
„Weißt du, was Kekswichsen ist?“, fragte ich . . . nennen wir ihn Mick.
„Häh?“
„Kekswichsen.“
„Öh . . . “
„Na ja, egal. Wir haben diesen Scheiß halt mal mit ein paar Leuten zusammen gespielt, da war ich fünfzehn oder so. Alle sitzen im Kreis und fangen an zu wichsen. Wer kommt, der spritzt auf den Keks in der Mitte, und wer zuletzt kommt, muss das Ding dann essen. Ich habe den Mist genau einmal mitgemacht. Hab’ verloren.“
Er verschluckte sich an seinem Bier und fing an zu husten, dann lachte er. Zufrieden lächelnd führte ich den Hals meiner Flasche an meine Lippen und trank, und die bittere Würze des Gerstensaftes mischte sich mit der erquickenden Süße eines davongetragenen Sieges, die mein trunkener Gaumen in seinem Rausch zu schmecken glaubte.
Mick beruhigte sich wieder. „Ach das“, sagte er. „Ob du es glaubst oder nicht, aber mir ist mal was ganz Ähnliches passiert.“
Mein Lächeln gefror.
„Fast genau das Gleiche, echt, ist schon abgefahren. Ich habe auch den Kürzeren gezogen. Aber bei uns hieß das Kekskacken.“