Wassertropfen
Nepomuk starrt vom Vorplatz des Grossmünsters auf den mit Löchern und Spalten übersähten Asphalt des Limmatquais und ins ausgetrocknete Flussbett. Der rund 60jährige Mann stützt sich mit seinen beiden fleck-faltigen Händen auf die verwitterte Steinmauer gegenüber der Wasserkirche. Er schliesst die Augen und stellt sich vor, wie früher das Flusswasser der Limmat unter der Rathausbrücke kräuselte, das Plätschern der Brunnen sich in die Melodie der Stadt einbettete. Nepomuk spaziert im noch dunklen Wechsel der Nacht zum Morgen Richtung Schipfe-Quartier der Altstadt. Vor den Ruinen des Fraumünsters blickt er zurück, das erste schwache Licht streift über die Resten von Zürich. Einige Gebäude trotzen dem Zahn der Zerstörung. Nepomuk schwitzt.
Mit seinen zerschlissenen Wanderschuhen schlendert er die Schipfe entlang, bleibt im engen überdachten Durchgang stehen. "Wasser", haucht Nepomuk in die offene Türe der Liegenschaft, in der die zurück gebliebenen Bewohner die letzten Wasserreserven mit einem Pumpwerk im Keller aufsammelten. Bis es immer weniger wurde, bis sie einer nach dem anderen starben. Nepomuk erreicht die Rudolf-Brun-Brücke, blickt die Limmat hinauf zum versandeten Seebett. Das mittlere Blau der Luft wandelt sich wie jeden Morgen zu einem Hellblau. Immer mehr Schweiss läuft ihm von der Stirn.
Nepomuk lehnt seinen ausgemergelten Körper an ein Stück Brückenmauer, schweift mit seinem Blick zum Universitätsspital, wo er in den tiefen,kühlenden Kellern haust. Er denkt an die letzten Tage, an die zunehmend stummeren Streifzüge mit Nikita. An die schwindende Zuversicht seiner einstmals vor Hoffnung strotzenden Frau. Letzte Woche überraschte Nepomuk seine Liebste zum 43igsten Geburtstag mit den wahrscheinlich letzten Kerzen und einem Buch über die Gletschergeschichte der Schweiz. Gemeinsam reisten sie in Gedanken über die weissen, endlosen Eismassen und ihr packendes Lachen umkreiste ihn wie ein kühler Wind, für einen Moment fegten sie die Aussichtslosigkeit an diesem Junitag weg. Immer wieder aber pressten sich Erinnerungen von früher in ihre Fröhlichkeit – der Wechsel des Klimas traf die Stadt, das Land und Europa wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Der fehlende Regen, die steigende Hitze und die rasende Austrocknung rafften alles Leben dahin. Mitten im Wasserschloss Europas erlitt die hektische Schweizer Stadt einen Herzinfarkt, das Gespenst des Stillstandes versetzte die Menschen in Panik. Fast alle flüchteten nach Norden, nach Island, Grönland, nach Spitzbergen. Nepomuk bemerkt die ersten dampfenden Sonnenstrahlen auf dem Zürichberg und schaut angewidert auf sein total verschwitztes orangefarbenes T-Shirt, die feuchten dunkelblauen Shorts.
Das Liebespaar entschied sich, zurückzubleiben und mit den letzten Wasser- und Nahrungsreserven ein Überleben zu organisieren. Den Kampf gegen das Unausweichliche zu wagen. Fast unmerklich verschwanden die anderen letzten Zürcherinnen und Zürcher um sie beide herum. Nepomuk steigt schnaufend zum Lindenhof hoch. Mit einem Seufzer erreicht er den Ort der versteinerten Bäume. Er setzt sich auf die Mauer, die Sonnenstrahlen kochen über die Trümmer der Altstadt, wandern durch das Flussblett und erklimmen wie jeden Tag die Mauer zum Lindenhof. Nepomuk legt vorsichtig seinen rechten Arm über die Schulter von Nikita. Er schaut in ihr zeitlos schön konserviertes Gesicht. Er liebt sie über alles. Nikita hat sich gestern einfach in die Sonne gesetzt. Das Austrocknen und Erstarren dauerte wohl nicht lange, ein Effekt wie das Brennen von Ton. Nepomuk macht es Nikita gleich und schaut mit grossen Augen und einer Träne, dem letzten Wassertropfen von Zürich, in das Gesicht seiner Liebsten. Er setzt beim Gedanken an die Wiedervereinigung mit Nikita in einem anderen Leben ein Lächeln auf und empfängt die vernichtenden alles verbrennenden Strahlen der Sonne.