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We feed the World
Georg hielt die Dose Fleisch in seiner linken Hand. Er saß am Küchentisch, vor ihm stand ein leerer, leidlich sauberer Teller. Im Licht der nackten Glühbirne, die über seinem Kopf baumelte, las er das Etikett.
WFW – Fleischstückchen in Tomaten-Sauce. Abgefüllt Juli 2462. Und darunter in geschwungenen grünen Lettern We feed the World.
Er rammte den Büchsenöffner in den Deckel und schnitt den Rand auf. Blubbernd ergoss sich die dünne rote Brühe mit den Fleischstückchen in den Teller. Er nahm die Gabel, piekste ein Stück auf und schob es in den Mund. Es war wie üblich zäh und schmeckte widerlich. Neben dem Teller lag die aufgeschlagene Zeitung von vorgestern. Georg hatte sie aus dem Altpapier gefischt.
Sozialminister Schrattmann verteidigt umstrittenes Ernährungsprogramm
Georg hatte den Inhalt der Dose zur Hälfte heruntergewürgt. Sein Hunger war fast so grässlich wie das Fleisch.
…Immerhin, so Schrattmann im Plenum, sei das Verantwortungsgefühl in der Gesellschaft gewachsen. Das Programm habe sich zudem als wegweisend in der Bekämpfung des Ernährungsproblems erwiesen…
*
„Ich begrüße Sie ganz herzlich zu einer kurzen Führung durch unseren Betrieb. Sind Sie auch alle warm angezogen? Sie wissen, im Kühlraum herrschen minus 15 Grad. Wäre doch zu blöd, Herr Minister Schrattmann, wenn Sie sich mitten im Sommer einen Schnupfen holen. Wenn Sie mir bitte folgen möchten.“
Holger Gobelik, der Mann mit dem WFW-Logo auf dem gefütterten blauen Kittel und dem akkuraten Mittelscheitel, drückte auf die Fernbedienung. Eine schwere Eisentüre glitt lautlos zur Seite. Die Gruppe aus dem Sozialministerium folgte seinem flotten Schritt durch einen langen Gang. Hinter abgedunkelten Scheiben waren polternde Geräusche zu hören. Ein Mann wollte es genau wissen. „Was wird dort gemacht? Gekeult?“
„Bei uns wird nicht gekeult. Bei einer Keulung werden Tiere vorsorglich getötet, um das Ausbreiten von Seuchen zu verhindern. Bei uns wird zuerst betäubt. Dies geschieht durch einen Bolzenschuss knapp über den Augen. Übrigens die Erfindung eines Straubinger Schlachthofdirektors aus dem Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts. Damals sollte den Tieren unnötiges Leiden erspart werden. Diese Technik hat sich im Grunde bis heute nicht verändert. Sie dient, wie gesagt, der Betäubung. Danach werden die großen Blutgefäße mit dem Öffnen der Brust durch einen Schnitt zum raschen Ausbluten gebracht. Also, diesen Anblick wollten wir Ihnen dann doch ersparen … Bitte hier hinein.“
Erneut öffnete sich automatisch eine schwere Tür. Eiseskälte schlug der Gruppe entgegen. „Wie Sie sehen, sind hier die Köpfe bereits entfernt. Und wie Sie dem elektronischen Thermometer entnehmen können, herrschen hier drinnen minus 15,8 Grad. Wir sollten uns nicht zu lange in der Saukälte aufhalten.“
Gobelik hatte seine Gruppe genau beobachtet. Die Staatssekretärin neben Schrattmann begann heftig zu würgen, blitzartig hatte ihr der WFW-Manager eine Tüte aus festem Papier gereicht und ein dampfender brauner Schwall beulte sie aus.
"Alles nur eine Frage der Gewöhnung." Gobelik bugsierte die Besucher an tiefgefrorenen Lagerräumen entlang durch eine weitere Eisentüre in eine große Halle. Der gekachelte Boden war penibel sauber, Fließbänder transportierten gefüllte Wannen vorbei an Tischen mit hektisch werkelnden WFW-Mitarbeitern.
„Hier wird sortiert. Knochen für die Gewinnung von Mark, Hirn, Darmhaut für die Würste … das Muskelfleisch kommt da drüben an.“ Gobelik deutete mal dahin, mal dorthin. Schließlich gab er Zeichen, ihm weiter zu folgen. An den hinteren Tischen wurde das Fleisch in kleine Portionen zerteilt. Am Ende der Halle standen allerlei Maschinen.
„Unsere Zubereitungs- und Abfüllstation. Hier wird alles gekocht, mit verschiedenen Soßen versehen, gewürzt und – voila! – abgefüllt. Noch Fragen?“
*
Georg hatte sein Abendessen beendet. Heute war sein letzter Tag auf dieser Welt. Er verwarf den Gedanken an einen Abschiedsbrief. Wer sollte ihn schon lesen? Er zog seinen zerschlissenen Mantel an und ließ das Licht brennen, als er die Türe hinter sich ins Schloss fallen ließ. Zum Abschluss wollte er sich den berühmten WFW-Hamburger gönnen, die Belohnung für sein verkorkstes Leben. Mit echtem Rindfleisch, einer frischen Tomate, einer Gurkenscheibe und geschmolzenem Käse. Einen Hamburger, wie es ihn früher an jeder Straßenecke gegeben hatte, bevor das Virus NB7 die Rindviecher weltweit stark dezimierte. Zuvor hatten Wellen von Schweinepest und Vogelgrippe die Fleischversorgung von 24 Milliarden Menschen auf ein Minimum reduziert. Die Ozeane waren so gut wie leergefischt und so ruhten die Hoffnungen der Nahrungsproduzenten auf den ausgedehnten Anbau von resistentem Genmais. Bis sich die Sorte, die sich durchgesetzt hatte, durch einen genetischen Defekt nicht mehr reproduzieren konnte. Die Klimaerwärmung sorgte für Ernteausfälle und es war erstaunlich, wie sich die Menschheit dennoch weiter hatte vermehren können.
Der Bus spuckte Georg neben der WFW-Zentrale aus. Er sah die lange Schlange vor der Essenausgabe.
24 Stunden geöffnet.
Er stellte sich hinten an, wühlte in seiner Tasche und fand den Ausweis. Die Plastikkarte hatte er vor drei Tagen beantragt, und schon heute war sie in seinem Briefkasten gelandet. Er zählte die vor ihm Wartenden. Noch 20 bis zum frischen Fleisch … noch zehn … noch einer. Endlich war er an der Reihe. Eine dicke Frau saß in einer Art Kassenhäuschen. „Ihren Ausweis bitte!“
Georg schob ihn durch das halb geöffnete Glasfenster. „In Ordnung. Noch hier unterschreiben, dann bitte da vorne durch.“
Georg kritzelte seinen Namen auf ein Stück Papier. Drei Minuten später saß er auf einem Plastikstuhl neben anderen Gestalten und stopfte sich einen Hamburger zwischen die Zähne. Georg sah sich kauend um. Über ihnen hingen ein paar Glühbirnen. Er fühlte sich fast wie zu Hause, mit dem Unterschied, dass er nicht allein war. Er ließ das Hackfleisch zwischen Zunge und Gaumen zergehen, die Tomate erschien frisch, die Gurke war knackig. Georg bedauerte, den letzten Bissen herunter zu schlucken. Immerhin blieb der angenehme Geschmack noch ein wenig erhalten. Nun hieß es wieder anstellen. Noch 20 … noch zehn … noch einer bis zur Betäubung. We feed the World