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Weg ins Dunkel 6
(Wörter: 5861)
Nur eine Tür im Schloss am Abgrund blieb geschlossen. Weder die dort wohnhaften Diener, noch den Clanmitgliedern oder Clanführern war der Zutritt gestattet. Einzig Halingor, der rothaarige Butler, und der Meister selbst, der Lord Vemzor genannt wurde, betraten ab und zu den Raum. Eine dritte Person befand sich dort, die diesen Raum seit langer Zeit nicht mehr verlassen hatte. Der Meister selbst war seit einigen Tagen ebenfalls nicht mehr außerhalb dieses Zimmers gesehen worden. Wenn einer der anderen Diener einen Weg an der geschlossenen Tür vorbei nahm, hörte er Schreie aus dem Raum, gefolgt von schmerzgequälten Klagelauten, manchmal auch Stille. Doch obwohl außer den drei Personen niemand das Innere des Raumes sah, so wussten doch alle insgeheim, was geschehen war. Es war die neue Gefährtin des Herrn, die in ihrem Bett dahinsiechte.
Schon seit Tagen wachte Lord Vemzor an ihrem Bett und hielt die Hand seiner Liebsten.
Wieder bäumte sich ihr Körper gegen einen Krampf auf. Der Vampir drückte ihre Hand fester, damit sie die Schmerzen besser überstand. Dann lag sie wieder reglos und schwer atmend da. Ihre Haut war gerötet vom Fieber und glänzte vor Schweiß.
"Alles wird gut, Jina", flüsterte er und strich ihr sanft eine feuchte Strähne aus dem Gesicht. "Du überstehst das und bald bist du wieder gesund."
Sie öffnete die Augen und richtete sich langsam auf, stark zitternd, sei es vor Anstrengung oder von Schüttelfrost. "Du kannst die Sache verkürzen", hauchte sie ihm zu. "Verkürze die Sache. Heile mich."
Sanft drückte er sie in ihre Kissen zurück und streichelte beruhigend ihre Wange. "Nein, Liebste. Das werde ich dir nicht antun. Du sollst ein Mensch bleiben und kein verfluchtes Leben führen. Wenn der nächste Vampirtöter auftritt, stirbst du sowieso. Mit deiner Umwandlung wäre nichts gewonnen."
Sie sah ihn mit glasigem Blick an, versuchte, das Zittern in ihrer Stimme zu unterdrücken. "Wenn du mich liebst, dann tu es. Du weißt, dass ich das schon immer wollte. Bitte, tu es. Beiß mich!"
Es war reiner Egoismus, dass er sie nicht verwandeln wollte, doch das würde er nie zugeben, nicht einmal gegenüber seinen Untertanen. Alle, außer Jina, wussten, dass er gerne ein ausschweifendes Leben führte, in den Bordellen der Gegend herumhurte und selten eine Nacht allein verbrachte. Doch er hatte auch seinen Stolz und verzichtete auf diese Genüsse, solange er eine Gefährtin an der Seite hatte. Niemand konnte ihm Untreue vorwerfen.
Nur wenn eine Menschenfrau besonders schön, interessant oder sonstwie anders war, nahm er sie zur Gefährtin, verwandelte sie jedoch nie, denn Menschen hatten gewisse Vorzüge. Nicht nur, dass sie im Gegensatz zu Vampiren warm waren, sie lebten auch höchstens hundert Jahre. Nach ihrem Tod auf dem Schloss, starben sie jedoch nicht einfach, sondern verwandelten sich in Fledermäuse, dazu verdammt bis in alle Ewigkeit ihre Kreise um das Schloss zu ziehen. Die Fledermausschwärme, die bereits jede Nacht um das Schloss flogen, waren das Ergebnis, seiner Sammlung. Jede erinnerte sich an ihn, jede hasste ihn dafür. Sie kreischten ihm ihren Zorn entgegen und ermahnten ihn an seine Schandtaten, aufdass er sie nie vergaß. So manche Nacht stand er am Fenster, lauschte ihren Vorwürfen, erinnerte sich an die Personen, die dahinter verborgen waren und daran, wie sehr er jede einzelne geliebt hatte. Sie waren lebende Erinnerungen und seine Wegbegleiter in die Zukunft. Als Vampir würde Jina nie in ihrer Mitte landen.
Theoretisch konnte sie auch so ewig an seiner Seite bleiben, denn er besaß den Schlüssel zur Unsterblichkeit. Da gab es nur ein Problem:
Es gab diese Vampirjäger, Menschen, die von der Existenz der Vampire wussten und sich zum Ziel gesetzt hatten, sie zu vernichten. Zwar konnte kein Mensch einem Vampir gefährlich werden, aber seltsamerweise geschah genau das, wenn auch sehr selten. Alle fünfhundert Jahre tauchte ein besonderer Vampirjäger auf, der als Vampirtöter bezeichnet wurde, denn er bedeutete für viele das Ende. Jedes Mal war es ein anderer und niemand wusste, wer als nächstes dazu bestimmt war. Immer löschte er die Vampire nahezu aus, bevor er verschwand oder selbst getötet wurde.
Einzig Zorlio, ein früherer Berater von Lord Vemzor und Vorgänger von Halingor, hatte gleich zwei Vampirtöter überdauert, bevor der letzte ihn schließlich doch vernichtete. Das war gerade fünfzehn Jahre her, bis zum nächsten Vampirtöter würde es noch eine Weile dauern. Eine Weile, in der Jina noch existieren konnte.
Bis dass der Tod sie scheide, oder bis in alle Ewigkeit, das war sein Motto. Dieses dazwischen war einfach unerträglich. Und jetzt schon sterben sollte sie auch nicht, denn sie lebte erst seit fünf Jahren auf dem Schloss. Warum war sie ausgerechnet jetzt krank geworden? Wenn sie doch schon alt gewesen wäre...
"Ich bitte dich auf Knien", flehte sie, die Geste verbal verwendend, doch zu schwach um sie wirklich auszuführen. "Mach schon!"
Er hatte sich entschieden. Es wäre noch grausamer, wenn er sie noch länger in diesem Zustand leiden lassen würde. Langsam neigte er sich vor, um ihr eine Chance zu lassen, es sich anders zu überlegen, doch sie nutzte diese nicht. Dann senkte er seine Zähne in ihren Hals.
Die schier endlose Kutschfahrt war wie eine zeitliche und räumliche Grenze gewesen. Vorher war die Neuzeit, nun erschienen Dinge wie Elektrizität oder Einkauszentren wie Zukuntfsmusik. Zumindest hier.
Die fünf Männer waren an ihrem ersten Ziel angelangt und sahen sich schweigend in dem mittelalterlichen Dorf um. Die Häuser bestanden aus Holz oder Stein, teilweise primitiv mit Stroh gedeckt. Auf den Dächern qualmten gleichgültig Schornsteine vor sich hin, welche die Luft mit einem leicht würzigen Duft erfüllten. Die unbefestigten Straßen im Dorf bestanden aus bloßer Erde, die den Witterungen ausgesetzt im Sommer staubig, im Winter glatt und in Frühling und Herbst matschig vor Regen wären. Im Augenblick befand sich ihr Zustand irgendwo zwischen matschig und staubig; man sank beim Gehen leicht ein, kam aber gur voran. Vor oder hinter einigen Häusern befanden sich eingezäunte Bereiche mit Scharrspuren in der Erde, doch die Tiere, die dafür verantwortlich waren, waren schon für die Nacht in ihre Ställe getrieben worden. Es wurde dunkel, Zeit für die Expeditionsgruppe, sich für die Nacht eine Bleibe zu suchen.
"Wir gehen in ein Gasthaus", schlug der Expeditionsleiter vor. "Dort werden wir hoffentlich mehr über unser eigentliches Ziel erfahren."
Er ging voraus und führte sie zielsicher zum gewünschten Gebäude. Wie er an die Information von diesem Dorf herangekommen war, von den anderen Sachen ganz zu schweigen, blieb allen Anwesenden ein Rätsel. Es gab nur wenige Wege durch das Gebirge, und die führten oft an gähnenden Abgründen entlang und trieben jedem Fahrer den blanken Schweiß auf die Stirn. Kaum ein Auto käme gefahrlos daran vorbei, niemand wagte eine solche Fahrt. Nur ein Kutscher hatte sich bereit erklärt, sie hierher zu bringen, zu einem unverschämt hohen Preis. Hoffentlich war die Expedition erfolgreich und diese Anstrengungen wert.
Das Gasthaus war klein und gemütlich, die Tische im ersten Raum hinter der Tür, an denen die Gäste für gewöhnlich ihre Mahlzeiten einnahmen, waren allesamt unbesetzt und sahen unbenutzt aus. Hier waren sie die einzigen Gäste.
Der Leiter wandte sich an einen älteren Mann, der soeben den Raum betreten hatte und sie überrascht ansah.
"Wir hätten gerne ein paar Zimmer."
Der Mann in schmutzigen Sachen und mit dem grau anlaufenden Bart fasste sich sogleich wieder. "Ah ja. Habt ihr Geld dabei?" Er blickte erwartungsvoll von einem zum anderen, doch nur der Expeditionsleiter reagierte, griff in seine Taschen und zog einige zerknitterte Scheine hervor. Die Männer hatten in der Kutsche übernachtet, weswegen die Scheine etwas gelitten hatten.
Der Mann griff danach und besah sie sich genau, drehte sie in den Händen. "Das ist bei uns nichts wert. Haben Sie was anderes?" Was anderes hatte niemand, und das wussten alle Expeditionsmitglieder. Wenn sie draußen übernachten mussten, hatten sie ein kleines Problem, und im Dorf gab es keine andere Unterkunft.
"Wir haben nichts anderes. Aber das Geld können Sie doch gewiss irgendwo umtauschen, oder?"
Der Mann wollte gerade zu einem Kopfschütteln ansetzen, da wippte eine Frau in einem sehr altmodischen Zimmermädchenkleid in den Raum. "Ah, Gäste", bemerkte sie erfreut. "Wie schön." Sie stutzte, als sie die angespannten Gesichter bemerkte. "Gibt es irgendwelche Probleme?"
Der Mann hob vielsagend die Hände mit den ausländischen Geldscheinen, um sie ihr zu zeigen. Sie griff sich einen und begutachtete ihn, genau so, wie der Mann es zuvor getan hatte. Dann beugte sie sich zu ihm herüber und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Nachdem sie den Schein zurückgelegt hatte, schenkte sie den Männern der Expeditionsgruppe ein Lächeln, bevor sie durch eine weitere Tür den Raum wieder verließ.
"Gut, ich mache für Sie eine Ausnahme", sagte der Mann. "Aber ganz billig wird das nicht."
Zusammen mit dem Mann zog sich der Leiter in eine hinterste Ecke des Raums zurück. Fernab von den anderen wurde dort über den Preis verhandelt.
"Was suchen wir hier eigentlich?", fragte einer der Männer.
"Das fragst du ständig", erwiderte ein anderer belustigt. "Schlechtes Gedächtnis, oder was?"
Der erste verzog genervt sein Gesicht. "Ich vergesse das halt ständig. Es war etwas ganz Uninteressantes."
"Wir suchen ein Vampirschloss hier in der Nähe", mischte sich Andy ein, bevor die beiden noch anfingen sich zu streiten.
"Das weiß ich doch!", blaffte der erste. "Was genau suchen wir? Was ist das Ziel unserer Expedition?"
Nun blickten alle erwartungsvoll Andy an. Sie erwarteten die Antwort von ihm, da er stets die Fragen beantwortete.
"Irgendetwas. Vampire wären alleine schon ein interessanter Fund, falls an dem was dran ist. In dem Schloss soll es auch Fässer einer unbekannten Weinsorte geben, und eine Bibliothek mit Büchern, die so alt sind, dass es außer den Exemplaren dort keine mehr gibt. Reicht das?"
Der vierte im Bunde war der einzige, der sich immer im Hintergrund hielt, nie Fragen stellte und nie an Gesprächen oder Streits teilnahm. Auch wenn das reichlich selten war, so war Andy im Stillen doch dankbar dafür. Er war diese Frage-Antwort-Spielchen schon lange leid.
"Und was haben wir für Waffen und Sicherheitsvorkehrungen, wenn wir einem Vampir begegnen?", fragte der erste, doch er erhielt keine Antwort, da in diesem Augenblick der Leiter wieder zu ihnen stieß.
"Hier sind die Zimmerschlüssel", sagte er und reichte jedem einen. "Wir bleiben nur eine Nacht und reisen morgen weiter. Wenn ihr an weitere Informationen über unser Ziel gelangen könnt, wäre das sehr hilfreich. Das war es für heute, meine Herren, wir treffen uns morgen nach Sonnenaufgang draußen. Einen schönen Abend noch."
Die Gruppe trennte sich vorläufig. Der Leiter folgte dem Mann, mit dem er soeben gesprochen hatte, durch eine Tür, durch die dieser gerade verschwunden war, vielleicht um ihn über die Vampire auszufragen. Der ruhige Mann aus der Gruppe ging sofort nach draußen und ließ die anderen drei ohne ein Wort dort stehen.
Andy befürchtete, wieder von den anderen beiden mit Fragen bombardiert zu werden und verkrümelte sich schleunigst in sein Zimmer. Es befand sich eine Treppe weiter oben, die Tür sowie der Schlüsselanhänger am zugehörigen Schlüssel trugen die Nummer zwölf. Andy erinnerte sich daran, dass es für gewöhnlich kein Zimmer mit der Nummer dreizehn gab, da diese Zahl angeblich Unglück brachte, das Zimmer zwölf war damit das letzte am Gang. Bei einer Flucht hätte er den weitesten Weg nach draußen, wenn er nicht aus dem Fenster springen wollte. Sollten sie des nachts überfallen werden... doch das war wohl sehr unwahrscheinlich.
Erschöpft von der Reise bis hierher und froh darüber, wieder in einem festen Bett zu schlafen, schlief Andy ohne Abendessen ein.
Der nächste Morgen war grau und trüb, als hätte sich die Nacht zwar geschlagen gegeben, wollte der Sonne aber trotzdem nicht das Feld überlassen.
Ein wenig war Andy enttäuscht, dass die Nacht ohne Zwischenfälle verlaufen war. Zu Beginn der Expedition hatte er noch erwartet, dass es so sein würde, wie in einem Film, den er gesehen hatte, mit Namen "Tanz der Vampire". Abergläubische Menschen hatte er erwartet, die ihnen schützende Amulette oder Kruzifixe zusteckten, Menschen, die hinter ihrem Rücken tuschelten, sie vor drohendem Unheil warnten und ihnen rieten, umzukehren. Er hatte Knoblauchzöpfe in den Räumen erwartet und Gerede von einem Grafen, er hatte erwartet, dass über Nacht jemand verschwunden war. Von Letzterem konnte er aber noch erfahren.
Nachdem er aufgestanden und sich gestreckt hatte, ging er nach unten, den Zimmerschlüssel trug er bei sich. Ob der Leiter mit dem Gastgeber auch über Frühstück verhandelt hatte, wusste er nicht, doch im Notfall besorgte er sich selbst etwas, denn sein Magen knurrte.
Unten im Raum war nur ein Tisch besetzt, von dem stillen Mann aus ihrer Gruppe, der an einem Teller Suppe löffelte. Als er Andy bemerkte, bat er ihm mit einer Handbewegung einen Platz an seinem Tisch an. Andy kam dieser Einladung gerne nach.
"Wo haben Sie das her?", fragte Andy mit einem Nicken zum Teller. Der andere zeigte nur mit dem Daumen kurz hinter sich, zu der Tür, durch die der Gastwirt und der Leiter gestern verschwunden waren. Andy nickte verstehend und stand wieder auf.
Dieser Mann gebrauchte niemals Worte für etwas, das er auch so sagen konnte. Man hätte denken können, er wäre stumm, doch Andy hatte ihn sprechen hören, als der Leiter sie einander vorstellte und jeder seinen Namen sagte, von denen Andy sich keinen einzigen gemerkt hatte.
Hinter der Tür begann ein kurzer Gang, geradeaus und rechts zweigte je eine weitere Tür ab. Die rechte war einen Spaltbreit offen, weit genug, dass die Essensgerüchte aus der Küche hinausziehen konnten. Dort bekam Andy ebenfalls einen Teller Suppe von der freundlichen Zimmerfrau, zusammen mit dem Hinweis, es nicht ihrem Chef zu verraten. Mit beidem kehrte Andy zurück und setzte sich wieder an den Tisch zu seinem wortkargen Gefährten, wo er seine Mahlzeit einnahm. Der Mann wurde früher als Andy fertig, schob den leeren Teller beiseite und legte die Beine hoch, auf die Tischplatte. Er stand nicht auf, sondern blieb, um Andy Gesellschaft beim Essen zu leisten. Doch da er nicht sprach, war er eine undurchsichtige Persönlichkeit und seine Beweggründe unbekannt.
Andy beschloss, die Initiative zu ergreifen. "Warum sagen Sie nie etwas?"
Der Angesprochene zuckte nur mit den Schultern. Wie zu erwarten gewesen war. Mit einer freundlichen Geste wies er auf Andys Teller und bedeutete ihm damit, weiter zu essen.
Schweigend folgte Andy dieser Aufforderung. Es hatte ja doch keinen Zweck, mit seinem Gegenüber ein Gespräch anfangen zu wollen.
Bereits als Andy den letzten Löffel Suppe zum Mund hob, stand der andere auf und schritt zur Tür, wo er sich umdrehte.
Andy betrachtete das als Aufforderung, ihm zu folgen und beeilte sich, seine Mahlzeit zu beenden. Den leeren Teller stehen lassend eilte er seinem Gefährten nach, der nun das Haus verließ. Draußen warteten bereits die anderen mit gelangweilten Gesichtern.
Der Leiter, der bis eben lässig an eine Hauswand gelehnt dagestanden hatte, kam auf die beiden Neuankömmlinge zu. "Na endlich kommt ihr auch." Und den beiden anderen machte er ein Zeichen. "Steht auf. Wir können los."
Mit einem Seufzer der Erleichterung erhoben sich die zwei. Damit war die Gruppe wieder versammelt.
"Wie geht es denn jetzt weiter?", fragte der eine, der immer etwas zu fragen hatte. Anfangs brachten die vier anderen ihm dafür noch vollstes Verständnis entgegen, am Anfang ihrer Reise. Mittlerweile wurde er jedoch immer öfter mit missbilligenden Blicken von allen Seiten bedacht.
"Das wollte ich gerade erklären", entgegnete der Leiter leicht genervt. "Also." Er holte tief Luft, bevor er seine Erklärung begann. "Entgegen der allgemeinen Vorstellungen waren die Leute hier sehr aufgeschlossen, was Fragen zum Thema Vampire betrifft. Der Wirt beispielsweise erzählte mir viele interessante Dinge. Hier gäbe es tatsächlich ein Schloss in der Nähe, auf welchem die Vampire hausen. Sie kontrollieren hier die ganze Gegend, verlangen Steuern von den Dorfbewohnern und lassen sie dafür in Ruhe. Wie viele Dörfer genau von den Vampiren beherrscht werden, konnte er nicht sagen, es müssen wohl mindestens ein Dutzend sein. Aber alle befinden sich in diesem Gebiet, das schwer zugänglich und somit von der Außenwelt fast völlig abgeschnitten ist. Das erklärt auch, warum hier alles so rückschrittlich aussieht.
Um das Schloss zu erreichen müssen wir etwa einen Tag und eine Nacht durch den Wald gehen, von hier aus immer Richtung Südwesten. Mir wurde aber davon abgeraten, dort hinzugehen, es wäre nicht sicher, dass sie uns wieder gehen lassen."
Na endlich, wenigstens der letzte Satz ließ noch an all die Legenden und Geschichten über Vampire erinnern, in denen diese als blutrünstige Monster dargestellt wurden, doch alles andere davor klang noch fremd und seltsam. Niemals zuvor hatte Andy gehört, dass Vampire Steuern verlangten, theoretisch brauchten sie diese auch nicht. Außer wenn damit eine "Blutsteuer" gemeint gewesen war. Dass die Dorfbewohner jedes Jahr eine Jungfrau opferten, beispielsweise.
"Gibt es noch irgendwelche Fragen?", fragte der Leiter in die Runde.
Alle Blicke wanderten erwartungsvoll zu dem einen, der für gewöhnlich immer welche hatte.
"Hey? Was guckt ihr so?" Er bemerkte, dass er in die Falle getappt war und wehrte hastig ab. "Nein, ich habe keine Fragen. Wir können weitergehen." Leicht beleidigt setzte er sich in Bewegung und folgte dem Leiter, der einen Kompass aus der Tasche gezogen hatte und nun vorausging. Die anderen folgten, wie sie es auf Fußmärschen stets getan hatten.
Sie betraten den angrenzenden Mischwald, der teilweise so dicht stand, dass das Licht den Waldboden nicht erreichte und das Dickicht dunkel blieb.
Nach einer Weile merkten sie, wie still es doch war, doch es waren nicht die Geräusche des Waldes die fehlten, sondern etwas anderes, das sie den ganzen Weg bis hierher begleitet hatte. Gespannt warteten alle darauf, dass es wieder auftauchte.
"Woher wissen wir überhaupt von dem Schloss?", fragte der eine.
Obwohl alle anderen früher oder später eine Frage von ihm erwartet hatten, so waren sie doch enttäuscht, dass die angenehme Stille nicht länger angehalten hatte.
"Uns wurde ein Tagebuch zukommen gelassen, das ausführlich über die Existenz eines solchen Schlosses berichtet", erklärte der Leiter im sachlichen Ton, während er weiterging und sich nicht die Mühe machte, sich beim Sprechen zu seiner Gruppe umzudrehen. "Dort war alles angegeben, ungefähre Richtung, Angaben über die Bewohner des Schlosses, sowie eine Beschreibung des Grundrisses. Genug, dass sich eine Entdeckungsreise dahin überhaupt lohnt."
Alle waren sich stumm einig, dass nun eine weitere stille Periode folgte, vor der nächsten Frage. Im nächsten Augenblick wussten sie jedoch, dass sie sich geirrt hatten.
"Wer schreibt denn so was in sein Tagebuch?"
Hätte er die Frage als Aussage formuliert wäre alles einfacher, doch es lag in seiner Natur, dass er sie als Frage formulierte. Eine Antwort war notwendig, um nicht beleidigend zu sein, um niemanden einen Grund zur Unzufriedenheit zu geben, und damit sich niemand im falschen Augenblick von der Gruppe abwandte.
"Das ist unwichtig", versuchte der Leiter auszuweichen, um seinen Informanten zu schützen.
"Warum denn unwichtig?", kam die nächste Frage. "Wenn ich es doch wissen will?"
Da Andy die Spannung spürte, die sich anbahnte und einen Streit witterte, mischte er sich ein.
"Das Tagebuch ist von einer Frau, die mehrmals auf dem Schloss war." Insgeheim hoffte er, dass der Wissensdurst des Fragestellers damit befriedigt wäre, doch er glaubte nur halbherzig daran.
"Eine Frau? Eine Vampirin oder was?"
Vermutlich hätte sich die ganze Sache abkürzen lassen, wenn Andy gleich deutlicher geantwortet hätte.
"Ja, meine Frau." Er wollte nicht mehr daran denken, und auch nicht mehr daran erinnert werden. Er trat an dem anderen vorbei und folgte dem Leiter, der schon einige Schritte voraus gegangen war.
"Wo ist sie denn jetzt?", fragte der andere hinterher, nicht bemerkend, dass er langsamer geworden war und die beiden hinter sich aufhielt.
Einzig der Stille, der sowieso stets als Letzter ging und von allen Geschehnissen unberührt blieb, beschwerte sich nicht. Selbst der Leiter war nun stehen geblieben, um einzugreifen. Andy ignorierte ihn und die ihn gestellte Frage und stapfte trotzig an ihm vorbei geradeaus.
Der Leiter wandte sich an den Fragesteller. "Sie ist tot."
Betretenes Schweigen machte sich breit und alle besaßen genug Taktgefühl, um die Sache auf sich beruhen zu lassen. Es wurden keine weiteren Fragen gestellt. Vorläufig.
Der Leiter warf ihnen noch einen finsteren Blick zu, der sie entgültig zum Schweigen bringen sollte und schickte sich an, Andy zu folgen, bevor dieser sie abhängte. Stumm setzte sich der Leiter wieder an die Spitze, um die Gruppe anzuführen.
Den Rest des Tages wanderten sie, wortlos und mit kleinen Pausen, bis zum Abend. Bei Einbruch der Dämmerung schlugen sie an einer geeigneten Stelle ihr Lager auf. Da komplette Zeltausrüstungen auf Dauer zu schwer zum Tragen wären, hatte jeder von ihnen ein großes Stück festen Stoff dabei, aus welchem sie, zusammen mit Ästen und Zweigen, einen Schutz für die Nacht bauten.
Für das Abendessen entfachte der Leiter ein kleines Lagerfeuer, über welchem er in einem Topf Bohnen kochte. Als sie ihre Mahlzeit begannen, war die Nacht bereits hereingebrochen, mit all ihren Geräuschen: Grillen zirpten, Eulen riefen und die Bäume knarrten. Andy meinte, dass er sogar einmal eine Fledermaus vorbeiflattern hörte. Letzteres fand er doch etwas beunruhigend, vor allem wenn man bedachte, was ihr Ziel war. Vermutlich hatte man dort schon erfahren, dass sich eine Reisegruppe näherte, und entschied in diesem Augenblick, ob man sie als Gäste oder als Nahrung empfangen wollte. Falls ersteres überhaupt zur Debatte stand. Das würden sie bald erfahren.
"Haben wir eigentlich irgendwas zur Verteidigung?"
Sie hatten schon darauf gewartet. Es musste ja kommen. Doch eigentlich hatten die anderen dasselbe fragen wollen.
"Wir haben", begann der Leiter mit einem Kopfnicken zu seiner Unterkunft, in der sein Rucksack stand, "etwas Knoblauch, eingeschweißt in Tüten, damit sie es nicht riechen, sowie ein paar Kruzifixe. Nur für den Notfall."
Der eine wollte in Panik verfallen. "Ist das alles? Keine Holzpflöcke oder Silberdolche oder so?"
Ungerührt erwiderte der Leiter: "Was wir haben, dient ausschließlich unserer Verteidigung. Wir wollen sie schließlich nicht töten, wir sind keine Vampirjäger."
Man sah dem Fragensteller an, dass er vor Angst schlotterte. Wenn er nun nicht mehr zum Schloss wollte, dann hatte er ein Problem, denn es war zu spät um umzukehren.
"Und wenn wir sterben?"
Der zweite, der den Tag über merkwürdig schweigsam gewesen war, fand in diesem Augenblick seine Sprache wieder. "Dann sind wir tot", scherzte er, mehr über die dumme Frage als über die Sache an sich.
Plötzlich fuhren alle erschrocken herum und starrten in das dunkle Dickicht, wo eben ein Zweig geknackt hatte. Einige Sekunden lang war nur das Zirpen der Grillen zu hören, während die gesamte Expeditionsgruppe den Atem anhielt und lauschte. Doch die Stille wurde nicht von dem Urheber des Knackens durchbrochen, sondern von einem Mann aus ihrer Gruppe, der aufstand und in der Dunkelheit außerhalb des Feuerscheins verschwand.
"Bleiben Sie hier", rief ihm der Leiter hinterher. "Wir sollten uns nicht trennen!"
Doch der andere antwortete nicht, wie er nie antwortete, wenn er es nicht für nötig hielt.
Niemand wagte es, ihm zu folgen.
Jeden Moment erwarteten sie einen Schrei oder etwas dergleichen, von ihrem Gefährten oder etwas anderem. Gespannt blickten sie auf die Stelle, wo sie ihn das letzte Mal gesehen hatten. Wieder stellten sie sich vor, sie wären in einem Horrorfilm, und entweder blieb ihr Kumpan spurlos verschwunden, oder sie suchten am nächsten Morgen die Gegend ab und fanden große Blutlachen inmitten von Kampspuren.
"Kommt er wieder?", fragte der eine ängstlich, aber niemand konnte ihm eine Antwort geben.
"Ich schlage vor, wir teilen Wachen für die Nacht ein", sagte ein anderer. "Nur zur Sicherheit."
Als der eine vergeblich auf eine Antwort gewartet hatte, erhob er sich mit steinernem Gesicht und verschwand in seiner Koje.
"Einen Gute-Nacht-Gruß kann er wohl nicht als Frage formulieren", spottete der andere mit gedämpfter Stimme und erntete dafür tadelnde Blicke von Andy und dem Leiter. "Ist doch so", verteidigte er sich, bevor er plötzlich wieder verstummte.
Sie vernahmen Schritte, die sich näherten, zaghafte und vorsichtige Schritte, als schleiche sich jemand an sie heran. Wieder versetzten sich alle geistig in einen Horrorfilm und erwarteten einen Vampir, mit rot glühenden Augen und Zähnen, die von dem Blut ihres wortkargen Gefährten trieften.
So atmeten die drei erleichtert auf, als ihr Mitstreiter wohlbehalten aus dem Unterholz trat und sich wieder zu ihnen an das Feuer gesellte.
"Haben Sie etwas entdeckt?", fragte der Leiter ihn und erhielt dafür ein wortloses Kopfschütteln.
Einige Minuten lang saßen sie schweigend beisammen, dann forderte der Leiter sie auf: "Gehen Sie schlafen. Morgen erreichen wir das Schloss, da ist es besser, wenn alle ausgeruht sind."
Andy war dankbar über den Vorschlag, denn er war müde und wollte die Aufregung vergessen, die sich bei ihm einschlich, wenn er daran dachte, dass sie womöglich morgen um diese Zeit schon tot sein konnten. Wenn sie Pech hatten noch schlimmer.
Doch alle fünf wären jetzt nicht hier, wenn sie viel zu verlieren hätten, und Andys Leben war nach dem Tod seiner schwangeren Frau steil bergab gegangen. Genaugenommen war sie eines nachts verschwunden, das Schlafzimmerfenster hatte offen gestanden.
Seitdem hatte er sie nicht mehr gesehen, seit fünf Jahren, ihr Körper wurde nie gefunden. Natürlich bestand noch eine kleine Chance, dass sie lebte, doch Andy glaubte nicht daran und hatte sich mit ihrem Tod abgefunden.
Doch nicht sofort.
An dem Morgen, als er das Bett neben sich leer vorgefunden hatte, war er in Panik nach draußen gerannt, um sie zu suchen. Im Schlafanzug war er durch die Stadt gelaufen und hatte wie von Sinnen nach ihr gerufen, aber das führte nur dazu, dass er für einige Tage in eine Anstalt gesteckt wurde, bis er sich beruhigte und sich die Sache aufklärte. Als er wieder entlassen wurde, hatte er längst seinen Job und seinen Lebenswillen verloren.
Einige Tage danach schloss er sich zu Hause ein, aß nichts, trank nichts, schlief nicht. Er hatte die Zeit in der leeren Badewanne sitzend verbracht, eine Rasierklinge über sein linkes Handgelenk haltend. Etwas hatte ihn davon abgehalten, Feigheit oder noch ein letzter Funke seines Lebenswillens, tat nichts zur Sache. Doch er hatte gezögert, bis eine Sozialarbeiterin an seiner Haustür klingelte, die von der Anstalt geschickt worden war, um nach ihm zu sehen.
Von da an wurde alles wieder besser für ihn. Mit der Zeit wurden sie Freunde, mehr noch als das, sie wurden ein Paar. Sie half ihm dabei, über Lydia hinwegzukommen, und überredete ihn, sich von allem zu trennen, das ihn an sie erinnerte, sowie ihren Tod zu akzeptieren.
Beim Durchsuchen von Lydias Sachen fand er auch ein altes Tagebuch von ihr, das ihn zutiefst schockierte. Sie hatte nie viel von ihrer Vergangenheit erzählt, und an dem Tag hielt er den Grund dafür in den Händen. Das Tagebuch las sich wie eine Horrorgeschichte, die von Vampirclans und viel Blut und Tränen handelte.
Andy hatte vieles von Lydia in den Müll geworfen, nur das Tagebuch behielt er und schloss es vorläufig weg.
Währenddessen wurde sein Verhältnis zu der Sozialarbeiterin, die Isabell hieß, immer besser, schließlich heirateten sie.
Nun hatte er wieder was zu verlieren, doch das hatte ihn nicht davon abgehalten, irgendwann Lydias Tagebuch wieder hervorzuholen und dem Leiter zu überreichen, der bereits viele Expeditionen erfolgreich geleitet hatte und auf der Suche nach einer neuen Herausforderung gewesen war.
Isabell war nicht glücklich darüber gewesen als sie erfuhr, dass Andy sie und ihre zweijährige Tochter alleine lassen und vielleicht sogar nie wieder sehen würde, doch er wollte das Geheimnis unbedingt lüften und hatte beschlossen, die Expedition zu begleiten.
Wenn sie etwas erführen, wollte er es gleich erfahren, aber nun machten sich Zweifel in ihm breit, was ihre Überlebenschancen betraf. Sollte er umkommen und seine neue Familie endgültig verlassen, könnte er sich das nie verzeihen, da er selbst wusste, wie schlimm der Verlust eines geliebten Menschen war.
Diese Gedanken quälten ihn so lange, bis er endlich einschlief.
Im Traum sah er seine Tochter inmitten von Schwärze, die kalt und nass wie Wasser war. Das Mädchen lief über einen Steg und war auf einmal erwachsen, eine zweite Person begleitete sie. Dann huschte ein Schatten über sie hinweg, der von einer geflügelten Kreatur stammte, und plötzlich waren sie in einer großen Halle wie in einem Einkaufszentrum, mit weißen, sterilen Wänden. Die Halle war an einer Seite offen und ein Steg führte dort in die Schwärze hinaus. Der Begleiter seiner Tochter war plötzlich nicht mehr da, doch Andy erkannte, dass er es selbst war. Jessica und er sahen auf dem weißen Boden plötzlich einen grausam zerfleischten Toten in einer Blutlache liegen, und in ihm machte sich der Gedanke breit, dass der Schatten von vorhin dafür verantwortlich war.
Dann drehten sie sich um und sahen auf dem Steg eine bewusstlose Gestalt liegen, Jessica ging zu ihr hinüber, doch der Traum verblasste plötzlich, die Schwärze dehnte sich aus, wurde heller und verwandelte sich in das Blutrot, das Andy durch seine geschlossenen Augenlider sah.
Es waren das Klappern von Tellern und das Rascheln von Tüten draußen, die ihn geweckt hatten.
Er streckte sich ausgiebig und verließ dann sein Nachtlager. Die vier anderen waren bereits wach und begrüßten ihn freundlich, konnten jedoch ihre bedrückte Stimmung nicht verbergen, die davon herrührte, dass dies vielleicht ihr letzter Morgen sein konnte.
Nach einem mageren Frühstück, das aus Zwieback und Sauerkraut bestand, welches Andy nur mühsam hinunter bekam, da es ihm nicht besonders schmeckte, packten sie ihre Sachen zusammen und wanderten weiter.
Als die Sonne gegen Mittag höher stieg, brach sie vereinzelt von oben durch die Bäume und zauberte helle Flecken auf den Waldboden. Irgendwann wurde es auch vor ihnen heller, wo der Wald zu Ende war. Sie traten heraus und blieben stehen, ergriffen von dem bedeutenden Augenblick.
Vor ihnen war das Ziel, und sie nahmen sich einige Minuten, um sich von dem Anblick verzaubern und einschüchtern zu lassen.
Das Schloss war so majestätisch, dass es ihnen den Atem nahm, auch wenn sie alle dessen Beschreibung schon gelesen hatten.
Seine schwarzen Mauern ragten erhaben vor ihnen auf. Es lag auf einem Felsvorsprung, der genau mit den schwarzen Außenwänden abschloss, und war nur über einen schmalen, steinernen Weg mit dem festen Land verbunden. Außenherum war nichts als der schwarze Abgrund, der so tief war, dass das Sonnenlicht nie bis auf den Grund reichte.
Automatisch erinnerte er Andy an seinen Traum von letzter Nacht, der auch von Schwärze erfüllt gewesen war.
Ihr weiterer Weg führte nun über den Abgrund, denn um das Schloss zu erreichen, mussten sie den Felsweg benutzen. Dieser Gedanke behagte ihnen überhaupt nicht.
"Leute, entschuldigt, dass ich frage, aber was wollten wir noch mal da?"
Alle Augen wanderten zu ihm, beinahe dankbar, dass er ihnen den Grund ihrer Reise nahm. Beinahe.
"Kommt jetzt", erwiderte der Leiter und ging voraus.
Um den Felsweg zu erreichen, mussten sie einige Minuten am Rande des Abgrundes entlang wandern. Dabei hatten sie das Gefühl, sie würden von der Schwärze aufgesaugt, und fürchteten die Stille, die von dieser ausging.
Dann erreichten sie den schmalen Pfad. Er wirkte recht stabil, trotzdem behagte niemandem der Gedanke, ihm ihr Leben anzuvertrauen.
Wieder ging der Leiter vor, die anderen folgten ihm. Nirgendwo bestand ernsthaft die Gefahr, dass jemand daneben trat und abrutschte, trotzdem hielten sich alle krampfhaft in der Mitte.
Einzig der Leiter blieb einigermaßen locker. Vermutlich hatte er schon ähnlich gefährliche Situationen überstanden, in anderen Expeditionen.
Das Schloss vor ihnen kam immer näher, und in ihnen keimte bereits die Ahnung auf, dass sie das große Holztor niemals aufbekommen würden, doch dann sahen sie, dass in dieses noch eine kleinere Tür eingelassen war.
Nach einem kurzen Zögern, in welchem die letzten Zeit hatten, aufzurücken und sich vor der Tür zu versammeln, griff der Leiter nach der Klinke.
Die Tür war nicht verschlossen.
Drinnen war es dunkel, also holten sie Taschenlampen aus ihren Rucksäcken und knipsten sie an, bevor sie die Tür hinter sich zufallen ließen.
Der Leiter führte sie vorwärts, denn er hatte sich genügend mit den Aufzeichnungen beschäftigt, um den Weg zu kennen, und das Schloss war allgemein recht übersichtlich. Der Gang geradeaus, dem sie folgten, endete schließlich vor einer weiteren Tür. Dahinter befand sich die gigantische Halle, die von allen sehnsüchtig erwartet wurde, welche die Beschreibung gelesen hatten. Sie war so unvorstellbar groß, dass es unmöglich war, die Entfernung bis zur nächsten Wand genau zu schätzen, denn ohne Bezugspunkte sah es weniger aus.
Die gesamte Längsseite gegenüber wurde von einer erhöhten Fläche eingenommen, von der Bühne, auf der Lydia aufgeregt gestanden hatte, als sie als neuer Vampir vorgestellt wurde, vor den vielen versammelten Clans, die es damals noch gegeben hatte.
Von den Vampiren war jetzt jedoch keine Spur zu sehen. Das mochte daran liegen, dass es Tag war.
"Seht nur", rief plötzlich einer von ihnen und die anderen blickten in die Richtung, in die er wies.
Rechts von ihnen, so nah an der Wand, dass sie ihn erst nicht bemerkt hatten, stand ein kleiner Junge, der sie mit großen Augen ansah.
Andy erschrak. Der Kleine war ihm wie aus dem Gesicht geschnitten. Das konnte kein Zufall sein, und er erinnerte sich an den Namen, dem Lydia ihrem Kind geben wollte, wenn es ein Junge wurde.
Andy trat einen Schritt auf ihn zu. "Kay?"
Der Kleine zuckte zusammen, als er seinen Namen hörte. Erkennen blitzte in seinen Augen auf.
"Papa?"
Ohne ein weiteres Wort ging Andy vor ihm in die Hocke und umarmte ihn herzlich.
Wie vom Donner gerührt starrten die anderen Vater und Sohn an, konnten nicht fassen, was sie sahen.
"Ich dachte, du wärst auch... Du warst damals noch nicht geboren, weißt du?"
Der Junge nickte. Sein Gesicht blieb reglos, er zeigte keine Gefühle.
Andy erhob sich wieder und drehte sich zu ihnen um. "Lasst uns nach Hause gehen." In seinen Augen schimmerten Tränen.
"Ist gut", sagte der Leiter und verschwand wieder durch die Tür, durch die sie gekommen waren.
"Aber was ist mit den Schätzen?", fragte der Übliche.
"Hier gibt es keine Schätze." Der Junge sah ihm fest in die Augen, was überhaupt nicht zu einem Kind seines Alters passte. Der andere Mann wandte sich ihm zu.
"Was ist mit der Bibliothek mit den uralten Büchern? Und dem Weinkeller?" Der Blick des Jungen wurde etwas weicher, und sofort meinten die anderen, sie hätten sich die Härte nur eingebildet.
"Die Bibliothek ist so versteckt, dass noch niemand sie gefunden hat. Ich weiß nicht, wo sie ist. Und an dem Wein ist nichts besonderes, den gibt's doch hier überall." Er setzte einen beschämten Blick auf, als er fortfuhr und starrte auf seine Füße. "Sie, sie lassen mich gehen. Ich soll euch sagen, dass sie euch in den Kerker sperren, wenn ihr anfangt, das Schloss zu durchsuchen."
Der Fragesteller begann sichtbar zu schlottern. "Aber es gibt doch keine Vampire? Verdammt, können wir nicht einfach wieder nach Hause?" Er bemerkte, dass der Leiter die Halle bereits verlassen hatte und lief ihm nach. Der Stille folgte ihnen.
Andy wandte sich seinem wiedergefundenen Sohn zu.
"Wir gehen auch, Kay. Komm mit."
Der Kleine griff nach der ihm gereichten Hand und erwiderte das Lächeln, dass er im Gesicht seines Vaters sah. "Okay, Papa."
Sie verließen das Schloss und begaben sich auf die lange Reise zurück nach Hause.
Jina, die ihnen unsichtbar hinterher sah, wischte sich eine blutige Träne aus dem Augenwinkel. Lord Vemzor legte von hinten seine Arme um sie und drückte ihr einen Kuss auf den Hals, wo die Bisswunden langsam verblassten.
"Warum hast du ihn nur gehen lassen?", schluchzte sie verletzt, in dem Bewusstsein, dass sie niemals eigene Kinder haben würde und nie wieder eines so sehr lieben würde wie Kay.
"Der Mann dort war sein Vater", antwortete er, was Argument genug war. Es war für den Menschenjungen besser, wenn er unter Menschen lebte. Ein Leben in Abgeschiedenheit unter Vampiren war nichts für seinesgleichen.
"Ich werde ihn vermissen", seufzte Jina und wusste, dass sie selbst es war, die sich für dieses Leben entschieden hatte.
(geschrieben: 10.1.2007 - 18.1.2007)