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Weiße Weihnacht

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21.11.2005
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Weiße Weihnacht

Mißmutig starrte Holger ein paar Minuten lang in den grauen Himmel. Es war kalt, aber noch nicht kalt genug. Weihnachten würde wohl kein Schnee liegen, bestenfalls konnte man mit Regen und Glatteis rechnen.
Er trug ein paar weitere Pakete in den Lieferwagen. Seine gelb-rote Uniform wies ihn als Paketboten aus, und ein heimlicher Beobachter hätte sich vielleicht gefragt, warum er Pakete aus seiner Wohnung holte, statt sie am Verteilzentrum einzuladen und zu ihren rechtmäßigen Empfängern zu bringen. Letzteres würde er heute nachholen, nachdem er sich die Pakete für ein paar Tage ausgeliehen hatte. Er wußte nicht, gegen wie viele Vorschriften er verstoßen hatte; ganz sicher jedoch konnte ihn dieses Verhalten den Job kosten. Den Job, den er so haßte.
Er setzte sich hinter das Steuer und machte sich auf den Weg. Gleich bei der ersten Adresse konnte er eindeutige Geräusche hinter der Wohnungstür hören. Er klingelte ungeduldig. Für einen Moment verstummte das entfernte Keuchen und Stöhnen, dann setzte es wieder ein. Normalerweise hätte er sich das nicht angetan, sondern einfach eine Benachrichtigungskarte hinterlassen. Aber nicht dieses Mal. Es war schließlich der Tag vor Heiligabend. Er klingelte erneut und wartete. Endlich wurde die Tür geöffnet.
Der junge Mann schien verlegen zu sein, als wäre ihm peinlich, so viel Glück zu haben, und als würde er wissen, daß sein Gegenüber nicht so gut dran war - als wüßte er von Ellen und ihrem neuen Freund. Holger beäugte ihn mißtrauisch, während der Mann den Empfang quittierte, dann schüttelte er leicht den Kopf. Ellen und dieser Richard waren Vergangenheit. Morgen waren sie auf den Tag genau ein Jahr tot. Das schrie geradezu nach einer Feier.
„Danke. Und fröhliche Weihnachten!“, sagte der Typ, als er das Paket entgegennahm. Holger grinste ihn nur wortlos an, bis der Mann mit einem unbehaglichen Blick die Tür schloß.
Fröhlich pfeifend ging Holger zum Fahrzeug zurück. Der Empfänger hatte also eine Freundin. Seine Arbeit war nicht umsonst gewesen. Es hatte Stunden gedauert, das Paket zu öffnen, das Geschenkpapier vom Karton im Innern zu entfernen und die Playstation, ein Geschenk von einem gewissen Frank, so umzubauen, daß nur im Zweispielermodus ein tödlicher Stromstoß durch die Handsteuerung jagte.
Ein paar Straßen weiter lieferte er äußerst vorsichtig einen mit mehreren Nitroglyzerinampullen gefüllten Teddybären. Schmunzelnd winkte er zum Abschied dem kleinen Mädchen, das die junge Mutter auf dem Arm trug.
Das nächste Paket mußte er bei Nachbarn abgeben, da er die Familie, an die es adressiert war, nicht zuhause antraf. Holger hoffte, daß die Kekse, von irgendeinem Verwandten offenbar selbst gebacken, ihr Ziel erreichten. Schließlich hatte er in seiner Wohnung mit viel Liebe zum Detail den Puderzucker auf dem Gebäck durch Heroin ersetzt. Er hatte es mit Rattengift strecken müssen, da es sonst nicht für alle Kekse gereicht hätte.
Gegen Mittag wurde es immer leerer in seinem Wagen. Er schleppte einen Hometrainer in den dritten Stock empor und übergab ihn einer übergewichtigen Dame, die mit Sicherheit genug Druck auf den Sattel ausüben würde, um den rostigen, mit Widerhaken versehenen Pfeil einer Harpune auszulösen, der sich nun in der senkrechten Röhre des Gestells verbarg und sich tief in ihren massigen Unterleib bohren würde.
Die letzte Station war eine ältere Dame mit verhärmten Gesicht, die wortlos unterschrieb. Mit einem Lächeln reichte Holger ihr den Karton mit dem Parfum.
„Frohe Weihnachten“, wünschte er Ellens Mutter und fragte sich kurz, ob sie zu der Hälfte der Menschheit gehörte, die den starken Bittermandelgeruch der Flüssigkeit wahrnehmen konnte, wenn sie auf den Zerstäuber drückte. Die alte Frau nickte nur und zog sich in ihre Wohnung zurück.
Holger war zufrieden. Er hatte alle Geschenke rechtzeitig vor dem Fest zugestellt. Sein Atem dampfte in der Luft. Die Kälte kroch in die Stadt. Vielleicht gab es doch noch Schnee.

 
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Dieses kleine Machwerk kam mir letztes Jahr zwischen Weihnachten und Neujahr in den Sinn. Leider war da die entsprechende vorweihnachtliche Stimmung, die ich mir zunutze machen wollte, schon vorbei, und so nahm ich mir vor, diese Mini-Story dieses Jahr in Angriff zu nehmen. Beinahe hätte ich es wieder verschlafen. :D
Ich weiß, das Thema ist nicht sehr originell, nachdem ein gewisser Spike schon als Milchmann von einem wesentlich begabteren Autor auf die Reise geschickt worden ist. Aber was soll´s. Fröhliche Weihnachten! :)

 

Hallo van Dorf,

war eine ältere Dame mit verhärmten Gesicht

verhärmtem. Was heißt das :confused: ?

Weitestgehend fehlerfrei und Stil o.k., dafür Pluspunkte. So richtig kann ich's natürlich nicht beurteilen, ich hab die Story ja nur überflogen, weil im Ernst ...

Die einzige Kreativität, die hier drin steckt, sind die Mordmethoden, die ich so lala finde. Für dich spricht natürlich, dass die Geschichte gar nicht versucht, mehr als ein kleiner Zwischendurchgucker zu sein, sie ist kurz und dass der Inhalt geklaut ist, hast du ja selbst bereits im Vorfeld zugegeben.

Grundsätzlich bin ich ja ein großer Freund des geschickten Klauens, aber dass hier finde ich ... auf einer Skala von 1 bis 10, wobei 1 "schlecht geklaut" und zehn "gut geklaut" ist, würde ich dieser Geschichte eine 5 geben, aufgrund des recht ordentlichen Stils eher zur 6 als zur 4 tendierend.

Viele Grüße

Jan-Christoph

 

Proof schrieb:
verhärmtem. Was heißt das :confused: ?

Tut mir leid, ich bin alt. :D

Verhärmt leitet sich von dem aus der Mode kommenden (oder bereits gekommenen) Wort Harm ab, welches im Englischen noch gebräuchlich ist und mit Leid bzw. Schaden übersetzt werden kann. Verhärmt = von Leid gezeichnet. Harm wird uns wohl in Form des Wortes harmlos noch ein wenig länger erhalten bleiben. *dozier* :schiel:

Im übrigen vielen Dank für Deine Kritik - in Anbetracht der Umstände fühle ich mich tatsächlich fast geschmeichelt. :D

 

Hallo!

Ja, die Kurzgeschichte "Morgenlieferungen" ist mir auch gleich in den Sinn gekommen. Aber das hast du ja schon erwähnt.

Finde sie dann allerdings auch dann nicht so gut wie die Vorlage. Du lieferst einen fadenscheinigen Grund für seine Morde (Frau mit nem anderen weg; ich vermute mal, dass er sie dann abgemurkst hat; scheiß Job). Dann lieber gar keinen.

Trotzdem durchaus ganz amüsant. ;)

Beste Grüße

Nothlia

 

Hallo van Dorf,
da ich die Vorlage mit dem Milchmann nicht kenne, stört es mich nicht, dass du dir die Idee da "geliehen" hast.
Deine Geschichte ist ein schön makabrer Happen für Zwischendurch und hat mir insgesamt gut gefallen. Der Stil ist auch recht ordentlich und verleiht der Geschichte in seiner Alltäglichkeit zusätzlich etwas mehr Glaubwürdigkeit.
Die Mordmethoden fand ich... jetzt hätte ich fast schön geschrieben :D ... passend: Grausam und dennoch im Rahmen des Machbaren und Vorstellbaren.


Gruß,
Abdul

 

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