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Weiße Weihnacht
Mißmutig starrte Holger ein paar Minuten lang in den grauen Himmel. Es war kalt, aber noch nicht kalt genug. Weihnachten würde wohl kein Schnee liegen, bestenfalls konnte man mit Regen und Glatteis rechnen.
Er trug ein paar weitere Pakete in den Lieferwagen. Seine gelb-rote Uniform wies ihn als Paketboten aus, und ein heimlicher Beobachter hätte sich vielleicht gefragt, warum er Pakete aus seiner Wohnung holte, statt sie am Verteilzentrum einzuladen und zu ihren rechtmäßigen Empfängern zu bringen. Letzteres würde er heute nachholen, nachdem er sich die Pakete für ein paar Tage ausgeliehen hatte. Er wußte nicht, gegen wie viele Vorschriften er verstoßen hatte; ganz sicher jedoch konnte ihn dieses Verhalten den Job kosten. Den Job, den er so haßte.
Er setzte sich hinter das Steuer und machte sich auf den Weg. Gleich bei der ersten Adresse konnte er eindeutige Geräusche hinter der Wohnungstür hören. Er klingelte ungeduldig. Für einen Moment verstummte das entfernte Keuchen und Stöhnen, dann setzte es wieder ein. Normalerweise hätte er sich das nicht angetan, sondern einfach eine Benachrichtigungskarte hinterlassen. Aber nicht dieses Mal. Es war schließlich der Tag vor Heiligabend. Er klingelte erneut und wartete. Endlich wurde die Tür geöffnet.
Der junge Mann schien verlegen zu sein, als wäre ihm peinlich, so viel Glück zu haben, und als würde er wissen, daß sein Gegenüber nicht so gut dran war - als wüßte er von Ellen und ihrem neuen Freund. Holger beäugte ihn mißtrauisch, während der Mann den Empfang quittierte, dann schüttelte er leicht den Kopf. Ellen und dieser Richard waren Vergangenheit. Morgen waren sie auf den Tag genau ein Jahr tot. Das schrie geradezu nach einer Feier.
„Danke. Und fröhliche Weihnachten!“, sagte der Typ, als er das Paket entgegennahm. Holger grinste ihn nur wortlos an, bis der Mann mit einem unbehaglichen Blick die Tür schloß.
Fröhlich pfeifend ging Holger zum Fahrzeug zurück. Der Empfänger hatte also eine Freundin. Seine Arbeit war nicht umsonst gewesen. Es hatte Stunden gedauert, das Paket zu öffnen, das Geschenkpapier vom Karton im Innern zu entfernen und die Playstation, ein Geschenk von einem gewissen Frank, so umzubauen, daß nur im Zweispielermodus ein tödlicher Stromstoß durch die Handsteuerung jagte.
Ein paar Straßen weiter lieferte er äußerst vorsichtig einen mit mehreren Nitroglyzerinampullen gefüllten Teddybären. Schmunzelnd winkte er zum Abschied dem kleinen Mädchen, das die junge Mutter auf dem Arm trug.
Das nächste Paket mußte er bei Nachbarn abgeben, da er die Familie, an die es adressiert war, nicht zuhause antraf. Holger hoffte, daß die Kekse, von irgendeinem Verwandten offenbar selbst gebacken, ihr Ziel erreichten. Schließlich hatte er in seiner Wohnung mit viel Liebe zum Detail den Puderzucker auf dem Gebäck durch Heroin ersetzt. Er hatte es mit Rattengift strecken müssen, da es sonst nicht für alle Kekse gereicht hätte.
Gegen Mittag wurde es immer leerer in seinem Wagen. Er schleppte einen Hometrainer in den dritten Stock empor und übergab ihn einer übergewichtigen Dame, die mit Sicherheit genug Druck auf den Sattel ausüben würde, um den rostigen, mit Widerhaken versehenen Pfeil einer Harpune auszulösen, der sich nun in der senkrechten Röhre des Gestells verbarg und sich tief in ihren massigen Unterleib bohren würde.
Die letzte Station war eine ältere Dame mit verhärmten Gesicht, die wortlos unterschrieb. Mit einem Lächeln reichte Holger ihr den Karton mit dem Parfum.
„Frohe Weihnachten“, wünschte er Ellens Mutter und fragte sich kurz, ob sie zu der Hälfte der Menschheit gehörte, die den starken Bittermandelgeruch der Flüssigkeit wahrnehmen konnte, wenn sie auf den Zerstäuber drückte. Die alte Frau nickte nur und zog sich in ihre Wohnung zurück.
Holger war zufrieden. Er hatte alle Geschenke rechtzeitig vor dem Fest zugestellt. Sein Atem dampfte in der Luft. Die Kälte kroch in die Stadt. Vielleicht gab es doch noch Schnee.