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Weihnachten und Drogen

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30.06.2004
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Weihnachten und Drogen

Die Innenstadt war festlich geschmückt. Zwischen den Häusern hingen Girlanden, über die Straßen waren weiße und bunte Lichterketten gespannt und ein Geruch von Zimt, Spekulatius und Tannenharz lag in der Luft. Auf dem Marktplatz standen eine Menge Buden, deren Besitzer Bratäpfel, Mandeln und Plätzchen zum Verkauf anboten. An der Post war ein kleines Stück des Parkplatzes eingezäunt worden. Dort stand ein Mann, der Tannenbäume verkaufte. Sein Ruf schallte über den halben Marktplatz: „Tannenbäume, wunderschöne Tannenbäume zu verkaufen!“ Zwei Mädchen spielten Weihnachtslieder auf einer Flöte und ein kleiner Junge sang dazu. Die Geschäfte quollen über vor Menschen, die noch die letzten zwei Tage bis Weihnachten für den Geschenkeeinkauf nutzten. Der Schnee, der eine Nacht zuvor reichlich gefallen war, hat sich hier schon in einen grauen, dreckigen Matsch verwandelt, der allen um die Beine spritzte. Vor „Kaufhof“ stieg ich aus der Straßenbahn. Ich zog mir meine Mütze auf, zog den Schal enger um meinen Hals und sah in die Richtung des großen Einkaufszentrums.

Dort standen, eng zusammengerückt, um sich ein wenig vor der Kälte zu schützen, acht Jugendliche. Fünf Jungen und drei Mädchen. Vier von ihnen rauchten, zwei teilten sich eine Flasche Wodka. Das rothaarige Mädchen mit den Sommersprossen, dem grünen Rock und der kaputten Strumpfhose zog an einem Joint. Sie gab sich nicht mal Mühe, ihn vor den reichlich umherstreifenden Polizisten zu verstecken. Es war ihr egal. Dachte ich.

Drei der Jugendlichen kannte ich. Oder zumindest deren Eltern. Der schwarzhaarige Große war Mattis. Er hatte recht betuchte Eltern. Der Vater war Chirurg, die Mutter Designerin.
Sein bester Freund, Christoph, kam aus ähnlichem Hause. Allerdings hatte er geschiedene Eltern und noch zwei Geschwister. Mit seinem Stiefvater kam er ganz gut zurecht, nur war dieser vor kurzer Zeit zu Hause ausgezogen. Der Haussegen hing schief. Ob er wohl deshalb wieder hier war und sich die Birne voll knallte? Die letzte war Antalya, eine halbe Griechin. Ihre Mutter war etwas vor eineinhalb Jahren gestorben und weder mit ihrem leiblichen noch mit ihrem Adoptivvater kam sie zurecht. Geschwister hatte sie nicht. Die letzte Zeit hatte ich sie auf die Bitte ihres Adoptivvaters in einem Heim einquartiert, doch von der Leiterin dort hörte ich nur schlechtes über sie. Hielt sich nicht an Regeln, haute andauernd ab und prügelte sich mit Älteren wegen Nichtigkeiten.

Die restlichen fünf waren mir gänzlich unbekannt. Nur das kleine schwarze Mädchen glaube ich schon einmal bei mir in der Beratungsstelle gesehen zu haben. Mit Bestimmtheit konnte ich es allerdings nicht sagen. Sie war recht klein, vielleicht 14 oder 15. Sie war dünner als die anderen aus der Gruppe und trug auch als einzige eine dicke, gefütterte Jacke.

Ich setzte mich in ein Café in die Nähe des „Kaufhof“. Ich hing meinen durchnässten Mantel an einen Haken nahe der Heizung und besetzte einen Tisch, der mit einem Weihnachtsmann aus Ton und einem Barbarazweig dekoriert war. „Oh du fröhliche“ dudelte aus der Musikbox, die in einer Ecke stand. Jeder Tisch war besetzt und die Bedienungen hetzten durch den Laden. Aber Hauptsache es war warm hier und ich konnte die Jugendlichen gut beobachten. Das ging recht gut, trotz der Menschenmengen auf dem Platz.
Mattis und Christoph unterhielten sich angeregt. Den Beiden ging es blendend. Vermutlich hatten sie sich wieder irgendetwas reingeschmissen. Oder geraucht. Aber wer wusste das schon so genau?
Antalya stand eng mit dem schwarzen Mädchen zusammen. Sie teilten sich die Flasche Wodka. Von Antalya wusste ich, dass sie alkoholabhängig war. Und das mit ihren gerade mal 15 Jahren. Aber was hatte das schwarze Mädchen wohl? Ich wusste an sich, mit wem Mattis, Christoph und Antalya abhingen. Wo waren sie hin? Robert, Hannes, Janine, Hella? Hatte sich die Gruppe etwa aufgelöst? „Guten Tag. Was möchten Sie denn bestellen?“ Erschrocken wandte ich meine Augen von den Jugendlichen ab und blickte einer Kellnerin an. Sie trug ein schwarzes Kostüm mit roter Schürze, auf der ein Schneemann abgebildet war. Auch ihre Kopfbedeckung war schwarz. Sie zückte ihren Stift und den Block, um sich meine Wünsche zu notieren. Ich bestellte ein Stück Apfelkuchen und einen heißen Kakao. Mit schwingenden Schritten entfernte sie sich wieder, nicht, ohne mir vorher noch einen anerkennenden Blick zuzuwerfen. Ich sah für meine 42 Jahre noch recht jung aus. Alle, die mich das erste Mal sahen und mein Alter nicht kannten, schätzten mich auf Mitte 30 und jünger.
Zu meinem Erstaunen kam der Kakao recht schnell, sodass mich meine kalten Finger nicht länger ablenkten vom Beobachten meiner Schützlinge.

Antalya und die Schwarze hatten inzwischen die Flasche geleert. Mattis und Christoph hatten sich auf eine nahe Bank gesetzt. Christoph rauchte schon wieder. Doch er hielt den Stängel geschickt in seiner hohlen Hand. Nun, wenn man in der Öffentlichkeit paffte, musste man schon ein wenig geschickt sein, um nicht entdeckt zu werden. Weder von Bekannten noch von Beamten, die einen mit aufs Revier nehmen konnten. Die Rothaarige war verschwunden, mit ihr die anderen Unbekannten.

Mein Apfelkuchen kam. Es war diesmal eine andere Kellnerin, ein hübsches schüchternes Mädchen mit langen blonden Haaren und schlanker Figur. Sie balancierte geschickt das Tablett und stellte mir noch einen weiteren Kakao hin. Ich wollte ihn zurückgeben, da ich ihn nicht bestellt hatte, doch sie winkte ab. „Von Regina“, erklärte sie und deutete auf die andere Kellnerin, die an der Theke bediente. Es war das Mädchen, das zuerst zu mir gekommen war. „Ah, danke“, sagte ich und hob die Tasse in ihre Richtung. Sie nickte lächelnd und wandte sich wieder den Gästen zu.

Auch bei den Jugendlichen hatte sich nicht viel getan. Nur das Antalya und die Schwarze verschwunden waren. Nur noch Mattis und Christoph hockten auf der Bank mitten im Gewühl. Wann sie wohl nach Hause gingen? Ob einer der Beiden überhaupt noch zu Hause wohnte? Ich hatte schon lange nichts mehr von den Familien gehört. Mattis war 18, Christoph vor ein paar Wochen gerade 20 geworden. Mattis hatte seinen Ausbildungsplatz geschmissen, da er mit seinem Chef nicht klargekommen war und Christoph ging noch zur Schule. Mattis Freundin, Lena, hatte ich auch kurz kennen gelernt. Sie war ein nettes, recht ruhiges Mädchen, das weder rauchte noch trank. Elena, Mattis Mutter, hatte sie einmal zur Beratung mitgebracht.

Christoph war eigentlich recht gut in der Schule. Er wollte später mal studieren und mit Mattis zusammen eine eigene Kneipe aufmachen. Er war schon öfters bei mir gewesen, war allerdings auch stärker abhängig als sein bester Freund. Hatte schon ziemlich viel ausprobiert, von Pilzen bis zu Happinessmachern, die auf reiner Naturbasis hergestellt wurden. So stand es zumindest in den Flyern, die man in allen erdenklichen Coffeeshops in den Niederlanden bekommen konnte. Ob es stimmte, war eine andere Frage!

Auf einmal tauchte das schwarze Mädchen wieder auf. Aber Antalya blieb verschwunden.
Ich holte einen Notizblock aus meiner Jackentasche und schlug die aktuelle Seite auf.
Viel stand hier noch nicht. Nur die Telefonnummern von Mattis und Christophs Eltern.
Die vom Heim, in dem Antalya lebte, hatte ich vorsichtshalber auch notiert.


Meine Aufgabe im Moment war auch nicht gerade eine sehr ehrvolle. Meinen anvertrauten Schützlingen hinterherzuspionieren, das machte ich echt nicht gerne. Aber was sollte ich tun?
Es gehörte zu meinen Aufgabenbereichen und wenn auch die Eltern drauf bestanden, musste ich es wohl oder übel machen. Ich schrieb die Uhrzeit und den Ort, außerdem die Namen der drei auf. Ich weiß bis heute nicht, wieso ich das machen musste und was es bringen sollte. Aber nun, Arbeitsauftrag war Arbeitsauftrag und meinen Job wollte ich nicht riskieren.

Es dauerte nicht allzu lange und Antalya kam wieder. Sie sah glücklich aus und erholt.
Mist, sie hatte wieder gespritzt. Anders konnte es nicht sein. Hatte ich es doch geahnt. Es war ja schon schlimm genug, vom Alkohol nicht mehr loszukommen, aber dann auch noch eine Fixerin zu sein, das war das Letzte, was ich Leuten wünschte. Weder von dem einen noch vom anderen kam man leicht los, geschweige denn ohne Hilfe und aufrichtigen Willen.

Antalya und die Schwarze gingen zu Mattis und Christoph, die sich seit geraumer Zeit nicht mehr von der Stelle bewegt hatten. Seit Mattis keinen Job mehr hatte, sah ich ihn noch öfters als sonst mit Christoph in der Stadt rumhängen. Die Beiden konsumierten mehr denn je. Ich konnte nur für Lena hoffen, dass sie nicht damit reingezogen wurde. Aber bei ihr konnte ich mir recht sicher sein. Ihr Onkel war auch drogenabhängig gewesen. Alles hatte bei ihm ebenfalls mit Marihuana begonnen und mit Heroin geendet. Eher gesagt mit Selbstmord.

Ich wählte die Nummer von Mattis Mutter. Frau Kamps ging nach zweimaligem
Klingeln ran: „Hallo“, meldete ich mich, „hier ist Lars Jelens.“ Sie atmete leise auf: „Ja, was ist mit Mattis. Haben Sie ihn gefunden?“ Ich schaute zu Mattis, der eine Zigarette rauchte. Ob er überhaupt darüber nachdachte, was er seiner Mutter mit seinem andauernden Verschwinden antat?
Mit nicht den kleinsten Andeutungen, wann er wiederkommen würde oder wo er hinging.
„Ja, er ist mit Christoph auf dem Weihnachtsmarkt“, antwortete ich langsam. Ein Aufatmen erklang am Ende der Leitung: „Gott sei Dank. Haben Sie ihn gesprochen? Wann will er wiederkommen?“ Ich verneinte: „Wann haben Sie ihn den das letzte Mal gesehen, wann war er zu Hause?“, kam dafür meine Gegenfrage. „Ach, ich weiß nicht, ein paar Tage ist es bestimmt schon her...“ Verzweifelte Worte einer Mutter. Ich sagte nur noch Tschüss und legte auf.

Die blonde Bedienung kam wieder zu mir, kaum dass ich das Handy aus der Hand gelegt hatte. „Haben Sie noch einen Wunsch?“, frage sie höflich. Ich schüttelte den Kopf und bat stattdessen um die Rechnung. Sie verschwand wieder.

Abwartend beobachtete ich die Schwarze. Sie kam mir so bekannt vor. Ich wusste, sie schon mal gesehen zu haben. Aber wo und wann? Ich kam nicht drauf. Ich kam absolut nicht drauf.

Meine Rechnung wurde gebracht. Ich legte die gewünschten 5 Euro auf den Teller, nahm mir noch das dazugelegte Weihnachtsplätzchen und holte mir meinen Mantel. Schlang den Schal um meinen Hals, setzte wieder die Mütze auf und zog die Handschuhe an. Langsam verließ ich das dudelnde Weihnachtscafé, dessen fröhliche Atmosphäre ich nicht mehr länger zu ertragen vermochte.

Zum Glück hielt gerade eine Straßenbahn, die mich zu meinem Büro im westlichen Teil der Stadt zurückbringen würde. Ich warf einen letzten Blick auf die Jugendlichen. Mattis, Antalya, Christoph und die Schwarze. Wo sie wohl Weihnachten feiern werden? Mattis bei seinen Eltern und dem Bruder, Christoph ebenfalls bei seiner Familie, Antalya im Heim und die Schwarze in der Innenstadt? Nun, wer wusste das schon. Wenn es nicht mal die Beteiligten wussten, wie dann ein Außenstehender? Man konnte es nur erahnen. Und hoffen. Trotzdem, frohe Weihnachten euch dreien. Und ein gutes neues Jahr!!

 

Leana222 schrieb:
EDIT: Ich hoffe der Beitrag passt in diese Rubrik, denn ich denke nicht, dass er in die "Weihnachtsrubrik" passt, da es sich zwar um einen Text handelt der in der Weihnachtszeit spielt, aber nicht viel mit dem eigentlichen Fest zu tun hat.
Solche Zusatzbemerkungen bitte in einem separaten Beitrag mitteilen.
Zur Rubrik: schwierig. Alternativ könnte ich dir Sonstige anbieten.

 

Entschuldige, aber danke für den Hinweis Hendek. Ja, ich denke der passt vielleicht doch ganz gut in Sonstige.

 

hallo,
Mir gefällt deine Kurzgeschichte ziemlich gut. Lässt sich sehr locker lesen und der Inhalt der Geschichte ist interessant erzählt. Evtl. fehlt ein wenig straffe Spannung. Aber ingesamt eine gute Geschichte. ;)

 

Vielen Dank 3Zack. Wie meinst du das mit straffer Spannung? Ich wusste nicht, wie ich Spannung allgemein da rein bringen konnte :schiel: :Pfeif: .

 

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