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Weihnachtsgeschichte / bitte um Hilfe!
Am Nordpol
Kaum hatte der Boss uns das Weihnachtsgeld gestrichen, was bereits erniedrigend genug war, verkündete er auf einem Podest stehend den Einzug disziplinarischer Maßnahmen für den Fall einer wiederholten Anspielung auf den Bartwuchs seiner Frau.
Schuld daran waren die Mitarbeiterinnen in der Geschenkpapierabteilung, die einen beachtlichen Teil ihrer Arbeitszeit mit Kaffeepausen und ohrenbetäubendem Gekicher verbrachten. Das Glück eines gelenkschonenden Jobs in der Büroabteilung, hier und da ein Stelldichein mit einer der Praktikantinnen, blieb mir bis auf gelegentliche Ausnahmen verwehrt, stattdessen war ich gezwungen, des Geldes wegen am Fließband zu rackern. Von Januar bis Dezember kontrollierte ich die Qualität von jenen Geschenken, die sich brave Kinder und erfolgreiche Erwachsene über das Jahr hinweg so wünschten und am heiligen Abend erhalten sollten. Mit der Zeit fand ich dort meine Freunde; Jeffrey, Rudolf, Nilsen, Harry, Brat, Tim und wie sie alle hießen. Es war kein leichter Job, aber das Gehalt den Umständen angemessen und der Arbeitsvertrag unbefristet; zusätzlich hatte man hier die Gewissheit, dass die Regierung oder wer auch immer das Weihnachtsfest nicht im Zuge einsparender Maßnahmen abschaffen würde, schließlich kurbelten wir die Absatzzahlen im Einzelhandel an wie zu dieser Jahreszeit sonst niemand.
Es muss ein Samstag gewesen sein, denn ich trug meine blauen Shorts mit den Elefanten drauf; ein mit Geldstrafe geahndeter Verstoß gegen die betrieblichen Kleidungsvorschriften; und ich wunderte mich darüber, dass mir eine solche Kleinigkeit überhaupt aufgefallen war. Für gewöhnlich genoss ich den Komfort, den ein viel zu weites Kostüm so mit sich brachte, und trug keinerlei Kleidung darunter. Rückblickend muss ich mir eingestehen, dass zu der Zeit, in der ich für den Weihnachtsmann arbeitete, dieses Kostüm so etwas wie meine zweite Haut wurde, manchmal streifte ich es nicht mal mehr ab, wenn ich sturzbetrunken zu Bett ging und erst später bemerkte, dass ich noch auf Toilette musste. Die gesamte Sippschaft am Fließband roch gewissermaßen gleich. Für den Fall, dass euch die Tage ein nach Pisse miefender Elch nach Kleingeld angammelt, gebt ihm nen Groschen; mit Sicherheit war auch er einer von Santas´ kleinen Helfern, wie er uns so schön nannte. Die Lautsprecher läuteten den Feierabend ein, wir zogen unsere Stechkarten durch und machten uns (ohne die Arbeitskleidung zu wechseln) auf den Weg in Richtung Innenstadt. In einer Reihe watschelten wir durch den Schnee, der mir bis an die Knie reichte, jeder lief durch die Fußstapfen des Vorausgehenden. Nüchtern betrachtet bestand die Innenstadt am Nordpol aus einer Siedlung mit Iglus, die man für zwanzig Dollar rund eine Woche lang mieten konnte, und einer handvoll heruntergekommener unterirdischer Kneipen. Die Schneemassen erschwerten uns das Vorankommen, weshalb wir auf halber Strecke innehielten und einstimmig beschlossen, eine halbstündige Erholungspause einzulegen. Rudolf, ein loyaler Kerl von korpulenter Gestalt, mitunter der härteste Mann im Betrieb, kramte eine Halbliterflasche Weinbrand aus der Brusttasche seines Kostüms und ließ sie die Runde machen. Der Legende nach hatten sie Rudolf lebenslänglich gegeben, eines Tages buddelte er sich ein Loch und flüchtete zum Nordpol. Ein anderer, der zur allgemeinen Belustigung beitrug, indem er in Badelatschen zur Schicht gekommen war, zauberte aus seinem Rucksack massenweise Bierdosen hervor.
Dort draußen, umgeben von skurril wirkenden Eisgletschern, zugeschneiten Bergen; umweht von der eisigen Kälte des tiefen Winters, standen rund dreißig vom Leben gebeutelte Männer in zerfetzten Elchkostümen herum und kippten sich Weinbrand und Bier rein als gäbe es kein Morgen.
Ich nahm einen kräftigen Schluck aus der Flasche und reichte sie an Harry weiter, ein dünner blondhaariger Knilch, der jüngste von uns, keine neunzehn Jahre alt. Die Rauchschwarten der Zigaretten waren nur mit Mühe vom eigenen Atem zu unterscheiden, und einige der Jungs zitterten bereits am ganzen Leib. Fünf Minuten später blieb Harry ruckartig stehen, nuschelte etwas mir unverständliches, hielt sich vor Schmerzen die Wampe fest und brach zusammen. Der Anblick erinnerte mich an den eines Soldaten, der beim Angriff von der Druckwelle einer feindlichen Handgranate nach hinten geschleudert wurde. Rudolf trotzte der Kälte und bastelte aus seinem Kostüm eine Hängematte, auf die er Harry legte. Kilometer später erreichten wir mit einiger Verspätung die Innenstadt und bewegten uns auf die erste Kneipe zu. Harry ließen wir draußen im Schnee liegen; vielleicht würde ihn die Kälte wieder auf Trab bringen.