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Weihnachtsmord
"Stille Nacht, heilige Nacht", sangen sie, alle mit ernsten Gesichtern, den Blick nach vorne zum Altar gerichtet, die Hände gefaltet. Hundert Stimmen, die meisten davon falsch, schmetterten gemeinsam und voller Glauben diese Worte hinaus.
Für Kriminalhauptkommissar Paul Siepen klang das wie reine Ironie. Er sang nicht und der Druck seiner Dienstwaffe im Schulterhalfter erinnerte ihn ununterbrochen an die Wirklichkeit. Der Glaube an Gott und an die Menschen war im Laufe der Berufsjahre verloren gegangen. Zuviel hatte er schon gesehen.
Seine Frau neben ihm sang leise, mit zierlicher Stimme. Viel hätte er ihr erzählen können, aber das Meiste verschwieg er. Er verschonte sie mit der Wahrheit, beschützte sie vor der Realität, ließ ihr ihre Träume und nur ihr zuliebe war er jetzt hier.
Als seine Augen den Altar, die Kirchendecke, die Ornamente an den Wänden und die Hinterköpfe der Singenden in den vorderen Reihen systematisch abgesucht hatten, verweilten sie an dem Kreuz. Die Gemeinde beendete ihr Lied und setzte sich geräuschvoll auf die Bänke. Er sah auf die Uhr: noch eine viertel Stunde bis Dienstbeginn. Und der Pastor dort vorne sprach nun von der Beschaulichkeit und dem Frieden des Weihnachtsfestes. Worte, die ihm nicht gelten konnten.
"Wir haben da gerade einen Bericht aus der Gerichtsmedizin erhalten", sagte sein Kollege Stein beim Dienstwechsel. "Ein ehemaliges Ratsmitglied hatte gestern Morgen einen Unfall, so sah es jedenfalls auf den ersten Blick aus. Doch die haben Giftspuren im Körper gefunden. Wenn's dir langweilig wird, kannst du dich ja mal darum kümmern."
Er schmiss Siepen einen dünnen Hefter auf den Tisch. Auf dem Deckblatt stand: "Todesfall Hans-Otto Gereons".
"Wie alt war er denn?", fragte Siepen.
"Neunundsiebzig."
"Was für'ne Art von Unfall?"
"Ist in der U-Bahn die Treppe hinuntergefallen. Schädelbruch und was-weiß-ich-noch. Andere Fahrgäste sagten aus, dass er mit sehr unsicheren Schritten auf die Treppe zuging, als sei ihm schwindelig. Wahrscheinlich von dem langsam wirkenden Gift. Jedenfalls wäre er so oder so gestorben, das Gift hätte ihn innerhalb der nächsten zwei Stunden getötet, der Krebs in seinem Körper hätte ihm höchstens noch ein Jahr gelassen."
Siepen überlegte laut: "Hans-Otto Gereons, Mitglied des Rates ... War das nicht der, der den Bestechungsskandal im Bauamt aufdeckte? - Vor zehn, fünfzehn Jahren?"
Sein Kollege nickte: "Und wegen dem rollten damals ein ganzer Haufen Polit-Köpfe."
Paul Siepen las die Akte durch. Ein Abschiedsbrief wurde nicht gefunden. Das schloss Selbstmord nicht aus, aber wer vergiftet sich schon und fährt dann noch mit der U-Bahn? Doch wer sollte Interesse an dem Tod eines fast Achtzigjährigen haben? Er zögerte. Sollte er jetzt noch die Witwe befragen? Hatte das nicht Zeit bis nach den Feiertagen? Doch wenn es sich tatsächlich um Mord handelte, konnte jeder verstrichene Tag Spuren verwischen.
In der Wohnung des Ehepaars Gereons war die Zeit Mitte der sechziger Jahre stehen geblieben: Nierentisch, Ohrensessel, Lampen wie Blütenkelche. Der Kaffee dampfte in einer weißen Porzellantasse mit Goldrand.
"Nahm Ihr Mann irgendwelche Medikamente?", fragte Siepen.
Elisabeth Gereons schüttelte den Kopf: "Seit zwei Wochen nicht mehr."
Siepen stellte die Tasse hin, fragte: "Sie wissen, dass er Krebs hatte?"
"Wir wussten es. Aber er wollte sich nicht mehr dagegen wehren."
Siepen zögerte abermals, sah in dieses alte, runzelige Gesicht, das einmal schön war, straff und jung. Er sah keine Trauer.
"Wir haben Giftrückstände in seinem Körper gefunden."
Sie hob ihren Blick, doch konnte er nicht darin lesen.
"Frau Gereons, wer könnte Interesse an dem Tod Ihres Mannes haben?"
Sie lachte leise, es klang gespielt: "Was soll ich Ihnen jetzt antworten? Soll ich Ihnen etwas von geldgierigen Enkeln oder Neffen erzählen? Oder dass die Mafia hinter ihm her war? Wir sind alleine, seit einem Jahr schon war er meistens an das Bett gefesselt. Heute war es das erste Mal seit drei Monaten, dass er die Wohnung alleine verließ."
"Aber es muss irgendwo ein Motiv geben."
"Nein, ich halte Mord für ausgeschlossen. Es muss Ihnen ein Irrtum unterlaufen sein. Wir kennen niemanden, auch keine Mörder."
"Und in der Vergangenheit? Hatte er von damals noch Feinde? Wurde jemand zwischenzeitlich entlassen, der wegen des Bestechungsskandals einsaß?"
"Nein, nicht dass ich wüsste. Das ist doch schon so lange her ... Viele haben sich damals von uns distanziert. Wie Verräter haben sie uns behandelt."
"Kennen Sie jemanden, vielleicht aus der Verwandtschaft, der an Gifte irgendwelcher Art herankommen könnte?"
Abermals schüttelte sie den Kopf, hob fragend die Schulter: "Wir hatten auch zur entfernten Verwandtschaft keinen großen Kontakt. Weihnachten und Ostern Postkarten, das ist alles. Aber an Gift kann doch jeder kommen, nicht wahr? Rattengift gibt es in jeder Drogerie."
Siepen stellte die leere Tasse zurück und erhob sich: "Es war kein Rattengift. Es war ..." Jetzt fiel ihm der seltsame Name nicht mehr ein. Er zögerte, dann: "... ein Gift, das nur bestimmten Personenkreisen zugänglich ist. Und das werde ich als nächstes überprüfen."
Das gefasste Verhalten der Frau schien ihm seltsam. Lag es an ihrem Alter? War sie schon zu oft dem Tod begegnet? Oder war sie gefühlskalt? Wie konnte man so beherrscht sein?
Nieselregen hüllte die Stadt ein. Er zog die Schultern hoch, als könnte er seinen Kopf damit schützen, und ging hinüber zu seinem Wagen. Als er den Zündschlüssel umdrehte, wanderten seine Augen an der alten Hausfassade empor. Direkt neben dem Hauseingang befand sich ein Geschäftslokal und darüber flackerte in der anbrechenden Dunkelheit eine defekte Leuchtreklame: "Apotheke Gereons".
Er stieg wieder aus.
"Ich wusste, dass Sie wiederkommen würden", begrüßte ihn die Witwe. "Aber so schnell? Noch eine Tasse Kaffee? Er schmeckt gut, nicht wahr? Handgemahlen und von Hand aufgebrüht."
"Sie haben mir verschwiegen, dass Sie eine Apotheke besitzen", kam er sofort zur Sache.
"Besitzen wir auch nicht. Das ist fünfzehn Jahre her, dass wir sie verkauft haben. Aber die Nachfolger haben auch den Namen übernommen."
Apotheker kennen sich mit Giften aus, dachte Siepen. Sollte er es sagen? Sollte er seine Vermutung laut äußern? Und wenn es dann nicht stimmte?
"Ich ahnte, dass es herauskommen würde", sagte sie, plötzlich mit ernstem Gesicht.
Siepen blieb stumm. Er setzte sich, wie um ein Signal zu geben, dass er zuhören wollte.
"Er war fast achtzig", begann sie und plötzlich klang sie nicht mehr so gefasst. "Schmerzen hatte er fast immer, jeder Schritt, jede Bewegung war mit Schmerzen verbunden. Die Ärzte hielten ihn im letzten Jahr irgendwie am Leben. - Wenn man das noch Leben nennen kann."
Sie stand nun am Fenster, sah hinunter auf die leere, stille Straße, auf die geschmückten Schaufenster auf der anderen Seite. Dann, nach einer kurzen Pause, fuhr sie fort:
"Er hatte Geburtstag, gestern. Und er hatte sich nichts sehnlicher gewünscht als Frieden. Seine Zeit war längst gekommen ... Gott hat ihn längst zu sich gerufen, nur Ärzte hielten ihn noch hier."
Sie ging dann zu einem Sekretär hinüber und öffnete das Fach. Der weiße Umschlag, den sie ihm überreichte, trug die Aufschrift: "An die Polizei."
"Wir haben noch einen Schlüssel für die Apotheke, besorgten uns das Gift ... Er verließ das Haus, weil er nicht hier sterben wollte und weil er das für unauffälliger hielt. Bei der Lebensversicherung ist Selbstmord ausgenommen."
Siepen schüttelte den Kopf: "Die Versicherung zahlt nur nicht bei Selbsttötung innerhalb der ersten drei Jahre."
"Nicht bei ihm. Zu viele Selbstmörder in der Familie: der Vater, eine Schwester, die Großmutter. Verstehen Sie mich nicht falsch: wir wollten die Versicherung nicht betrügen, er wollte nur sterben. Aber er wollte auch nicht, dass ich ungesichert dastehe."
Sie zeigte auf den Brief und er sah, dass sie zitterte: "Der Brief ist für Sie, er wird Ihnen meine Aussage bestätigen. Und nun? Wollen Sie eine siebenundsiebzigjährige festnehmen und in das Gefängnis stecken?"
Der Kommissar sah sie an. Ein müder Blick. Er zögerte mit seiner Antwort: "Ich muss Sie zumindest vorläufig mit auf das Revier nehmen. - Leider. "
Er stand auf, ging zur Tür und seinen Schritten war Unsicherheit anzumerken.
"Andrerseits", sagte er leise, mehr zu sich, "muss ich heute nicht hier gewesen sein. Ein Anderer kann ermitteln. Aber vielleicht werden Sie auch gar nicht angeklagt? Oder es kommt zu einem Freispruch? Einer Bewährungsstrafe? Was weiß ich ..."
Als er die Türklinke herunterdrückte, hielt sie ihn am Handgelenk fest:
"Nehmen Sie mich mit. Bitte! Ich kann hier nicht alleine bleiben."
Er zuckte die Schultern, öffnete die Tür und zögerte erneut.
"Vergessen Sie die Weihnachtskerzen nicht. Und ziehen Sie sich etwas Warmes über“, empfahl er. "Es ist kalt geworden in Deutschland."