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Weiter entfernt als ein Leben
1
Ali parkte den Lieferwagen direkt vor dem Personaleingang an der Rückseite der Klinik und fischte eine braune Papiertüte aus seinem Rucksack.
»Zur Stärkung, bis die Nachtschicht kommt«, sagte er und warf seinem Partner ein fettiges, übel riechendes Bündel zu.
»Wo wir doch heute Ärzte sind, hätten wir ruhig was besseres essen können«, sagte Mike. Ali antwortete nicht, sondern machte sich daran seinen Burger mit großen, geräuschvollen Bissen zu verschlingen.
»Hast du eigentlich auch die Namensschilder besorgt?«
»Klar«, sagte Ali schmatzend. »Ich bin Dr. Matuschek und du Dr. Ehrlich.«
Dr. Ehrlich lächelte gezwungen und begann ohne Appetit zu essen. Nach ein paar Minuten trafen die ersten Krankenschwestern ein, schlurften wie Schlafwandler vom Parkplatz in das Gebäude. Die beiden Männer zogen sich im Lieferwagen um, schlüpften in die weißen Kittel und Hosen und steckten sorgsam ihre gefälschten Namensschilder an.
»Mist«, sagte Ali. »Ich hätt mir noch so ein Abhörding beschaffen sollen. Und nen wichtig aussehenden Notizblock.«
»Wir müssen ja nicht übertreiben«, meinte Mike und fügte in Gedanken hinzu: „Und ein Stethoskop macht die Verkleidung nicht überzeugender, wenn man es Abhörding nennt.” Er versuchte zuversichtlich zu klingen, fragte sich aber, ob ihr Plan nicht zu dreist sei. Er tastete nach der Waffe in seinem Hosenbund, nach dem beruhigenden Gewicht, dass ihm versicherte, dass nichts schiefgehen konnte, doch die Kanone zerstreute seine Sorgen kaum, vergrößerte sie eher noch.
»Dann mal los«, sagte Ali und stieß die Tür auf. Mike folgte ihm, und sie hielten sich knapp hinter einer kleinen Gruppe Pfleger, die in eine angeregte Unterhaltung über Fußball vertieft waren. Wie selbstverständlich hielt man den Ärzten die Tür auf und wünschte höflich einen guten Abend. Die beiden Männer spazierten einige Zeit durch die labyrinthischen Gänge des Krankenhauses um den Pflegekräften Zeit für den Schichtwechsel zu geben. Mike kamen die Minuten wie Stunden vor, er schlich gebückt hinter Ali her, in ständiger Angst entdeckt zu werden, ein Zustand der sich stetig verschlimmerte, weil ihm klar war, dass gerade diese Anspannung verdächtig aussehen musste. Ali hingegen schien die Scharade zu genießen, warf den Putzfrauen auf den Gängen hochmütige Blicke zu und erzählte lautstark Geschichten von seinen fiktiven Operationen, wenn ihnen jemand entgegen kam.
Ali blickte auf seine Uhr und sagte: »So, ich glaub die Spätschicht ist weg. Lass uns das Mädchen holen.«
Mike nickte, versuchte dabei cool zu wirken und seine Aufregung nicht zu zeigen. Sie nahmen den Aufzug in den dritten Stock. Bleiches Neonlicht erleuchtete die Gänge und es roch unangenehm nach Desinfektionsmitteln. Ihre Schuhe quietschten stechend auf dem blanken Linoleum. „Wir gehören nicht hierher”, dachte Mike. „Ich weiß nicht warum niemand das sieht, aber das Gebäude selbst merkt es, stößt uns ab. Die Schuhe der richtigen Ärzte machen bestimmt keinen Laut.”
»Weißt du eigentlich was sie genau hat?«, fragte Mike.
»Toni hat irgendwas von nem Schlaganfall gesagt.«
»Ich dachte das kriegen nur alte Leute.«
»Was weiß ich«, sagte Ali und zuckte gleichgültig mit den Schultern, »jedenfalls ist die kleine nicht mehr viel mehr als atmendes Gemüse.«
»Irgend ne Ahnung, was Cavelli von ihr will?«
»Was weiß ich«, wiederholte Ali. »Da vorne ist die Station.«
Die Nachtschwester saß gelangweilt an ihrem Schreibtisch, vertieft in die Lektüre einer zerfledderten Akte. Sie blickte nur kurz zu den beiden Ärzten auf als sie eintraten, und wandte sich dann wieder dem schluckweisen Verzehr der bitteren fäkalbraunen Brühe in ihrer Kaffeetasse zu.
Sie liefen zielstrebig an der Kanzel vorbei, und erreichten schließlich das unscheinbare Krankenzimmer am Ende des Flurs. Der Raum war erfüllt vom Duft frischer Blumen, die auf dem Fensterbrett standen. Gleich daneben war das Bett des Mädchens, unter einem heruntergezogenen Rouleau, durch das noch ein paar Fragmente der bunten Lichter der Nacht hereinfielen und auf den schneeweißen Laken funkelten. Mike fand, dass sie gar nicht krank aussah, trotz der Schläuche und Pumpen an die sie angeschlossen war, trotz des stetigen Piepsens der medizinischen Geräte im Zimmer. Es lang an ihrer Haut, seidig und glänzend, zu schön für eine Frau die kaum noch am Leben war, die, wie Ali gesagt hatte, nur noch atmendes Gemüse war.
»Hey, träum nicht!«, rief Ali, der sich schon an den Geräten zu schaffen machte. »Wir brauchen nen Rollstuhl, ich glaub da stand einer auf'm Gang.«
Während Mike den Rollstuhl holte und sich vergewisserte, dass die Nachtschwester immer noch ihren Kaffee schlürfte, fragte er sich, was Cavelli wohl mit ihr vor hatte. Lösegeld war nicht sein Geschäft, und diese Klinik sah nicht so aus, als ob ihre Eltern besonders reich wären. Als er wieder ins Zimmer trat war der Geruch nach Blumen dem Ammoniakgestank warmen Urins gewichen. Ali hatte beim Versuch den Katheterbeutel zu entfernen den Inhalt auf dem Fußboden verteilt und stand nun inmitten der stinkenden Lake.
»So eine verfluchte Scheiße«, schimpfte er. »Komm her mit dem Stuhl, ich hab's gleich.« Dann fing eines der Geräte, an denen Ali sich zu schaffen machte, zu heulen an, beklagte sich mit einem schrillen Warnton darüber nicht mehr angeschlossen zu sein, Ali fluchte, kniete sich in die gelbe Brühe, langte unter das Bett und einen Moment später verstummte der Ton. »Dann eben auf die harte Tour«, sagte er und hielt das Stromkabel grinsend hoch.
Sie hievten das Mädchen zusammen in den Rollstuhl, verwundert darüber wie schwer und steif der dürre Körper war, nahmen schließlich noch den Infusionsbeutel vom Ständer und legten ihn in ihren Schoß. „Es klappt”, dachte Mike. „Dieser Plan ist so dreist und verrückt, dass er wirklich funktioniert.”
»Wo bringen Sie die Patientin denn hin?« Die Schwester stand plötzlich in der Tür und musterte die beiden Männer mit strengem Blick.
„Natürlich”, dachte Mike. „Wir können hier nicht einfach medizinische Geräte aus der Steckdose ziehen, ohne dass irgendwo ein rotes Licht anfängt zu blinken.” Er wollte etwas sagen, etwas unternehmen, aber sein Verstand war gelähmt, nicht mehr zu einem klaren Gedanken oder einer Handlung fähig und er konnte die Schwester nur dümmlich anstarren.
Ali reagierte schnell, setzte wieder seinen hochmütigen Ärzteblick und sein selbstsicheres Lächeln auf. »Wir bringen sie zu einer Untersuchung. Wird nicht lange dauern.«
»Was für eine Untersuchung wird denn noch um diese Zeit gemacht?«
»Röntgen«, antwortete Ali. »Sie wissen doch wie das bei diesen Urologen ist, da bekommt man nie nen anständigen Termin.«
Die Schwester runzelte verwundert die Stirn und ihr Blick wanderte durch den Raum, fiel auf das Chaos, dass die vermeintlichen Ärzte angerichtet hatten, fiel auf die stinkende Urinlake neben dem Bett und den gelb getränkten Saum von Alis Kittel. Sie wich einen zögerlichen Schritt zurück, aber da stand Ali schon mit einem schnellen Satz vor ihr, rammte ihr die Faust in die Rippen und zerrte sie unsanft in die kleine Toilette des Zimmers, wo sie wimmernd liegen blieb.
»Hör zu, Schwester!«, fauchte er und richtete seine Waffe auf sie. »Wenn du da raus kommst bevor wir hier fertig sind oder zu schreien anfängst, dann verteil ich dein Gehirn an den schönen, weißen Wänden hier. Kapiert?«
Sie brachte nur ein klägliches Schluchzen hervor, aber das genügte Ali und er zog die Tür zu. Dann wandte er sich Mike zu, der immer noch wie versteinert herumstand und wahrscheinlich in dieser Haltung verharrt wäre bis die Polizei ihn festnahm, hätte Ali ihn nicht angebrüllt. »Beweg dich Mann! Na los!«
Sie verließen eilig die Station, schoben den Rollstuhl so schnell durch die verwinkelten Gänge, dass das Mädchen mehrmals beinahe aus dem Sitz gefallen wäre. Lediglich vor dem Aufzug begegnete ihnen ein Arzt, der allerdings so in Gedanken vertieft war, dass er kaum etwas wahrnahm, nicht die beiden Männer, die außer den Kitteln inzwischen jede Verkleidung abgelegt hatten, nicht die Patientin im Nachthemd, deren Blut in tanzenden Fäden in den Infusionsbeutel lief. Mike fiel auf, dass seine Schuhe lautlos über den Fußboden glitten, während ihre Schritte von einer stechend quietschenden Anklage des Gebäudes verfolgt wurden.
Sie erreichten den Personaleingang und mussten feststellen, dass der Rollstuhl nicht durch die Tür passte. Ali packte das Mädchen kurz entschlossen und schleppte sie auf den Schultern in den Lieferwagen. Mike sah sich besorgt um, aber niemand beobachtete sie, verfolgte sie, schien überhaupt von ihnen Notiz zu nehmen. Keine Polizeisirenen rauschten heran, keine empörten Rufe geboten ihnen Einhalt.
„Wir sind Geister”, dachte er. „Geister mit quietschenden Schuhen.”
Dann verschwanden sie in der Nacht.
2
Sie lieferten das Mädchen bei Toni ab und setzten sich noch in derselben Nacht über die Grenze nach Italien ab. Eine völlig unnötige Vorsichtsmaßnahme, wie sich später herausstellte, denn die Phantombilder, die die deutschen Zeitungen von ihnen druckten waren nicht viel mehr als amüsante Karikaturen.
»Darauf würde meine eigene Mutter mich nicht erkennen«, bemerkte Ali. »Ich sehe aus wie eine Mischung aus Meister Proper und diesem Physiker im Rollstuhl.« Er hatte der armen Krankenschwester wohl so viel Angst eingejagt, dass sie bis zum Eintreffen der Polizei schluchzend auf dem Fußboden saß und dieser eine Personenbeschreibung gab, die nicht viel mehr als eine weinerliche Variante von „zwei große, böse Männer” war.
Toni hatte ihnen eine Wohnung in einem aschgrauen Altbau besorgt, dessen Treppen bei jeden Schritt fürchterlich knarrten und ächzten und zu dem der Wind den salzigen Gestank des nahegelegenen Fischmarktes trug. Ali zählte gerade zum zweiten Mal seinen Teil der Belohnung durch, sortierte die Scheine genüßlich auf dem Küchentisch und erzählte ausschweifend von seinen Plänen das Geld auszugeben, das in seiner Vostellung stetig mehr wurde und schließlich nur knapp nicht reichte, um einen Ferrari zu kaufen.
»Dann müssen wir halt noch ein Mädchen entführen«, sagte Ali grinsend.
»Irgend ne Idee, was aus ihr geworden ist?«, fragte Mike.
»Ne, Toni hat nichts erwähnt.«
Mike nickte und wollte das Thema damit abhacken, aber irgend etwas an der Sache war ihm suspekt und ließ sich nicht so einfach beiseite schieben. »Weil... weil Cavelli doch normalerweise nicht auf Erpressung macht. Meinst du vielleicht er...« Aber ihm fiel nichts ein, das man dazu vielleicht meinen könnte.
»Wird schon nen Grund haben«, sagte Ali, der sich scheinbar gerade verzählt hatte, denn er schob die Stapel vor sich wieder zusammen und begann sie von neuem aufzubauen.
Mike schlenderte zum Kühlschrank, um sich mit einem Bier von Fragen abzulenken, über die es sich nicht nachzudenken lohnte, doch außer einer vertrockneten Salami, die scheinbar schon seit Wochen dort auf ihr Ende wartete, war dieser leer.
»Ich geh mal einkaufen«, verkündete er. »Sonst verhungern wir hier über's Wochenende.«
Draußen zupfte ein rauher Herbstwind die letzten Blätter von den Bäumen und Mike beschloss, dass er sein Geld zunächst in eine wärmere Jacke investieren würde und nicht in einen Sportwagen. Der Supermarkt lag zwei Straßen weiter, flankiert von einem schäbigen Hotel, dass niemand besuchte und einem baufälligen Mietshaus mit einstmals prinkvollen gotischen Fensterbögen, von denen nur noch schmutzige, verwitterte Brocken erhalten waren. Mike kaufte Brot, Fertiggerichte und ein Sixpack Dosenbier und bezahlte bei einer dicken, schwitzenden Kassiererin, die ihn keines Blickes würdigte. Als er gerade den Laden verließ sah er eine schwarz gekleidete Gestalt auf der anderen Straßenseite vorbeilaufen. Es war vielmehr die Haltung und der schnelle, zielsichere Schritt, der ihn an Toni erinnerte, als das Gesicht, dass er ohnehin kaum erkennen konnte.
„Das kann er nicht sein”, dachte Mike, „Toni hat gesagt, er habe noch in Deutschland zu tun.” Das war der rationale Teil seines Verstandes, aber obwohl es keinen Sinn ergab war er sich dennoch sicher, sich nicht getäuscht zu haben. Er beschloß, aus einer inneren Eingebung heraus, den Mann zu verfolgen.
Sie liefen zielstrebig durch die engen, verwinkelten Gassen der Stadt, vorbei an verfallenen Häusern, streunenden Hunden die ihnen zornige Blicke zuwarfen und Haufen von Abfall die mitten auf dem Gehweg lagen und süßlich stanken. Mike hielt sich einige Meter hinter dem Mann und konnte so nicht viel mehr als seinen breiten Rücken unter dem schwarzen Mantel erkennen, war sich aber zunehmend sicher, dass es sich um Toni handeln musste. Dieser hielt plötzlich an einem Auto, öffnete den Kofferraum, und holte einen prall gefüllten Karton heraus. Er schleppte ihn über die Straße, wäre dabei fast über den Bordstein gestolpert, öffnete eine der Haustüren und verschwand dahinter.
Das Gebäude sah aus wie alle anderen, ein grau-brauner Altbau in schlechtem Zustand, mit Putz, der sich von den Wänden löste und Fensterläden von denen die Farbe bröckelte. Dann aber fiel Mikes Blick auf ein Fenster im ersten Stock, es war mit Brettern von innen vernagelt, so dicht und akribisch, dass keine noch so winzige Lücke blieb. Ein ungutes Gefühl beschlich ihn, die Vorstellung von einem finsteren Zimmer, einem Verließ, einem Ort ohne Licht und ohne Hoffnung, mit stickiger, heißer Luft, die zu atmen eine endlose Qual war. Er machte langsam kehrt, wie betäubt, um seine Gedanken von dieser schrecklichen Vision zu lösen und zu verschwinden, bevor Toni vielleicht kam, um noch etwas aus dem Wagen zu holen. Dabei bemerkte er ein weißes Päckchen, das wohl aus dem Karton gefallen war. „Kokain”, dachte er, und sah schon Ali vor sich, der sich grinsend über eine zusätzliche Belohnung für den letzten Job freute. Doch es war kein Kokain, sondern etwas, das seine schlimmsten Befürchtungen bestätigte: ein Beutel Sondennahrung, Pute mit Karotte und Kürbis.
3
Ali war vor dem Fernseher eingeschlafen, in dem irgendeine italienische Unterhaltungsshow lief. Mike räumte die spärlichen Einkäufe in den Kühlschrank ein, aus dem die vertrocknete Salami mittlerweile fehlte.
„Mahlzeit”, dachte er und schaltete den Fernseher aus, verwundert darüber, dass Ali sich Sendungen ansah, von denen er kein Wort verstand. Er wollte seinen Partner wecken, um über das zu reden, was er gesehen hatte, das kleine Plastikfläschchen als unwiderlegbaren Beweis in seiner Hand. Doch schon auf dem Heimweg hatten ihn Zweifel geplagt. Was ging es sie denn an? Toni hatte gelogen, na und? Er war ihnen keine Rechenschaft schuldig. Wo war eigentlich das Problem, sie hatten ihren Job erledigt, sollten Toni und Cavelli doch mit ihr anstellen was sie wollten. Überhaupt Cavelli, wie kam er dazu ihn zu hinterfragen? Vielleicht gab es keine Antworten auf diese Fragen, vielleicht lag es daran, dass er Cavelli nie begegnet war, dass dieser nur über Toni oder kryptische Nachrichten auf dem Anrufbeantworter mit ihnen kommunizierte, vielleicht war das Problem einfach, dass er sich schuldig fühlte, einem wehrlosen Mädchen noch mehr Leid zugefügt zu haben, auch wenn er nicht sagen konnte, woher plötzlich diese Gewissensbisse kamen. Ali hätte dafür sicher kein Verständnis, würde ihm sagen, er solle sich zusammenreißen, würde ihn am ehesten noch als Weichei verspotten. Wie sonst sollte jemand reagieren, der gerade eine steinharte, gammelige Salami verdrückt hatte und sie wahrscheinlich auch noch schmackhaft fand? Außerdem, hätte er nicht recht damit? Aber was Mike endgültig davon abhielt war etwas viel simpleres. Alis Schnarchen, nicht laut, aber schmerzhaft atonal, ein Ton der langsam, klammheimlich ins Ohr eindrang und dort endlos und schrecklich widerhallte. Heute hatte er das Schlafzimmer für sich alleine und könnte in himmlischer Ruhe schlafen, und das war Grund genug. Reden konnten sie auch morgen.
Auch ohne Alis Schnarchen schlief Mike nicht gut, wälzte sich durch wirre und bedrückende Träume und fühlte sich am Morgen wie gerädert. Als er in die Küche schlenderte um zu frühstücken, sah er, dass Ali immer noch schlief und weckte ihn, schon allein aus Neid.
Ali wälzte sich herum und brummte etwas, dass wohl »Lass mich in Ruhe!« heißen sollte, doch dann schleppte er sich, vom Hunger getrieben, an den Esstisch. »Hast eingekauft?«, murmelte er und verteilte die steinharte Butter in Blöcken auf seinem Brot.
»Ja, wir hatten nichts mehr essbares im Haus.«
»Wir hatten noch Salami«, verbesserte Ali, »die war lecker. Hast du Bier gekauft?«
Mike nickte, und da sich nun der Small-Talk erschöpft hatte, abgesehen von einem Kommentar über's Wetter, fand er es an der Zeit über Toni und das Mädchen zu reden. Aber er fand keinen Einstieg, wusste nicht, was er sagen sollte und warum, wusste nicht einmal mehr, wo er die Flasche mit der Sondennahrung verstaut hatte und ob er nicht einfach zu viel in dieses alberne Plastikfläschen hinein interpretierte.
»Ist ziemlich kalt draußen«, brachte er schließlich heraus.
»Uh-hmm. Wir sollten mal wo Urlaub machen wo's wärmer ist. Jetzt am Strand sitzen wär ein Traum«, sagte Ali.
»Ich hab...«
„Komm schon”, dachte er, „wenn ich es jetzt nicht sagen kann, dann nie. Dann muss ich mich aus der Sache raushalten und mit Ali hier auf den nächsten dreckigen Job für Cavelli warten.”
»Ich hab heute Nacht von dem Mädchen geträumt. Die aus der Klinik.«
Er hatte einfach irgendetwas gesagt, das erste was ihm durch den Kopf geschossen war, aber dann wurde Mike klar, dass es stimmte, dass er tatsächlich von ihr geträumt hatte. Er war ihr auf einer endlosen Straße gefolgt und hatte sich beinahe in der Dunkelheit verlaufen, mehr wusste er nicht mehr. Der Rest war zersprungen, nicht verblasst, wie man zu sagen pflegte, sondern zersprungen in winzige, davontreibende Stücke.
Ali kommentierte dies mit einem desinteressierten Brummen und schlang gierig sein Essen hinunter. »Ich träum nie was«, fügte er schließlich hinzu. »Bin die ganze Nacht einfach nur weg.«
Und damit war die Sache für Mike entschieden, es gab nichts zu erzählen. Zum einen weil Ali offensichtlich kein Interesse daran hatte, weil er von ihm keine Hilfe, kein Verständnis erwarten konnte. Aber da war noch mehr, nicht zu träumen war nicht einfach eine kuriose nächtliche Anomalie, die er mit einem Lächeln übergehen konnte. Es machte Ali leer, unmenschlich, zu einer mechanischen Hülle, zu der man kein Vertrauen, keine Freundschaft hegen konnte. Und irgendwie, dachte Mike, war es auch besser so. Es war sein Problem, ihn belastete ihr Handeln, nicht Ali, für den es nur ein Job wie jeder andere war. Und er würde alleine damit fertig werden müssen.
4
Der leichte Nieselregen hatte sich in einen bitterkalten Schauer verwandelt, der Mike ins Gesicht peitschte. Er kauerte sich in seinen Mantel und lief schnellen Schrittes die Straße entlang, nur um nach ein paar Metern umzukehren und in die entgegengesetzte Richtung zu laufen. Mike war sich sicher Toni hierher gefolgt zu sein, aber jetzt konnte er weder dessen Auto, noch das vernagelte Fenster wiederfinden. Die Häuser sahen hier alle gleich aus, langweilige graue Mauern ohne Identität, der richtige Ort für jemanden, der nicht gefunden werden wollte. Er stellte sich schon darauf ein, den ganzen Weg zum Supermarkt zurückzugehen und, falls nötig, alle Gassen noch einmal abzulaufen, als er plötzlich vor der Tür stand, hinter der Toni verschwunden war.
Er sah sich nach einer Klingel um, aber es gab keine und Mike wurde schlagartig klar, wie blindlings und überstürzt er losgelaufen war. Und ihm wurde klar, warum er Ali von der Sache hatte erzählen wollen, nicht weil er dessen Verständnis oder Zuspruch brauchte, sondern seine Hilfe. Weil er dem alleine nicht gewachsen war. Auch die Tür zum Krankenhaus war verschlossen gewesen, aber Ali hatte die Idee gehabt mit der Nachtschicht durch den Personaleingang zu kommen. Alleine kam er nicht einmal an der wurmstichigen Tür eines Wohnhauses vorbei. Und was wollte er überhaupt hier erreichen? Er hatte nicht einmal seine Waffe dabei, Toni konnte ihn einfach abknallen, wenn er ihn loswerden wollte. Mike stieß einen Seufzer aus und verpasste der Tür einen Tritt. Diese öffnete sich mit lautem Knarren einige Zentimeter.
»Ich bin doch so ein Vollidiot«, murmelte Mike und starrte den Spalt ungläubig an.
Blieb noch das Problem unbewaffnet zu sein, aber er glaubte nicht, dass Toni ihn einfach erschießen würde, zumal dieser ja nicht wissen konnte, dass er nichts unter seinem Mantel versteckte. Er trat in den muffig riechenden Flur und ging, eine Spur triefender Nässe hinter sich herziehend, die Treppe hinauf. An der Wohnungstür hing kein Namensschild und Mike hielt inne, stellte sich vor, wie ihm ein alter Italiener öffnen würde, um ihn verdutzt anzustarren und mit einer Fluchtirade zu verjagen. Dann schüttelte er den Gedanken ab, nur eine weitere Ausgeburt seiner Unentschlossenheit, wie auch das Beinahe-Scheitern an der offenen Tür, und klopfte so fest an, dass seine Knöchel schmerzten. Schritte näherten sich.
„Ich hätte mir überlegen sollen, was ich sagen will”, schoss es ihm durch den Kopf. Aber das war Unsinn, tatsächlich hatte er auf dem Weg über fast nichts anderes nachgedacht, hatte Fragen von vorwurfsvoll zu naiv umformuliert und wieder zurück, doch davon war nun nicht mehr als eine schwarze Leere geblieben.
Dann stand Toni vor ihm, die Augen geweitet und das Gesicht zu einem unkontrollierten Ausdruck der Überraschung zerfallen. Mike öffnete den Mund um etwas zu sagen und einen schrecklichen Moment lang war ihm, als habe er nicht nur vergessen war er sagen wollte, sondern das Sprechen gänzlich verlernt und könne nur noch die Lippen sinnlos hin und her bewegen, wie ein Fisch der qualvoll an der Luft erstickte.
»Ich ähm... hab dich auf der Straße gesehen... und hab mich gewundert weil du doch nach Deutschland musstest...«, würgte er schließlich hervor.
Toni nickte und ein Lächeln umspielte seine Lippen. »Alles klar Mikey, alles klar.« Aus dem Lächeln wurde ein Grinsen, und seine Augen funkelten Mike hämisch an. »Schön dich zu sehen, alter Junge. Alles OK bei dir? Siehst n bisschen müde aus.«
Ein stechendes Gefühl der Frustration überkam Mike, nahm seinen Anfang im Bauch und breitete sich wie saures Gift durch den Körper aus, heißes Gift, dass sich schließlich in kochende Wut verwandelte. Wut über die gehässige Art, mit der Toni ihm begegnete, ihn wie ein kleines Kind nicht für voll nahm und ihn Mikey nannte.
»Ist das Mädchen hier?«, brach es aus ihm heraus.
Einen Moment schien die Farbe aus Tonis Wangen zu weichen. Seine Miene jedoch verzog sich kaum, einzig ein Mundwinkel zuckte blitzartig nach unten und Mike war, als weiche er einen winzigen Schritt zurück. Und obwohl ihm klar war, dass es besser gewesen wäre subtiler vorzugehen, seine Karten nicht derart ungestüm offenzulegen, empfand ein Teil von ihm süße Befriedigung über diesen Schritt, jener Teil, der sich nicht um strategische Erwägungen und Höflichkeit scherte, der einfach nur genug davon hatte Mikey genannt zu werden.
Eine Weile sagte Toni nichts, nickte nur wieder grinsend, aber seine Augen hatten diesen Blick in die Ferne angenommen, der angestrengtes Nachdenken, Abwägen, wie viel sein Gegenüber wohl wusste verriet.
»Ja, sie ist hier«, sagte er schließlich. Keine Frage, woher er davon wusste. Keine Rechtfertigung. »Willst du nicht kurz reinkommen, der Gang ist kein Ort, um zu reden.«
Mikes Herzschlag wurde schneller und er musste sich nochmals daran erinnern, dass Toni ihn nicht einfach erschießen würde. Bestimmt nicht für ein paar dumme Fragen zu Dingen, die ihn nichts angingen, zumindest nicht ohne Cavellis ausdrückliche Anweisung. Und außerdem... er zog seinen Mantel zusammen, wie um die nicht vorhandene Pistole in der Innentasche zu verstecken, machte die Geste bewusst auffällig und umständlich.
»Klar, OK, gehen wir rein.«
Das Appartement war jenem, das er und Ali bewohnten verblüffend ähnlich. Vielleicht war der Grundriss Standard in allen Altbauten dieser Stadt, aber Cavelli hatte offenbar auch Mengenrabatt auf die Möbel bekommen, denn Mike erkannte die hässliche braune Couch und die massiven Schränke wieder. Und die Räume waren ebenso unordentlich. Mitten im Zimmer lag ein langes, aufgerolltes Kabel. Kartons, vermutlich mit Sondennahrung oder Infusionsbeuteln, ein paar vielleicht wirklich mit Koks, standen ungeordnet herum und auf dem Esstisch verströmte eine halb aufgegessene Pizza einen fettigen Gestank nach Käse und Peperoni.
»Willst du dich nicht ausziehen? Bist ja ganz durchnässt.«
»Ich will nicht lange bleiben«, sagte er und tastete nach der imaginären Waffe.
Toni ließ sich nicht anmerken, ob er verstand, oder ob Mike das Schauspiel nur für sich selbst aufführte. »Gut, gut. Ich kann dir leider nichts anbieten, Mikey, ich glaub das einzige im Kühlschrank ist ein Stück vergammelte Salami. Ziemliches Chaos hier, wie du siehst, hatte die Tage ne ganze Menge zu tun.«
»In Deutschland?«, fragte Mike.
»Nein«, gab Toni zu. »Ich weiß, das hab ich euch erzählt. Die Wahrheit ist, dass ich euch hier nicht mit reinziehen wollte. Die Kleine... das ist sowas wie Cavellis persönliche Angelegenheit. Kein normales Geschäft, verstehst du?«
Mike nickte, obwohl er nichts verstand. »Was hat er mit ihr vor?«
Toni zuckte mit den Schultern, hielt entschuldigend die Handflächen nach oben und meinte schließlich: »Das kann ich dir nicht sagen.«
Mike spürte wieder den Zorn in sich aufkommen, hätte am liebsten gebrüllt „Hör auf mich wie ein Kind zu behandeln”, seine Hände ballten sich zu Fäusten, aber er beherrschte sich und schwieg.
Toni musste ihm die Wut angesehen haben, denn er setzte hinzu »Sorry Mikey, ich weiß selbst nichts genaueres. Und das, was ich weiß ergibt nicht besonders viel Sinn. Du kennst das ja, Cavelli rückt nicht gern mit Informationen raus. Ein paar knappe Anweisungen auf dem AB, das ist alles.«
Weder Ali noch Mike hatten jemals mit Cavelli gesprochen oder ihn gesehen. Wenn er ihnen etwas zu sagen hatte, was selten genug vorkam, hinterließ er eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter oder der Mailbox und bewies dabei ein erstaunliches Talent, genau dann anzurufen, wenn niemand da war. Ali nannte ihn deswegen manchmal den Boss auf dem Tonband. Immerhin war es eine vernünftige, wenn auch in Mikes Augen etwas übertriebene Vorsichtsmaßnahme für jemanden, der einer gewissen Art von Geschäften nachging. Dass es Toni diesbezüglich nicht besser ging war ihm allerdings neu.
»Du hast nie persönlich mit ihm darüber gesprochen?«
Toni schüttelte den Kopf. Mike hätte gerne gefragt, ob er überhaupt jemals Cavellis Bekanntschaft gemacht hatte, ließ es aber bleiben.
»Aber du kannst ihn doch anrufen und fragen?«
»Mikey, Mikey, Mikey. Ich glaub du hast wirklich keine Vorstellung davon, wie die Dinge so laufen«, tadelte ihn Toni, »Denkst du ich plausch mit ihm jeden Tag über's Wetter? Wenn ich etwas von Cavelli will, dann spreche ich eine Nachricht auf seinen AB. Da gibt's nicht mal ne Bandansage wie „Hallo, hier bei Gangsterboss Cavelli. Ich bin gerade eine Leiche entsorgen, bitte hinterlassen sie eine Nachricht nach dem Piepton.” Da gibt's nur den blöden Piepton, und du kannst dich drauf verlassen, dass er dumme Fragen einfach ignoriert.«
Mike konnte nichts darauf antworten, es stimmte, er hatte keine Ahnung wie die Dinge liefen, hatte Toni immer als eine Art rechte Hand Cavellis angesehen, obwohl er vielleicht ein ebenso kleiner Fisch wie er selbst war.
»Und ich sag dir noch was, Mikey: Was Cavelli angeht, wärt ihr in Deutschland geblieben, bis die Polizei euch verhaftet oder eben nicht. Er schert sich nicht um seine Leute. Ich war es, der euch hierher geholt hat. Weil ich weiß, dass ihr zwei anständige Jungs seid. Weil ich euch vertraue und euer bestes will.«
Er setzte ein mildes Lächeln auf, voll fürsorglicher Güte. Mike fühlte sich mehr und mehr wie ein Kind, dem eine väterliche Lektion zuteil wird.
»Und darum bitte ich dich mir jetzt auch zu vertrauen, wenn ich sage, dass es besser ist, dich aus allem rauszuhalten. Cavelli duldet keine Fragen und keine Einmischung. Nicht von dir und auch nicht von mir. Übrigens, weiß Ali auch davon?«
»Nein«, antwortete Mike.
»Gut. Sehr gut. Dann belassen wir's auch dabei..«
Ein Ausdruck schlich sich in sein Gesicht, ein Schmunzeln ohne Heiterkeit, voll Heimtücke, die Eruption einer niederträchtigen Idee. Einen Moment später war er verschwunden und wieder durch Tonis leicht herablassendes Lächeln ersetzt.
»Kann ich... ähm... sie sehen?«, stammelte Mike.
Toni seufzte und blickte ihn scharf an. »Nein, kannst du nicht, du dürftest überhaupt nicht hier sein. Sieht das hier wie ein Besucherzentrum aus? Und was glaubst du denn, was es da zu sehen gibt?«
»Ich weiß nicht... aber wieso ist das Fenster vernagelt? Wozu soll das bei einer Frau im Wachkoma gut sein?«, fragte Mike, doch es kam nicht als der geplante scharfe Vorwurf heraus, vielmehr als eine Rechtfertigung seiner eigenen Position. Sein Besuch war gänzlich schief gelaufen, Toni sollte derjenige sein, der sich verteidigt, der sich erklären muss, nicht er. Der Gedanke eine Waffe mitzunehmen, oder es zumindest Toni glauben zu lassen, war lächerlich gewesen. Es spielte keine Rolle, Toni konnte mit Worten mehr ausrichten, als er mit einem geladenen Revolver, und Mike fühlte sich durch und durch erbärmlich deswegen.
»Was weiß ich, noch so eine Anweisung von Cavelli«, sagte Toni. »Komm Mikey, lass gut sein«, sagte Toni und klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter. »Ich weiß, du stellst dir die schlimmsten Sachen vor, die wir dem armen Mädchen da drinnen antun und fühlst dich scheiße, weil du denkst du seist daran Schuld. Ich kann dir versichern, weder das eine, noch das andere ist wahr.« Er öffnete die Tür und führt Mike langsam aber bestimmt hinaus. »Mach dir keinen Kopf mehr, geh nach Hause, mach dir n Bier auf und lass die Sache ruhen, ja? In ein, zwei Tagen ist das hier ohnehin vorbei und dann ist alles wieder beim Alten. Was sagst du?«
Mike sagte nichts, aber Tonis Verheißung klang mehr wie eine Drohung, die Rückkehr in seine bisherige Normalität wie eine Strafe.
»Hier«, sagte Toni und drückte ihm einen Regenschirm in die Hand. »Ich glaub den brauchst du.«
»Danke«, murmelte Mike.
Dann nahm Tonis Gesicht einen sentimentalen Ausdruck an, nicht sein übliches geheucheltes Mitgefühl, einen Moment zeigte sich ehrliches Bedauern. »Sorry Mikey, dass ich dich so nach Hause schicken muss. Aber so wie du hier aufgetaucht bist kann ich nicht mehr für dich tun. Mach's gut, alter Junge. Mach's gut.«
5
Der Schirm war ein Segen in dem plätschernden Regen, aber davon abgesehen fühlte Mike sich hundeelend. Es war dunkel geworden und die Straßenlampen verbreiten einen gelben Schein, der alle anderen Farben vertilgte. Die Häuser ragten wie graue Monolithen in die Höhe und aus ihren Fenstern drang kein Lichtstrahl, denn sie waren allesamt mit Holzplatten zugenagelt. Nicht um etwas dahinter einzufangen oder zu verbergen, man hatte ihn eingesperrt, im Freien und doch in einem Gefängnis, dass enger und düsterer war als jeder Kerker.
Der Weg vor ihm schien sich auszudehnen, wurde so lange, dass sie schließlich keinen Anfang und kein Ende mehr hatte, von nirgendwo nach nirgendwo führte. Er ging weiter.
Vor sich sah er die Silhouette einer Frau, die in einiger Entfernung auch auf dieser verlorenen Straße lief. Er konnte nicht sagen wie weit sie weg war, ringsum wiederholten sich nur endlose Reihen von Häusern mit vernagelten Fenstern bis zum Horizont, boten keine Bezugspunkt, sondern lösten die Geometrie des Raumes zwischen sich auf. Aber es musste weit sein, denn sie lief noch vor den Wolken, vor dem Regen, der sich nur über ihm ergoss und mit nassen Fingern auf seinen Schirm klopfte. In dem Wasser auf dem Asphalt spiegelte sich das Mondlicht als tausend Sterne, ein feuriges Glitzern unter seinen Schuhen.
Mike ging schneller, fing schließlich an zu laufen, aber er kam ihr nicht näher, sie blieb immer eine verschwommene Gestalt in der Ferne. »Warte!«, rief er schließlich.
»Ich kann nicht«, antwortete sie, »ich habe mich verlaufen.«
»Wo?«
»Zwischen den Sternen. Sieh hin.«
Als er sich umsehen wollte waren die Sterne über und unter ihm verschmolzen, umhüllten ihn mit ihrem farbigen Glitzern aus den endlosen Tiefen des Alls, verbrannten den Weg auf dem lief in ihrem Feuer. Sie war fort, entschwunden inmitten der Sonnen und als nach ihr suchte, seinen Blick in die Schwärze zwischen den Sternen richtete, sah er dort immer nur mehr und mehr Lichter, die die Leere füllten. Ihm wurde schwindelig, in der Unendlichkeit, die sich um ihn herum ausbreitete, die seinen Blick einlud sie zu erforschen aber sich allerorts nur zu mehr und mehr kaltem, schwarzem Raum auftat und er musste die Augen schließen um sich nicht ebenfalls zu verlaufen.
»Ich habe Angst«, sagte sie, »etwas ist hier und versteckt sich zwischen dem Raum. Bitte hilf mir.«
Ihre Stimme war klar, wie ein sanfter Hauch gleich neben seinem Ohr, aber er wagte es nicht die Augen wieder zu öffnen, aus Angst sich mit einem weiteren Blick in dieses Labyrinth aus Sternen für immer darin zu verirren.
»Ich werde dich finden. Hab keine Angst.«
»Es ist zu weit«, antwortete sie, jetzt nur noch ein kaum vernehmbares Flüstern, das sich rasch entfernte, »weiter noch als ein ganzes Leben.«
Damit verschwand sie, entschwebte zusammen mit den Sternen, eine Heilige die in den Himmel auffährt. Eine Erleuchtete ohne Gott, ohne Religion, und doch am Ende des Glaubensweges, im Zustand der völligen Askese, eine lebende Tote, noch an die Erde gebunden und doch schon im Jenseits. Aber dieser Zustand schien Mike nicht erstrebenswert, all die Mönche, die Derwische, die nichts anderes suchten, als sich in der Ewigkeit zu verlaufen, die sich selbst in enge Zimmer einsperrten und die Fenster verdunkelten.
Am Ende blieb er alleine zurück, auf dem Weg von nirgendwo nach nirgendwo.
6
Mike fand den Weg durch die Nacht, schleppte sich schließlich die knarrende Treppe hinauf und versuchte nicht mehr daran zu denken, wie armselig sein Besuch gescheitert war, wie mühelos Toni ihn abserviert hatte. Hoffentlich hatte Ali noch nicht das ganze Bier getrunken, er würde eines brauchen um einzuschlafen. Er öffnete die Tür. Der triefende Geruch kalter Pizza kam ihm entgegen, der sofort die Erinnerung an Tonis Wohnung weckte. Groteskerweise schien es sogar die selbe Sorte zu sein, Salami mit Peperoni. Mike suchte nach dem Schalter und knipste das Licht an.
»Hallo Mike.«
Eine Waffe richtete sich auf ihn.
Er erstarrte. »Was zum...?«
»Bleib stehen,« sagte Ali. Er saß auf der Couch, die Hand lässig über die Lehne geworfen, darin funkelnd seine Halbautomatik, die auf Mike zielte, »und mach die Tür zu.«
Er rührte sich nicht, starrte nur entgeistert in den schwarzen Lauf der Pistole, versuchte auch nichts zu sagen, denn sein Verstand hatte wie sein Herz ausgesetzt, hatte sich durch seine Augen auf die Mündung geheftet und folgte ihr hypnotisch.
»Jetzt glotz nicht wie ein Reh ins Scheinwerferlicht, mach endlich die scheiß Tür zu!«, zischte Ali.
Er gehorchte. »Ali, was zum Teufel tust du?«
»Komisch, das gleiche wollte ich dich fragen«, entgegnete dieser.
»Was? Wovon redest du?«
»Stell dich nicht dumm, Arschloch. Ich weiß, dass du bei den Bullen warst, Cavelli hat davon Wind bekommen. Was bist du, so'n scheiß Undercover Bulle? Oder bloß ein Verräterschwein?«
Mike schüttelte den Kopf, nicht als Antwort auf die Frage, sondern aus Ärger über seine eigene Kurzsichtigkeit. Toni tat ganz recht daran, ihn wie ein kleines Kind zu behandeln, denn genau so naiv und dumm hatte er gehandelt. Toni hatte sicher Cavelli angerufen und ihm alles erzählt, oder vielleicht auch nur auf das dämliche Tonband ohne Ansage gesprochen, und wohl auch erwähnt, dass Mike alleine es war, der sich da in seine Privatangelegenheit einmischte. Offensichtlich wollte Cavelli das Problem schnell beseitigen, hatte wohl im Gegensatz zu Toni nichts für gutes Zureden und Beschwichtigungen übrig.
»Ich war nicht bei...«, begann er und trat einen Schritt nach vorne.
Die Mündung zuckte nach oben, zielte genau auf seine Brust und Alis Augen funkelten ihn böse an. Mike wich zurück, zwang sich ruhig zu sprechen, ruhig zu denken, einen Ausweg zu suchen und nicht Panik zu geraten. Dicke Tropfen fielen von seinem Schirm auf den Boden, klopften einen schrecklichen Takt, der in dem Schweigen immer lauter wurde, an dessen Ende sich jeden Moment ein Schuss einreihen könnte.
»Ali, hör mir zu. Ich war nicht bei der Polizei, ich hab mit denen nichts...«
»Erspar mir deine Lügen«, fuhr Ali dazwischen.
»Cavelli will mich loswerden, aber nicht weil ich geredet habe«, sagte Mike.»Komm schon, du weißt, dass ich sowas nicht machen würde.«
»Ich weiß gar nichts mehr«, sagte Ali, begleitet von einem leichten Kopfschütteln. Sein Ton verriet, dass er sich Mike nicht als Verräter vorstellen konnte, aber seine Hand hielt die Waffe weiter fest umklammert. »Was kümmert's mich? Wenn der Boss dich tot sehen will, wird er schon seine Gründe haben.«
»Das ist es ja gerade! Das hab ich auch immer gedacht, bei dem Mädchen, das wir entführt haben, dass er irgendeinen Grund hat, aber ich war bei Toni, hab die ganze Scheiße gesehen, und... verstehst du... er hat keine sinnvollen Gründe. Der Typ ist wahnsinnig oder... ich weiß auch nicht. Aber er will mich nur loswerden, weil ich seinen Mist nicht mehr glaube ohne nachzudenken. Darum sollst du mich umbringen, nicht weil ich irgendwas gemacht hab, sondern weil er nur Leute haben will, die hirnlos alles tun was er ihnen auf die Mailbox quatscht und ich das nicht mehr bin. Vielleicht ist er nicht mal real, hast du mal daran gedacht? Wir haben ihn nie gesehen oder gesprochen und ich glaub Toni auch nicht. Nichts als eine Stimme auf dem Tonband und wir glauben jedes Wort, glauben an ihn, als ob er Gott wäre. Denk mal nach, Ali. Denk mal nach ob es richtig oder falsch ist, was du tust und lass nicht andere das für dich machen, lass nicht...«
»Hörst du eigentlich was du da für einen wirren Scheißdreck laberst?«, sagte Ali. »Du bist doch nicht mehr ganz saube, so ein Blödsinn, Cavelli existiert nicht. Meine Fresse... sein Geld zumindest existiert sehr wohl und mir ist das genug.«
Alis Gesicht lief rot an, am Hals trat eine heftig pulsierende Ader hervor, die Augen zu winzigen Schlitzen zusammengepresst, aus denen kalter Zorn funkelte, aber daneben auch etwas anderes, etwas, dass Mike für Scham hielt, und dass den Zorn nur noch gefährlicher machte. Schlagartig wurden ihm zwei Dinge klar. Erstens, dass Ali Cavellis Lügen über ihn nicht glaubte. Zweitens, dass er sie gerne geglaubt hätte, weil er ihn trotzdem erschießen würde. Plink. Noch ein Tropfen fiel von dem Schirm auf den Boden und Mike fragte sich, wie viele Tropfen er noch zu leben hatte, wie lange es dauern würde, bis Ali sich entschließen würde den Abzug zu drücken, bis die Lichter ausgingen und er in der Dunkelheit versank. Plink. Dann hatte er eine Idee.
Alis Augen fixierten ihn nicht mehr, wanderten unruhig hin und her, wägten ab, ob er schießen sollte oder ob es noch etwas zu sagen gab. Mike hob langsam die Hand, taste sich an der Wand entlang, den Blick immer noch auf die Mündung der Pistole gerichtet. Einen schrecklichen Moment lang war er sich nicht mehr sicher, ob es überhaupt einen Lichtschalter neben der Tür gab, dann aber berührten seine Finger das Plastik, er drückte zu und warf sich im selben Moment zur Seite.
Er schlug hart auf der Schulter auf, gleichzeitig zerriss ein donnernder Knall die Stille, zwei Kugeln krachten in die Tür, vor der er eben noch gestanden hatte. Sein Herz begann zu rasen, pochte so laut in seiner Brust, dass Ali es zweifellos hören musste. Wie zur Bestätigung sauste ein weiterer Schuss durch die Luft, diesmal deutlich näher, so nah, dass er glaubte den Luftzug an seiner Schläfe zu spüren.
„Noch einer und er trifft”, dachte Mike, aber es blieb still. Er hörte wie Ali sich auf der Couch bewegte, heftig schnaufend aufstand und brüllte: »Du Wichser!«
Mike setzte sich auf, kam mit langsamen und vorsichtigen Bewegungen wieder auf die Beine, versuchte dabei so leise wie möglich zu sein, um sich nicht zu verraten, hielt sogar die Luft an, weil selbst sein eigener Atem ihm so laut wie das Keuchen einer Dampflok vorkam. Aber Ali lauschte nicht, er stolperte ungelenk durch die Dunkelheit, jeder Schritt begleitet vom Klappern seiner Adiletten auf dem Fußboden. Er brauchte sich nicht um Heimlichkeit zu bemühen, nicht solange er seine Halbautomatik trug. Die Schritte bewegten sich auf die Tür zu, schnitten ihm den Weg nach draußen ab. Und näherten sich dem Lichtschalter.
Mike kauerte auf dem Boden, dachte an seine eigene Waffe, die im Schlafzimmerschrank lag, wäre am liebsten los gesprintet um sie zu holen. Doch der Weg führte quer durch den Raum, nicht nur vorbei an Ali, sondern auch an zahllosen Hindernissen, Stühlen, herumliegender Kleidung, einer Menge Zeug, das eigentlich in den Mülleimer gehörte, Dinge, die es unmöglich machten sich in der Dunkelheit schnell genug zu bewegen. Gleich hinter ihm war die Kochnische, er könnte ein Messer aus der Schublade nehmen, würde sich dabei aber durch den Lärm verraten. Und wozu war das Messer noch gut, sobald Ali den Lichtschalter erreichte? Seine Hand stieß gegen Tonis Regenschirm, fuhr über den gebogenen Holzgriff und streifte das noch feuchte Nylon. Keine so gute Waffe wie ein Messer, aber alles, was er hatte..
Das Klacken von Alis Schuhen näherte sich, kam knapp vor ihm zum stehen, so nahe, dass Mike seinen Atem hören konnte, seine Wärme spürte, meinte sogar das Geräusch der Finger, die an der Wand nach dem Schalter tasteten zu vernehmen. Ihm blieb keine Zeit nachzudenken, zu zögern, Mike sprang aus seiner Hocke auf, den Schirm mit beiden Händen ergriffen und stieß ihn wie eine Lanze nach vorne, in die atmende, schwitzende Dunkelheit. Er stieß ins Leere, rammte die Spitze nur immer tiefer ins Nichts, wusste, dass er ihn verfehlt hatte, langsam ließ der Schwung nach Er würde nach vorne überfallen, sich vielleicht dabei den Schädel brechen und Ali eine Kugel sparen. Dann traf die Spitze auf Widerstand, traf auf eine Rippe die mit einem dumpfen Knacken brach, glitt daran ab und schlitterte seitlich am Körper vorbei. Ali schrie vor Schmerz und Überraschung auf, taumelte nach hinten und drückte reflexartig ab. Ein winziger Blitz leuchtete auf, erhellte die Mündung, aus der die Kugel austrat, ins Nichts flog und schließlich in die Decke einschlug. Das Licht brannte sich in seine Netzhaut ein, hinterließ ein schimmerndes Abbild darauf. Er riss den Schirm zurück, holte aus und schlug nach dem verblassenden Fleck auf seiner Retina. Die Waffe fiel aus Alis Hand und landete scheppernd auf dem Boden.
Mike wollte erneut ausholen, aber in dem Moment stürzte sich Ali auf ihn und riss ihm mit seinem wuchtigen Körper zu Boden. Mike schlug hart mit dem Kopf auf den Boden auf, und die Dunkelheit war auf einmal voll tanzender weißer Punkte, Sterne. Er spürte Alis Atem, widerwärtigen heißen Atem, der ihm ins Gesicht blies, ein fettiger Geruch nach Bier und Pizzakäse, spürte wie er sich über ihm wand, keuchend, stinkend.und schwitzend. Mike dachte nur daran, dass er nicht mit diesem Gestank in der Nase sterben wollte, versuchte sich aufzuraffen, doch eine kräftige Hand drückte ihn nieder, und als er nach ihr griff um sie wegzudrücken explodierte ein heftiger Schmerz an seinem Kiefer, ein Schlag, der seinen Kopf zur Seite riss und wieder gegen den Boden hämmerte. Ali lag auf ihm, fletschte die Zähne wie ein Raubtier, war in der Dunkelheit zu einer Bestie mutiert, einem Ungeheuer mit roten Augen und gewaltigen Zähnen und Klauen, mit denen es ihn bei lebendigem Leibe zerfleischen würde. Wieder traf ihn ein Schlag ins Gesicht und warmes Blut rann aus seiner Nase, verteilte sich auf seinen Lippen, ein klebriger, kupferner Geschmack.
Kräftige Hände schlossen sich um Mikes Hals, und drückten zu. Er schlug mit den Armen in die Dunkelheit über ihm, traf Alis Schultern, doch dessen Finger drücken unbarmherzig fester zu. Die Kraft wich aus seinen Gliedern, die Luft brannte heiß und ungenutzt in seiner Lunge und er sank tiefer in die Schwärze hinab, eine dunkles Samt, dass ihn umfing, ihn sanft aufnahm in seine Ewigkeit. Er griff nach den Klauen der Bestie, konnte aber ihren mörderischen Griff nicht lockern, hatte keine Kraft mehr, ließ schließlich die Arme sinken. Dabei streiften seine Finger an Metall entlang, nicht die Spitze des Regenschirms, es war der kalte, ölige Lauf von Alis Waffe. Mike versuchte die Pistole zu greifen, doch seine Finger waren taub, gehorchten ihm nicht mehr, zuckten ziellos im Todeskampf, schlossen sich schließlich doch um den Schaft, glitten in den Abzug und drückten ab.
7
Um die Leiche bildete sich eine dunkelrote Blutlache. Mike versuchte nicht hinzusehen, wollte nicht daran denken, was er gerade getan hatte, oder eher was jemand getan hatte, denn er selbst hätte sicher niemals seinen Partner erschossen. Aber das Brennen in seiner Kehle, sein steifer und geschwollener Hals erinnerten ihn in aller Deutlichkeit an den Kampf mit der Bestie.
Gut möglich, dass jemand die Schüsse gehört und die Polizei verständigt hatte. Er musste verschwinden, bevor sie eintrafen, holte eilig seine Waffe aus dem Schlafzimmer, zudem einen abgenutzten Schraubenzieher, den Ali seinen Generalschlüssel nannte und machte sich davon.
Der Regen hatte nachgelassen, war aber immer noch unangenehm kalt und peitschend. „Zu dumm, dass ich den Schirm kaputt gemacht habe”, dachte er und stieß ein dumpfes Gelächter aus, ohne zu wissen, was genau er daran komisch fand. Diesmal hatte er keine Mühe Tonis Wohnung zu finden, es war als gäbe es nur noch einen Weg für ihn, eine Richtung, ohne die Möglichkeit einer falschen Abzweigung. Ein Weg im Dunkeln unter den tausenden, unendlichen Sternen, durch die Leere auf einer Straße von Nirgendwo nach Nirgendwo. Vor etwas über einer Stunde war er den selben Weg schon einmal gegangen, und wäre ihn doch nie gegangen. Dieser Mike war nun tot, von Ali erschossen weil er nur jämmerlich um Gnade gewinselt hatte. Mehr als ein Leben später ging er wieder durch die Straßen, stand schließlich, wieder völlig durchnässt, vor dem Haus mit dem vernagelten Fenster.
Im ersten Stock blieb er vor der Wohnung ohne Namensschild stehen und lauschte. Es war nichts zu hören. Er lehnte sich dagegen, zunächst leicht, dann mit zunehmendem Druck bis sich ein winziger Spalt zwischen Tür und Rahmen auftat. In diesen schob er den Schraubenzieher, stemmte sich gegen den Griff und die Tür sprang auf.
Er ließ den Schraubenzieher achtlos zu Boden fallen, zog seine Waffe und hielt sie gegen die Brust gepresst. Eine einzelne Glühbirne hing von der Decke und tauchte die Wohnung in ein gelbliches Licht, das seltsame Schatten an die Wand warf. Als Mike eintrat erweckte der Luftzug sie zum Leben, ließ sie in bizarren Schemen über die Wände kriechen. Mike folge ihnen nervös, überzeugt, dass einer dieser Schatten Toni sein musste, der nur auf den richtigen Moment wartete, sich auf ihn zu stürzen. Doch nichts geschah, nur eine gespenstische Stille breitete sich in dem Raum aus, der den Schall zu verschlucken schien.
Sein Blick fiel auf etwas in dem dunklen Gang, etwas, das zunächst wie ein weiterer herumstehender Karton ausgesehen hatte. Aber es war etwas anderes, die Form stimmte nicht, die Textur war zu organisch. Er trat näher, und sah, dass Toni dort am Boden lag, grauenhaft zusammen gekrümmt, als ob sich alle seine Muskeln gleichzeitig verkrampft hätten. Sein Gesicht war eine verzerrte Fratze, wie von seinem eigenen Kiefer zermalmt, die Augen zu einem Ausdruck des Entsetzens geweitet. Seine Hand lag neben einem Telefonkabel, dass er offenbar gerade eingesteckt hatte. Konnte man überhaupt von einer Telefonbuchse einen Stromschlag bekommen? Mike konnte es sich nicht vorstellen, und selbst wenn, die Leiche sah nicht nach einem Stromschlag aus, vielmehr wie jemand der von seinen eigenen Muskeln zerquetscht wurde.
Er wandte sich von der grausigen Szenerie ab und folgte dem Kabel, welches sich quer durch den Gang schlängelte und unter einer geschlossenen Tür verschwand. Dahinter musste das Mädchen liegen, in ihrem finsteren Gefängnis, verpestet von heißer, giftiger Luft. Weshalb Toni dorthin ein Telefon verlegt hatte war ihm ein Rätsel. Von drinnen vernahm er ein merkwürdiges Raunen, etwas, dass wie hastiges Flüstern in einer fremden Sprache klang. Als er seine Hand auf den Griff legte war dieser kalt, so eisig, dass es ihm wie ein elektrischer Schlag vorkam, und er riss den Arm ruckartig weg, war sich einen Moment lang sicher war den selben schrecklichen Tod wie Toni sterben zu müssen. Als nichts dergleichen geschah starrte er schamvoll auf seine Finger, als müsse es dort eine Wunde, eine Spur von dem geben, dass ihm einen solchen Schreck eingejagt hatte. Ganz hatte er den Mike, der beinahe vor einer offenen Haustür kapituliert hatte wohl noch nicht hinter sich gelassen. Er streifte sich den Hemdsärmel über die Handfläche und öffnete die Tür.
Vor ihm tat sich eine gähnende, schwarze Leere auf, eine Dunkelheit, die mehr als die Abwesenheit von Licht war, eine positive Dunkelheit die sich dem Licht aus dem Gang verweigerte, es abstieß. Frostige Kälte strömte ihm entgegen und doch trat er näher, getrieben von einer unbezwingbaren Neugier die stoffliche Schwärze zu berühren, mit seinen Händen in die Wirklichkeit zu bannen, was seinen Augen unmöglich schien. Es war, als ob seine Finger in dichten Eisnebel eintauchten. Das Flüstern wurde nun lauter, schwoll zu einem Grollen, aus dem sich schließlich eine Stimme erhob.
»Verschwinde, Mikey. Das hier geht dich nichts an.«
Mike wich zurück und wäre dabei beinahe über das Kabel gestolpert. Es war Cavellis Stimme, verzerrt und richtungslos, so, als ob nicht jemand in dem Zimmer, sondern der Raum selbst spräche. »Cavelli, sind Sie das?«, fragte er.
»Hau ab! Hau ab, wenn du nicht wie Toni enden willst.«, hallte es zurück.
»Nein«, erwiderte Mike, denn er spürte, dass die Drohung nichts als ein Bluff war, dass Cavelli nur Macht über jene hatte, die es zuließen. »Sie haben mir nichts mehr zu sagen.«
Aus dem Raum kam ein wutentbranntes Brüllen, kaum noch ein menschlicher Laut, mehr die Resonanz der Zornes in dem kalten Nebel. Schwarze Fäden schossen daraus hervor und Mike sprang zur Seite. Doch sie griffen gar nicht nach ihm, flogen viel mehr auf Tonis Leiche zu, schwirrten wie Insekten um diese herum und schienen sich schließlich in Luft aufzulösen. Dann zuckte der Körper, reckte die Arme empor, versuchte sich aufzurichten und auf die Beine zu kommen, die nur noch Fetzen zerstörten Fleisches waren. Der Kopf hob sich quälend langsam und tote Augen starrten ihn an, nicht bösartig, eher mit einem traurigen, verirrten Ausdruck. Sein Kiefer bewegte sich auf und ab, aber die Worte waren totgeboren, geformt von einer zerfetzen Zunge, nicht viel mehr als ein blutiges Gurgeln in der Kehle. Trotzdem glaubte Mike in ihnen ein Flehen um Hilfe zu hören, schlimmer noch, glaubte in dem Blick Toni zu erkennen, dem Cavellis böser Wille die Erlösung des Todes verweigerte. Die Kreatur kroch vorwärts, näherte sich in einer grotesken Mischung aus Kriechen und Krabbeln, schob dabei mit seinen gebrochenen Fingern das Telefonkabel auf dem Boden vorsichtig zur Seite. Mike wich mit winzigen Schritten zurück, ein unbewusster Automatismus, denn das Entsetzen löschte jegliche Vernunft aus seinem Verstand. Entsetzen vor allem über die Möglichkeit, dass in diesem sich bewegenden Haufen Fleisch auch noch etwas von Toni steckte, dass es nach dem Tod noch eine Existenz wie diese geben konnte, dass dieser vielleicht nicht nur eine Erlösung von fleischlichen Schmerzen, sondern auch der Übergang zu etwas schlimmerem sein konnte, etwas bei dem die Agonie des Sterbens bloß noch eine süße Erinnerung war.
Die Waffe war schwer wie Blei geworden, er konnte sie nur in Zeitlupe heben und seine Hände zitterten, durchnässt von kaltem Schweiß. Er wollte noch eine Warnung aussprechen, die Aufforderung nicht näher zu kommen, oder er würde schießen, doch der Anblick ausgekugelter Gelenke und gebrochener Knochen, die sich entgegen jeder Physiologie auf ihn zubewegten ließ die Idee, an dieses Ungeheuer zu appellieren geradezu lächerlich erscheinen. Er feuerte, ein Schuss riss Tonis Wange entzwei, andere schlugen in seine deformierten Glieder ein, doch sie blieben wirkungslos, zerstörten das Fleisch, aber nicht den unbändigen Willen, der es bewegte. Mike stand jetzt mit dem Rücken gegen die Eingangstür und musste den Impuls unterdrücken diese einfach aufzureißen, loszulaufen, auf die Straße, fort in die Nacht, wo er diese Scheußlichkeit nicht mehr sehen musste.Wo er wieder glauben durfte, dass etwas derartiges nicht existieren kann, dass es vielleicht einen Ali gab, der ihn mit seinen Klauen erwürgen wollte, der sich aber von einer Kugel in den Kopf stoppen ließ. Das hier war etwas anderes, ein Bruch der Regeln, ein Verstoß gegen alles, was sein durfte. Seine Kehle brannte bei der Erinnerung, wie von unsichtbaren Händen zugeschnürt und Alis Stimme dröhnte in seinem Kopf, der Kampfschrei einer Bestie, ganz anderes als das Gebrüll reinen Zorns aus dem dunklen Raum. Er meinte sogar ein verschwommenes Trugbild Alis zu sehen, hinter dem kriechenden Etwas aufragend, der reale Schrecken hinter dem surrealen. Paradoxerweise verschwand damit seine Angst, die Panik wich aus seinen Gleidern und Mike wurde klar, dass ihn diese traurigen, verendeten Finger nicht erwürgen konnten, dass alles nur eine Täuschung Cavellis war, ein Versuch ihn zu verscheuchen.
Er betrachtete die Blutspur der Kreatur auf dem Boden, wie sie einen sichtbaren Bogen um das Kabel machte, ihm bewusst ausgewichen war. Und plötzlich begriff er, verstand alles, nicht auf einer rationalen Ebene, nicht durch Logik, sondern intuitiv, getrieben von einem Gefühl, einer inneren Stimme, die ihm sagte was zu tun war. Die sich nicht vor untoten Kreaturen fürchtete, weil für sie die physikalische Unmöglichkeit keine Rolle spielte, für die das schwarze Zimmer und das Telefon keine surrealen Stücke eines verborgenen Puzzles waren. Er fragte sich, ob diese Stimme schon immer zu ihm gesprochen hatte und er erst jetzt anfing zuzuhören, aber er kam zu keiner Antwort. Die Zeit für Fragen und Zweifel war vorbei. Schon ein ganzes Leben lang.
Mike stürmte vorwärts, stieß die kriechende Kreatur, die einmal Toni gewesen war beiseite, mit lächerlicher Leichtigkeit, die seine Angst von vor ein paar Sekunden albern aussehen ließ, und ergriff das Kabel, das in dem Zimmer verschwand.
Ein grausiger Schrei drang aus der Dunkelheit, keine Stimme mehr, keine Worte, nur noch laut gewordene Wut. Aber nicht nur Wut, Mike kam es eher wie ein Angstschrei vor. Er riß an dem Telefonkabel, zog es aus der stofflichen Finsternis, die als unsichtbarer Rückstand daran haften blieb und in kalten Schlieren seine Finger benetzte.
»Nein! Tu das nicht Mike, das darfst du nicht.«, sagte Cavelli, »Bitte, ich bin so kurz davor.«
Meter um Meter holte er aus dem Raum, mit wachsendem Eifer, angetrieben von Cavellis erbärmlichem Flehen.
»Bitte Mike, ich kann dir Geld geben, soviel du willst, bitte lass mich wenigstens zurück, bitte lass mich nicht in...« Dann brach die Stimme ab.
Am Ende des Kabels hing ein Anrufbeantworter, eine unförmiges altes Ding mit Tonband und dicken, abgenutzten Knöpfen, dass er ruckartig über den Fußboden schleifte. Mike betrachtete das Gerät verwundert, ein zufriedenes Lächeln im Gesicht. Dann drückte er den Abspielknopf.
Es sprach eine weibliche Stimme, leise, ein wenig heiser, wie am morgen, gleich nach dem Aufstehen. »Danke«, sagte sie.