- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 7
Welches Schweinderl hätten S' denn gern?
Mit zufriedenem Lächeln ging sie die Wochenstatistik durch. Hin und wieder murmelte sie ein „Geht doch“ und setzte mit ihrem Bleistift einen Haken, der so hart war, dass die Spitze brach. Zum Schluss berechnete sie das Verhältnis zwischen abgehakt und noch zu erledigen. Wie so oft kam sie zu dem Ergebnis, dass ihre Quote überdurchschnittlich gut war. Um ihren Erfolg noch eine Weile zu genießen, schlenderte sie hinüber in die kleine Teeküche. Aus dem Kühlschrank nahm sie die Tüte mit dem Orangensaft, den sie für besondere Anlässe dort aufbewahrte. Für gewöhnlich trank sie nur Wasser. Sie goss sich ein halbes Glas voll und schlürfte genüsslich an dem Saft, ließ ihn im Mund hin und her wandern, als ob sie einen edlen Wein verkosten würde. Mit einem langgezogenen „aah“, was ihrer tiefen Befriedigung Ausdruck verlieh, schluckte sie das süßsaure Getränk hinunter.
Wahrscheinlich war es seine Arbeit am Menschen, die Viktor eine bewundernswerte Gelassenheit verlieh. Vielleicht war es aber auch seine Gelassenheit, die ihn seine Arbeit mit soviel Bedacht ausführen ließ. Er hatte Achtung vor den Menschen, wenn seine feingliedrigen Hände ihre Körper berührten. Immer begann sein Werk an den Füßen und von dort arbeitete er sich langsam zum Kopf vor. Er streckte hier und richtete dort. Die Schweigsamkeit, die dabei herrschte, empfand Viktor sehr wohltuend. Höchst selten unterbrach er die Stille, indem er ihnen eine Frage stellte, ohne wirklich eine Antwort zu erwarten. Er hatte mit den unterschiedlichsten Menschen zu tun, dennoch behandelte er sie alle gleich. Nur bei Kindern, da tat Viktor sich schon mal schwer.
„Lola rennt“ war ihr Lieblingsfilm. Wenn Marie-Lou durch den Vergrößerungsspiegel ihrer Speziallampe schaute, dann sah sie Lola rennen. Links, über die Mitte nach rechts, rechts über die Mitte nach links. Rennen, rennen, rennen. Den sengenden Geruch, der dabei entstand, hielt Marie-Lou für sich am Asphalt reibender Gummisohlen. Lola rannte rhythmisch, nahm große Kurven und kleine Kurven. Die Strecken waren irgendwie immer gleich und doch war es jedes Mal neu. Wie im Film.
Marie-Lou hörte es nicht, wenn ihre Kundinnen erzählten. Das verhinderten die Kopfhörer ihres MP3-Players, die unter dem langen, vollen Haar kaum zu erkennen waren. Auch diesmal verstand sie kaum ein Wort, als die Kundin loslegte:
„Ob es nur Zufall war, dass ich meinen Heinrich kennen gelernt habe? Jetzt ist er tot, mausetot. Wir hatten eine schöne Zeit, müssen Sie wissen. Meistens jedenfalls. Na ja, ich meine, in der besten Ehe gibt es mal Streit, das gehört einfach dazu. Oder etwa nicht? Sind Sie verheiratet? Obwohl, so jung wie Sie sind.“
Marie-Lou war kein unfreundlicher Mensch. Wenn sie spürte, dass ihr Gegenüber eine Unterhaltung wünschte, dann ließ sie Lola anhalten und schaute auf. Meistens genügte ein verständnisvolles Lächeln oder ein fragendes Hochziehen der Augenbrauen, um den Eindruck zu erwecken, dem Gesagten gefolgt zu sein. Auch diesmal genügte es. Als Marie-Lou sah, dass der Mund der Frau sich erneut in Bewegung setzte, blickte sie wieder nach unten durch die Lampe, hinein in Lolas Universum.
Nachdem sie das leere Glas in die Spüle gestellt hatte, ging sie zurück in ihr Büro. Sie setzte sich auf den Stuhl mit der ergonomisch geformten Rückenlehne, dessen Anschaffung sie hartnäckig durchgesetzt hatte. Sie arbeitete viel, da musste sie an ihre Gesundheit denken. Es war Zeit sich um die Unerledigten zu kümmern. Sie verschränkte die Hände und drückte sie durch, bis ihre Fingerknochen knackten. Jetzt war sie bereit. Bereit für ihren Feldzug gegen die Unmoral ausufernder Maßlosigkeit. Ihre Waffen, die sie aus der Ferne mittels Knopfdruck an ihrem PC abfeuerte, waren effektiv. Manch einer fiel schon beim ersten Schuss, was man im Hause am liebsten sah. Doch sie verachtete das schnelle Kleinbeigeben und hielt mehr von einem Gefecht, in dem sie den Gegner unter dauerhaften Beschuss stellte. Sie rechtfertigte dies mit der Absicht ein pädagogisches Ziel zu verfolgen. Nur wer die Geißel eines harten Kampfes erfahren hatte, so glaubte sie, war in der Lage zu bereuen. Nicht, dass sie Absolution erteilte. Das war nicht ihre Aufgabe. Sie richtete schließlich nicht, sie vollstreckte nur.
Viktor hätte dem Mann gerne in die Augen gesehen, während er ihm die Frage nach seiner Ehe stellte. Aber das konnte Viktor nicht und mit Sicherheit hätte es auch gar keinen Sinn gemacht. Sie wären ebenso stumm geblieben wie der soeben Befragte. Die Augen, so hieß es, sind das Tor zur Seele. Für Viktor aber blieben die Tore verschlossen, was er letztendlich akzeptierte, denn die Seele hätte er längst nicht mehr gefunden.
Seit einer halben Stunde saß Marie-Lou auf dem lederbezogenen Hocker mit den Rollfüßen und wartete auf die nächste Kundin. Durch eine geringfügige Bewegung ihrer Hüfte fuhr sie unentwegt vor und zurück, aber immer nur so weit, wie der Raum des Quadrats einer einzelnen Fliese zuließ. Über die schwarzen Stöpsel, die sich wie Blutegel in ihre Gehörgänge saugten, dudelte die Musik in ihr Gehirn. Die Wanduhr mit dem kitschigen Werbeaufdruck tickte mit derselben gleichmäßigen Unermüdlichkeit wie der Herbstregen vom Himmel fiel. Marie-Lou starrte durch die Glasfront nach draußen. Wie gerne hätte sie Lola vorbei rennen sehen. Tatsächlich liefen nur selten Passanten vorbei, denn der Laden lag in einer kleinen Nebenstraße.
Sie legte die Wochenstatistik ungelesen zur Seite. Der Brief, der in der Morgenpost gewesen war, ließ alles in Frage stellen, wofür sie sich so redlich mühte. Sie wollte die Menschen etwas lehren. An der Einsicht, dass es Unbelehrbare gab, trug sie schwer.
Die Tatsache, dass Unbelehrbare wegstarben, war nahezu unerträglich.
Die Möglichkeit jedoch, allen nachfolgenden Generationen, per omnia saecula saeculorum, die Absolution von der Erbsünde zu erteilen, war schlicht und ergreifend ein Kündigungsgrund.
Der Betreff „Nachlassinsolvenz Heinrich Gutmann“ hatte ihren Magen krampfen lassen, so dass sie früher als üblich das Inkassobüro verließ. Im Kühlschrank vergammelte der Orangensaft.
Viktor begutachtete sein Werk und war zufrieden.
„Ruhe sanft, Heinrich“, dachte er und schloss den Deckel.
Eigentlich hätte Marie-Lou selbst darauf kommen können. Lola war im Film schließlich nicht nur gerannt, sondern auch gestorben. So war es die letzte Kundin gewesen, die ihr den Geistesblitz bescherte. Marie-Lou hatte noch nicht oft Geistesblitze gehabt. Morgen jedenfalls würde sie ihrer Chefin von der Idee erzählen. Diesmal sah sie Lola nicht rennen, während sie durch das Vergrößerungsglas der Speziallampe schaute. Sie musste über einen passenden Werbespruch nachdenken wie zum Beispiel:
„Kalte Hände, schöne Hände – Nagelstyling für jeden Anlass“