Wellensog
Ich habe dem Haus, in dem ich Jahre verbracht habe, den Rücken gekehrt. Ob diese Jahre gut oder schlecht zu nennen sind, weiß ich nicht. Früher hätte ich vielleicht darauf antworten können. Heute nicht mehr. Sie geht den Hügel aus trockenen Graswogen hinauf. In Wellen rauscht das Gras im Wind. Schreiende Krähen zerreißt er hoch am Himmel und sie beäugen den taumelnden Menschen da unten.Ich weiß wie es aussieht; ganz klein, schwarz von hier oben wie ein Maulwurf. Rauch quillt aus dem Schornstein, denn den Ofen habe ich angelassen. Meine Katze sitzt noch dort und weiß nicht, dass ich fort gehe. Sie fängt sich die Mäuse selber. Sie braucht mich nicht. Ich weiß wie alles dort unten aussieht. Ich weiß, wie einsam das Häuschen wirkt, neben dem einzigen hageren Baum, einer ältlichen Birke, die um ihre letzten Blätter kämpft. Vor ihren Auge schläft das alles weiter vor sich hin, doch sie dreht sich nicht um, damit der stete Wind es langsam verblassen lässt.
Ihre Schritte sind schnell. Ich bin kein schlendernder Träumer. Sehr bald hat sie den Strand erreicht und sitzt im feuchten Sand. Ein bisschen Rauch quillt noch im Kopf, doch sie schließt kämpferisch die Augen und streckt den Kopf dem Wind entgegen. Ihr Kopf ist schnell, so schnell wie die Füße.
Erstaunlich, wie schnell es doch geht. Jetzt ist es soweit. Die Grenzen ihrer Welt haben sich mit diesem letzten Windschritt verschoben. Hinter der Düne ist nichts, hinter dem Meer ist alles. Der leergeräumte Blick kann jetzt endlich dem Wellenrhytmus folgen. Sie brechen sich in kräuselndem Schaum, Algenfäden mit sich saugend und sie wieder fortreißend. Ich weiß nicht wie diese Wellen schlagen.
Sie wendet sich ab, sieht zum Himmel hinauf. Es ist ein lebloser Himmel, in dem irgendwo ein gelber Sonnenfleck flimmert. So blass wie das graue Blau in dem sie liegt.
Wenn sie doch nur brennen würde, oder Regen fallen könnte. Von mir aus Sternenlicht, ein schwebender Sichelmond, tintenschwarze Dunkelheit. Alles würde helfen.
Das Wasser schlägt weiter mit ruhiger Gewalt ans Ufer. Die Algen treiben willenlos darin, wenige bleiben im Sieb des feuchten Sandes hängen. Die Frage ist gehen oder schwimnmen und ich weiß keine Antwort. Fliegen kann ich nicht. Hilflos wie sie ist, spielt sie mit dem Sand und lässt ihn durch die Finger rieseln. Er fällt nordwärts gereckt zu Boden, und verschwindet darin. Ich will kein Sand sein.
Seit sie durch die Graswogen hier hinauf gekommen ist, ist eine Ewigkeit vergangen. Vielleicht fünf Minuten. So lang, ich weiß gar nicht mehr, wie ich das geschafft habe. Ein Zurück gibt es jetzt nicht mehr
Salzwasser schlägt um ihre Knöchel, Grün schlingt sich um die Waden und lässt nicht mehr los. Bis zu den Knien noch steigt Wasser, dann fällt der Körper mit einem Mut ins Meer hinein, der die Sonne leuchten lässt. Schwimmen gegen Wellendruck und nagende Kälte. Schwimmen gegen das Umkehren. Mit ihr fliehen die ufergeschwemmten Algen dem Land, schwimmen mit schmerzenden Armen, brennender Lunge und Durst auf der Zunge.
Feinkörniger Sand drängt sich durch ihre Zehen, wenn sie durch ihr Gewicht einsinkt. Es knackt, wenn Muscheln zertreten werden. Irgendwo schreien Möwen, doch sie hört es nicht. Was sie hört, ist der stumme Befehl zu laufen. Diese Insel zu umrunden, immer wieder aufs neue, um forwärts zu kommen. Zu laufen gegen Muskelschmerz. Zu laufen gegen das Einsinken.Laufen, um nicht stehen zu bleiben. Jede Stunde die alten Schritte von vorn, bis zur Erschöpfung jagen, niemals fragen.
An ihrem algenumschlungenen Bein zieht Haut wie Sandpapier vorbei. Es brennt mit einer Schärfe, die Atemnod und Durst bei weitem übertrifft. Ein grauer Schatten zieht vorbei, taucht hinab, stößt blitzschnell wieder zurück und zieht seine enger werdenden Kreise mit Ruhe und Geduld. Ich weiß nicht, ob er mich fressen wird. Ich weiß es nicht.
Viel schlimmer noch ist der Himmel, der mich noch immer ganz nackt auf den Sandboden fesselt.
Sie geht nicht, und sie schwimmt auch nicht. Es ist nicht Dunkelheit und auch nicht Licht, und so versperrt es mir die Sicht.
Der salzige Wind zerrt weiter an dem trockenen Körper, noch viele Jahre später, als nichts mehr da ist als bloßer Knochenhaufen. Es wird nichts bleiben als ein wenig Sand, irgendwann. Und vielleicht läuft einmal jemand darüber hinweg. Immer wieder. Einmal. Oder für immer.