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Welt des Jetzt
Staub - funkelnde Sternchen in den Sonnenstrahlen des frühen Markttages. Draußen wogt der Lärm der ersten Händler. Kaamar schließt die Augen. Langsam entfaltet das Agenah-Kraut seine Wirkung. Kaamar sieht, ohne zu sehen. Facetten. Sie strömen vorbei. Er taucht tiefer, quer zur Wirklichkeit, hinab in die Tiefe der Zeit. Einige Bilder hält er fest ...
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Röchelnd fällt der Reiter in den Dreck. Die Stange des Angreifers hat ihn am Hals getroffen. Er holt Luft, will sich aufrichten. Ein Stiefel donnert auf seine Brust, nimmt ihm die Luft. Heißer Atem in seinem Gesicht. Gestank. »Du siehst aus wie ein Zauberer«, zischt der Mann.
Der Reiter will antworten. Aber er kann nur keuchen. Der Mann nimmt ihm den Atem. »Gib mir deine Macht!«, fordert er. Er fängt an, ihn zu durchsuchen. Er nimmt alles, kichert wie im Wahn. Er nimmt auch das Kraut. Dann lässt er von dem Reiter ab, verschwindet.
Langsam bekommt der Überfallene wieder Luft. Irgendwann steht er auf. Irgendwann findet er sein Pferd. Er streichelt es, sieht sich um. Er spürt, dass der Schmerz in seiner Brust eine Ursache haben muss. Aber die liegt verborgen hinter einem Schleier. Er will ihn fort reißen, den Blick dahinter werfen. Aber es gelingt ihm nicht. Er sucht in seinen Taschen nach dem Kraut. Als er es nicht findet, beginnt er zu weinen.
*
Der Kriecher hat keinen Namen. Er weiß nicht, was ein Name ist. Er schiebt sich in eine Pfütze und verharrt. Er weiß nicht, was dreckiges Wasser ist. Jedoch sagt ihm sein Instinkt, dass er hier seinen Durst stillen kann. Der Kriecher trinkt, dann verharrt er erneut. Wartet regungslos. Er weiß nicht, worauf. Er weiß nicht, dass Zeit vergeht. Irgendwann bemerkt er, dass er Arme und Beine hat. Der Kriecher steht auf und sieht an sich hinab. Aha, denkt er, ich bin ein Mensch. Er sieht sich ratlos um.
Am Morast findet er ein krummes, grünes Kraut. Er hat Hunger. Er isst von dem Kraut.
Dann erinnert er sich. Nicht an alles, aber an mehr, als ihm lieb ist.
Schließlich muss er sich übergeben. Irgendwann verblassen einige der Bilder. Eilig sucht er die Umgebung ab. Er braucht mehr von diesem Kraut, bevor er vergisst, was es bewirkt.
*
Die Menschen jubeln dem König zu. Auch Kaamar jubelt. Der Triumphzug führt durch die prächtigen Straßen der Stadt. Nebel zieht herauf, aber Kaamar weiß, dass der damals nicht existierte. Die Wirkung des Krauts lässt nach. Auf dem mit Blumen geschmückten Altar steht der König. Prächtig, stolz, wie er winkt, als er zu sprechen anfängt. Den Menschen die Erlösung verspricht. Die Erlösung von allem, was ihren Geist belastet, ihr Gewissen. Er verspricht das Vergessen, und die Menge jubelt ihm zu. Wie aus der Ferne beobachtet Kaamar den Beginn der Zeremonie. Undeutlich. Farben verschwimmen zu hellem Grau. Er konzentriert sich, mobilisiert all seine Kräfte. So weit in die Vergangenheit ist er noch nie vorgedrungen. Die sechs Zauberer ersteigen den Altar und gesellen sich zum König, der in der Mitte steht. Die Zeremonie beginnt. Fast alles wird weiß. Der König hebt die Arme, er lacht. Kaamars Blick eilt über die im Nebel verblassende Menge. Er kann kaum noch etwas erkennen.
Endlich sieht er sich selbst. Er jubelt.
Dann fällt der sanfte Schleier des Vergessens über die Menschen.
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Die Wirkung des Agenah-Krauts geht vorüber. Kaamars Lider zittern. Flackern. Die letzten Schemen verblassen. Langsam richtet er sich auf. Greift zu einem Kelch mit Wasser, lässt die Tropfen seine kratzende Kehle hinunter rinnen. Dann verrinnen auch die Gedanken, die vorhin noch so greifbar waren. Sie verschwinden hinter dem Schleier des vorletzten Augenblicks. Die Erinnerungen versinken im Irgendwo. Wenig bleibt zurück. Kaamar hustet.
Bald kommen die ersten Kunden des Tages. Sie zahlen für das Agenah-Kraut, sie zahlen für einen Blick in ihre eigenen Erinnerungen. Wenn sie Kaamars Laden verlassen, haben sie fast alles wieder vergessen. Sie laufen durch die Welt des Jetzt, leben weiter vor sich hin in diesem verfluchten Land ohne Vergangenheit. Bis zu jenem Moment, in dem auch Gegenwart und Zukunft ins Nirgendwann verschwinden.
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16.8.05