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Weltenbummler

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25.11.2022
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Weltenbummler

"Bumm bumm pow", sagt der Eritreer, und zielt mit seinen schmutzigen Fingern auf mich, als wären sie eine Pistole. Er lehnt in seinem üblichen Adidasanzug in der offenen Tür des Aufzuges und grinst. Obwohl es hier wie ïmmer nach Pisse, von Mensch oder Tier, stinkt, rieche ich auch seinen alten Schweißgeruch, als ich mich an ihm vorbeischiebe. Die schweren Einkaufstüten schneiden in meine Hände und ich habe keine Zeit oder Lust, irgendwas zu entgegnen, außer: Verpiss dich. Er lacht sein komisches hohes Lachen, macht aber bereitwillig Platz, so dass ich die Fahrstuhltür hinter ihm schließen kann. Ich setze die zwei Tüten ab und atme tief durch.
Im fünften Stock riecht es noch schlimmer als unten und ich weiss, von wem der Gestank kommt. Ich schließe die Tür auf und wie immer schlägt mein Herz schnell, als ich über die Schwelle trete. Im Flur herrscht das übliche Chaos, Zeitungen, Rechnungen, ein Amazonkarton, aufgerissene Tüten mit Katzenfutter, Schnapsflaschen und Bierdosen. "Ich bins, Vale," rufe ich in Richtung Wohnzimmer, während ich mir meinen Weg durch den Abfall bahne. "Was willst Du?", nuschelt es zurück und ich muss ihn geweckt haben. Es ist 16 Uhr. Er liegt auf dem Sofa wie eine halb abgepellte Weisswurst. Er trägt heute eine halbwegs sauber aussehende Jogginghose und ein weißes T-Shirt, das über seinem fetten Bauch hochgerutscht ist. Ich versuche nicht zu genau hinzusehen und suche vergeblich einen Platz auf dem vollgemüllten Boden und Sofatisch, um die Taschen wenigstens kurz irgendwo abzustellen. "Ich bringe das gleich in die Küche", sage ich und drehe wieder um.
"Ja ja", ruft er hinter mir her und " hattest wohl nix besseres zu tun, als mir heute wieder auf die Nerven zu gehen?".
Ich ignoriere ihn und räume die Lebensmittel in den bis auf ein paar Bierdosen leeren Kühlschrank und in das kleine wackelige Sperrholzregal daneben. Katzenfutter hat er auch hier noch. Und zwei Packungen Miracoli. Ich habe Eintöpfe, Fischdosen und lauter Dinge mitgebracht, die er sich auch im volltrunkenen Zustand noch zubereiten, oder die man gleich kalt aus der Packung essen kann und die nie zuviel Töpfe und Geschirr auf einmal benötigen. Mit aufwendigeren Dingen habe ich da schon sehr schlechte Erfahrungen gemacht. In der Spüle stapeln sich wieder Teller mit vergammeltem Zeug, aber heute habe ich keine Zeit, um für ihn zu spülen.
Zurück im Wohnzimmer bleibe ich unschlüssig neben dem Sofa stehen, zum Sitzen ist kein Platz und er hat sich sowieso keinen Millimeter bewegt. "Wann ist denn der grosse Tag?", fragt er und ich sehe von oben auf ihn herunter. Ich sehe schwarze Nasenhaare und die eingetrocknete Kruste auf seiner Lippe. "Heute", sage ich. Er lacht herzhaft und sein Bauch wackelt. Er verschränkt die fleischigen Hände mit den nikotingelben Fingern darüber. Hände, Gott und Teufel, das Knacken der Knöchel, wenn er an seinen Wurstfingern zieht, das Gewicht, die Wucht, die Geschwindigkeit, die sie aufnehmen können, wenn sie ein Ziel haben. Meine Mutter. Mich. Irgendjemand, der ihm auf den Sack geht. " Na, das ist doch prima. So kommst du ja noch zu einer tollen Familie. Kein Grund mehr, sich zu beschweren." Er sagt es völlig ausdruckslos und ich weiss, dass er es nicht ironisch meint, es ist ihm gleichgültig. " Ja", antworte ich nur und weiss nicht, warum ich hier noch herumstehe. Ich habe keine Zeit mehr, er hat genug zu essen, zu saufen sowieso und es gibt nichts mehr zu sagen. Jetzt dreht er den Kopf leicht, um mich besser da über sich ansehen zu können. Dann sagt er etwas, mit fast warm klingender Stimme, wenn man es nicht besser wüsste und ich glaube, ich habe mich verhört. "Was hast Du gesagt?", frage ich, mein Herz rast und das Brennen unter meiner Brust fängt wieder an. "Was hast du gesagt?", wiederhole ich und werde lauter. Mir fehlt Luft und ich klinge abgehackt. "Nutte", wiederholt er jetzt zufrieden. "Deine Mutter hat schon, als du 10 Jahre alt warst, gesagt, dass Du mal eine totale Nutte wirst. Jetzt hau endlich ab, ich muss pennen. Klaus und der Eritreer kommen nachher rüber." Egal, welche Gesellschaft, Hauptsache sie säuft mit.

Ich gehe sehr langsam aus der Wohnung, schließe die Tür vorsichtig, das Brennen hat sich in meinem Bauchraum ausgebreitet und es kribbelt an meinen Haarwurzeln. Nutte. Schlampe. Drecksau. Dumme Kuh. Zurückgeblieben. Ich nehme die Treppe, weil ich etwas anderes fühlen will und Bewegung hilft.

Unten hängt immer noch der Eritreer im Korridor rum. " He, I'm horny", sagt er und deutet eine Wichsbewegung mit seiner Hand an, " Babies machen?". Jetzt sehe ich erst, dass er einen feuchten Fleck vorne auf seiner Jogginghose hat. "Fick Dich" zische ich ihm entgegen, zeige zwei Mittelfinger und verlasse dieses verdammte Viertel so schnell ich kann mit meinem drei Straßen weiter geparkten Auto.

Auf der Fahrt nach Hause werde ich das innere Chaos nicht los , rauche durch das geöffnete Fenster zwei Zigaretten, etwas, das ich sonst nie im Auto mache. Es stinkt. Ich drücke auf dem Handy herum, um irgendein Lied auf meiner Playlist zu finden, das mich schnell beruhigt. Weil das alles nicht funktioniert, stelle ich dann für den Rest des Weges die Musik ab, lasse das Fenster unten und versuche tief ein und auszuatmen. Ich hätte ihm das von der Verlobungsfeier nie erzählen dürfen und habe das schon in dem Moment gewusst, als ich mich selbst den ersten Satz aussprechen hörte. Habe ich denn wirklich gedacht,ich könnte ihn beeindrucken? He, ich habe es geschafft, schau her, und mich will jemand heiraten. Mich. Jetzt staunst Du was. Und er ist richtig nett, hat Kohle und wir feiern Verlobung im Giramondo. Da warst du nie in deinem Leben, was, und kommst da auch nie hin. Da kostet der Wein mindestens 20 Stutz. Das Glas. Verreck in deinem Loch, ich hab jetzt ein richtiges Leben. Ich muss lachen, weil ich das ja nicht wirklich angenommen haben konnte. Verdammt, was habe ich nur gedacht.

Gregor ist oben im Bad und rasiert sich. Als ich reinkomme, legt er den Rasierer weg und nimmt mich fest in den Arm. "Meine Schöne," atmet er in meine Halsbeuge. Ich schließe die Augen für einen Moment und rieche das Duschgel, den Rasierschaum und Gregor selbst. Wir werden goldene Zeiten haben, Kinder wie frisch gepellte Eier, nie wird jemand laut und ich habe eine Putzfrau. Ich werde echte Kunstwerke kochen und nie Schwarzes unter den Fingernägeln haben. Meine Klamotten passen und gehören alle mir. Ich dusche lange, entferne die wenigen übrigen oder nachgewachsenen Härchen überall an meinem Körper, creme mich sorgfältig ein. Ich trete ganz nah an den Spiegel und sehe mir in die Augen. Fühle nichts. Mein Herz schlägt jetzt wieder ruhig und gleichmäßig. Ich male Augen um und über meine eigenen, mache mir den Mund größer und dunkelrot, decke Poren ab, klopfe, pudere, streiche. Jemandes Frau, so sehe ich jetzt aus. Das Kleid von Ellie Saab hängt vor dem Spiegelschrank und ist so schön, dass ich mir fast wünschte, ich müsste es nie anziehen und könnte es einfach immer ansehen. Statt Bildern an der Wand hängen wir einfach das Kleid auf. Draußen ist es schwül und riecht nach Gewitter. Das Kleid wird viel zu warm sein und ich werde schwitzen. Immer mache ich es doch ein bisschen falsch. Ich suche Unterwäsche und Strümpfe und in meinen Schränken ist das übliche Chaos. Alle paar Tage lege ich alles ordentlich zusammen und nach kurzer Zeit fliegt alles wieder zusammengeknüllt durch Schränke und Schubladen. Gregor sagt, das sei das Privileg der Besitzenden, sie können es sich leisten, achtlos mit ihrem Eigentum umzugehen. Meine Schlamperei nervt ihn, aber noch liebt er mich genug, um es als kleine Schwäche abzutun.

Im Giramondo ist der Tisch für uns seit Wochen für 20 Uhr reserviert. Wir sind mit Gregors Eltern und seinem Bruder verabredet, um die offizielle Verlobung zu feiern. Intim im kleinen Kreis. Gregors Vater heisst Herbert und bringt am Tisch sofort und wie immer irgendeinen dummen, harmlosen Spruch. Heute lache ich extra laut und herzhaft. Es ist wie in dem Witz: Warum leckt sich der Hund die Eier? Weil er es kann. So leckt sich auch Herbert die Eier im Giramondo, ein Riesenbaby, klopft dem Chef mit jovialer, herablassender Geste auf den Rücken und zieht ihn dicht an sich heran. Immer macht er das, Leuten zu nahe kommen, diese unsichtbare Grenze übertreten, als könnte das Nähe und Vertrauen schaffen. Auch seine Söhne machen das, ausladende Bewegungen, weit geöffnete Arme, klopfen, tätscheln, auf den Rücken, die Wangen, Gregors Bruder gelegentlich auf Hinterteile. Im Hintergrund läuft Klaviermusik. Herberts Hemd ist fast einen Knopf zu weit offen, aber er sieht gut aus, er ist jemand, der etwas zu sagen hat, das Leben hat sich ihm artig untergeordnet. Gregors Mutter ist ebenfalls attraktiv, die zuverlässige Kombination aus einem genetischen Zufall und früher harter Arbeit. Immerzu ist sie einfach nett zu mir. Sie fragt nicht viel, ist wohldosiert interessiert an mir, so, wie man es aus Höflichkeit sein muss. Sie hat mich aufgenommen in ihre Familie mit diesen sauberen, glatten Jungs und diesem Kind von Mann ohne etwas wirklich wissen zu wollen und ist zufrieden mit meinen Lügen über mein Leben vor Gregor. Schön schön, hat sie nur gesagt. Wie schön, dass Gregor dich gefunden hat. Gregor nimmt meine schwitzige Hand unter dem Tisch und fährt mit dem Zeigefinger in Kreisen über den Ring mit dem grünen Stein. Grün, wie meine Augen. Grüne Augen Froschnatur, von der Liebe keine Spur. Nutte. Die Vorspeise kommt. Octopus crostone caldo für mich. Früher musstest du auf die Knie gehen und betteln, damit du was zu fressen bekommen hast. Gregors Vater spricht und es wird viel gelacht über die Urlaubserinnerungen des jungen Gregor, den Unfug seiner Teenagerjahre, aber jetzt ist er endlich angekommen bei seiner Valentina, sie ist so temperamentvoll, tüchtig und liebenswert. Wir küssen uns. Der Octopus klebt in meinem Mund und hinterlässt einen unangenehm fischigen Nachgeschmack. Gregors Bruder neben mir spielt heimlich an seinem Handy. Dies ist ein Pflichttermin für ihn und ich bin ihm nicht glänzend genug. Ich trinke zu schnell von dem ausgezeichneten Rotwein, Empfehlung vom Chef, fast 100 CHF die Flasche. Dann gibt es noch mehr schöne Sätze, Ausrufungszeichen, über den Tisch geworfene Komplimente. Gregor diskutiert mit Herbert über die Ukraine. Gregors Mutter fragt, wo ich mir die Nägel habe machen lassen, so eine frische Sommerfarbe. Ihre Armbänder klimpern, aus der Küche ruft jemand etwas, eine Dame in langem Kleid am Nebentisch lässt eine Gabel fallen. Ich wische mir die nassen Hände immer wieder am Stuhl ab. Dann stehe ich auf, entschuldige mich und verschwinde mit meinem Täschchen nicht Richtung Toilette, sondern nach draußen.
Vor der Tür rauche ich eine Zigarrette, nehme tiefe Züge. Die Luft ist noch drückender geworden und es sieht aus, als käme das Gewitter bald. Ëin Obdachloser wühlt in einem Mülleimer auf der anderen Strassenseite. So ein schöner Tag sollte es werden, aber immer darf ich nicht zu viel erwarten. Dumme Schlampe, kannst ja aus dem Müll fressen. "Meine kleine Assibraut raucht", sagt Gregor liebevoll, als er mich beim Rauchen erwischt. Er steht plötzlich neben mir und nimmt sogar einen Zug von meiner Zigarette. "Psst", sagt er, "wir sagen es keinem. Nur dieses eine Mal. Familie...so anstrengend!" Er rollt mit den Augen. Ich lache und drücke meinen Rücken durch.
Wir gehen wieder rein und essen geschmorte Lammschulter, Kalbsbäckchen, Seeteufel. Ich trinke mehr von dem Domaine de Chevalier 2017 und jetzt stimmt doch alles langsam, der Abend ist schön und so, wie ich es mir erhofft habe. Ich sehe wohlwollend und mit so etwas wie Besitzerstolz Schwiegermama, Schwiegerpapa, Schwager und meinen Zukünftigen an. Ich lasse die Wörter immer wieder wie kleine Wellen durch meinen Kopf rollen. Wieso denn heiraten, hat meine Freundin mich nach der Mitteilung zur Verlobung gefragt, als sei das das Abwegigste, was man heutzutage mit einem anderen Menschen machen könnte. Die Wahrheit war natürlich, weil es etwas ist, das man mir nicht mehr wieder so einfach wegnehmen können würde, nicht ohne Amtsgänge, Papierkram, Geld, Zeit, Nerven, Anwälten und großem Aufwand. Obendrein ein echter neuer Name. Ich sagte ihr als Antwort stattdessen etwas Romantisches, von dem ich wusste, dass sie es hören wollte.

Mittlerweile sind wir bei Cafe und Grappa, ich lasse mich gehen und esse ein Haselnussparfait. Kleine Raupe nimmersatt. Friss nicht zu viel, du fette Sau. In diesem Moment blicke ich hoch und sehe von draußen an der Scheibe auf einmal das Gesicht des Eritreers. Das kann nicht sein, denke ich, das ist unmöglich. Dies ist das andere Ende der Stadt, dies ist ein anderes Universum und Lichtjahre weit entfernt von der Jung-Siedlung. Der Eritreer schafft es bestenfalls in den fünften Stock zu meinem Vater, aber niemals alleine in einem Bus quer durch die Stadt. Er kann es nie und nimmer sein, es gibt viele Eritreer in Adidasklamotten. Aber natürlich ist er es. Er klopft jetzt sogar gegen die Scheibe, sein Grinsen eine gelbzahnige Grimasse. Ich sehe immer nur kurz hin und ganz schnell wieder weg. Gregor und sein Bruder neben mir starren nach draußen und jetzt drehen sich auch die Oberkörper der Eltern Richtung Fenster, nur um zu sehen, was wir bereits sehen: Der Eritreer beult seine Backe mit seiner Zunge aus, wackelt damit hin und her, eine primitive Einladung zum Blasen. Ich will aufstehen und ihn schlagen, mit der Faust mitten in sein dummes Gesicht, ich will Blut, Knochen, Eingeweide auf dem Asphalt. Ich will ihn tot. "Unmöglich", sagt Gregors Mutter, "überall diese armen, verrückten Menschen mittlerweile. Immer mehr davon sieht man. Die Stadt ist einfach nicht mehr sicher." Herbert sagt: " Ich gebe Bescheid, dass sie ihn entfernen. Das ist ekelhaft." Der Eritreer hat jetzt den Reißverschluss seiner Jacke aufgezogen, darunter ist er nackt und streicht sich mit beiden Händen über den Bauch. Wir alle starren ihn an, nur Herbert ist losgezogen, damit uns jemand von dem unerfreulichen Anblick befreit. Ich steche mir unter dem Tisch mit dem Stiel des Espressolöffels so fest ich kann in den Oberschenkel und schaue mir selbst dabei zu: Wenn etwas sehr weh tut, schau zu, dass es woanders noch mehr weh tut. Und dann taucht neben dem Eritreer mein Vater auf, er trägt die gleiche Kleidung wie heute Nachmittag, nur jetzt schon deutlich schmutziger - er wird sich bereits an den Lebensmitteln, die ich ihm vorhin gebracht habe, bedient haben. Wie ich ihn kenne, gab es zum Bier als erstes die Fischdose: Hawesta, Brathering in feingewürzter Marinade. Er wankt. Mit den flachen Händen drückt er sich aussen gegen die Scheibe und stützt sich ab. Ich schaue blinzelnd auf das Tischtuch. Ein Rotweinfleck, Brotkrümel. Herbert kommt zurück an unseren Tisch und der Chef geht raus und redet auf meinen Vater und den Eritreer ein . Mein Vater schaukelt ein bisschen auf den Hacken nach vorne und nach hinten und sieht aus, als würde er entweder gleich der Länge nach hinfallen oder den Chef des Giramondo k.o schlagen. Das könnte er noch in jedem Zustand. Jahrzehntelange Praxis dank Kneipenkumpeln, Frauen und Kindern haben ihn im Nahkampf auch mit zwei Promille zu einem gefährlichen Gegner gemacht. Bei uns am Tisch ist es immer noch ruhig. Der Zirkus ist in der Stadt und gibt heute gerade vor dem Giramondo eine Sondershow . Ich sehe weiter auf das Tischtuch und fege die Krümel zu einem Häufchen zusammen. Mein Ring sieht bei dieser Beleuchtung fast dunkelblau aus. Ein Schweisstropfen läuft mir zwischen den Brüsten herunter. Ich lecke mit der Zunge über die feuchte, salzige Stelle über der Oberlippe. Der Rotweinfleck sieht aus wie eine Weihnachtsmannmütze. Dann fragt Gregors Mutter: "Was wollen diese Typen bloß? Die schauen dich die ganze Zeit an, Valentina, richtig unheimlich ist das." Der Chef kommt wieder von draußen rein und zurück bei uns am Tisch sieht er verwirrt aus, aber gleichzeitig auch sensationsgeil. Er spricht zu mir, aber sein Blick wandert immer wieder zuerst zu Herbert, dann zu Gregor und dann wieder zurück zu mir. "Einer der Herren behauptet, zur Familie zu gehören und sie möchten mitfeiern", sagt er. Niemand lacht und alle sehen mich an. Ich werde in einer Sekunde, höchstens zwei, sagen, ich kenne diese Penner nicht. Ich kann den richtigen Tonfall finden, das richtige Lachen hinterherschicken, ein bisschen ängstlich, ein bisschen entrüstet. Sowieso hält das niemand für möglich, es ist total absurd. Wir werden die Begegnung mit diesen Gestalten anekdotenhaft erzählen in diversen Abendkreisen: Stell dir vor, er sagte, er gehöre zur Familie.. Wir haben danach noch einen Grappa getrunken, als sie endlich weg waren. Aber das Virus hat sich bereits in alles hineingefressen und mein neues Leben infiziert, in diesem einen Moment, als das Gesicht des Eritreers an der Scheibe erschien. Es wäre gar nicht nötig gewesen, selbst aufzutauchen, mein Vater hätte zuhause lieber noch einen oder zehn Jägermeister trinken sollen. Es ist mehr als etwas Schmutz, den ich einfach so wieder wegwischen könnte, es ist ein Parasit, der sich binnen Sekunden durch Gregors und mein Leben, unsere erst vorsichtig vorgestellten Kinder, Haustiere, Skiurlaube, unsere Jahre, unsere guten und schlechten Zeiten und meinen schönen, neuen Namen durchgegraben hat mit langen, spitzen Zähnen. Der Parasit kaut und kaut und spuckt breiige Klumpen aus. Ich stehe vom Tisch auf und will in die Runde sagen Er ist mein Vater, obwohl ich an ihren Gesichtern sehe, dass es gar nicht mehr nötig ist, denn sie wissen es bereits. Das ist mein Vater. Und dann stehe ich auf in meinem übertriebenen Kleid und nehme mein Täschchen und gehe hinaus. Der Eritreer und mein Vater warten im einsetzenden Platzregen unter der Markise bereits auf mich. Ich lasse mir Zeit und gehe behutsam auf sie zu. Als ich dann endlich direkt vor den Gestalten stehe, sehe ich, dass dies zwei mir völlig unbekannte Obdachlose sind, einer schwarz, einer weiss, die einfach dem Eritreer und meinem Vater verdammt ähnlich sehen. Dieser Eritreer hat einen Goldzahn, mit dem er mich mit offenem Mund anstarrt und die Version meines Vaters trägt Tattoos am Hals. Sein T-Shirt ist gar nicht weiss, sondern hellblau. Beide mustern mich und wirken ratlos, was die aufgebrezelte Frau da vor ihnen will. War doch nur ein Scherz. Als ob man sich da drinnen zu den Spiessern setzen würde. Ich krame in meinem Täschchen nach Kleingeld und drücke dem Eritreer alles, was ich finden und mit einem Mal greifen kann, in die versiffte Hand. Dann drehe ich mich um und gehe zurück hinein. Am Tisch sieht man mir fröhlich entgegen. Gregors Mutter ruft: "Die Valentina! Immer so ein großes Herz!"

 

Hallo @Penny Works,

deine Geschichte gefällt mir sehr gut, sie ist dicht, gut auf den Punkt gebracht und hat einen runden Schluss.
Auch die Figuren kann ich mir gut vorstellen, die Gefühle der Erzählerin nachvollziehen.

Bumm bumm pow", sagt der Eritreer, und zielt mit seinen schmutzigen Fingern auf mich, als wären sie eine Pistole
Guter Einstieg. Allerdings klingt der Satz etwas sperrig in meinen Ohren. Vielleicht: formt seine schmutzigen Finger zu einer Pistole und zielt auf mich.


Er lehnt in seinem üblichen Adidasanzug
wäre entbehrlich.

Der Gestank im Treppenhaus und die Wohnung des Vaters sind mit dann allerdings zu dick aufgetragen. Klar, gibt es sowas, aber ich denke, hier wäre weniger mehr.

Er liegt auf dem Sofa wie eine halb abgepellte Weisswurst.
Treffendes Bild.


Er trägt heute eine tatsächlich halbwegs sauber aussehende
Klingt auch sperrig. Vielleicht: Er trägt eine halbwegs saubere ...


bringe das gleich in die Küche", sage ich und drehe wieder um.
Gefällt mir, wie sie die Taschen erst auf dem Tisch abstellt und es sich dann anders überlegt. Das wirkt authentisch.


Ich ignoriere ihn und räume die Lebensmittel in den bis auf ein paar Bierdosen wieder völlig leeren Kühlschrank
Entbehrlich.

Ich bringe das gleich in die Küche", sage ich und drehe wieder um. "Ja ja", ruft er hinter mir her und " hattest wohl nix besseres zu tun,
Wörtliche Rede beginnt mit den Anführungszeichen unten und endet oben. Außerdem sollte der Sprecherwechsel durch einen Zeilenumbruch gekennzeichnet sein. :teach:


Hände, Gott und Teufel, das Knacken der Knöchel, wenn er an seinen Wurstfingern zieht, das Gewicht, die Wucht, die Geschwindigkeit, die sie aufnehmen können, wenn sie ein Ziel haben.
Gefällt mir.


Ich nehme die Treppe, weil ich etwas anderes fühlen will und Bewegung hilft.
Das auch.


Wir werden goldene Zeiten haben, Kinder wie frisch gepellte Eier, nie wird jemand laut und ich habe eine Putzfrau.
Auch klasse, der Satz.


Ich male Augen um und über meine eigenen, mache mir den Mund größer und dunkelrot, decke Poren ab, klopfe, pudere, streiche. Jemandes Frau, so sehe ich jetzt aus. Das Kleid von Ellie Saab hängt vor dem Spiegelschrank und ist so schön, dass ich mir fast wünschte, ich müsste es nie anziehen und könnte es einfach immer ansehen. Statt Bildern an der Wand hängen wir einfach das Kleid auf. Draußen ist es schwül und riecht nach Gewitter.
Gefällt mir ebenfalls gut.


Gregor sagt, das sei das Privileg der viel Besitzenden, sie können es sich leisten, achtlos mit ihrem Eigentum umzugehen. Meine Schlamperei nervt ihn, aber noch liebt er mich genug, um es als kleine Schwäche abzutun.
Das Fette finde ich entbehrlich. Ansonsten wird die Erzählerin hier gut charakterisiert und ich spüre ihre Angst, dass die Fassade, in dieser völlig anderen Welt ihre Frau zu stehen, irgendwann bröckeln wird.


Herberts Hemd ist fast einen Knopf zu weit offen, aber er sieht gut aus, er ist jemand, der etwas zu sagen hat, das Leben hat sich ihm artig untergeordnet.
Auch schön. Überhaupt finde ich die Beschreibung der Abendgesellschaft fein beobachtet und in angebrachtem Maß überzeichnet.


Sie hat mich aufgenommen in ihre Familie mit diesen sauberen, glatten Jungs und diesem Kind von Mann ohne etwas wirklich wissen zu wollen und ist zufrieden mit meinen Lügen über mein Leben vor Gregor.
Schöner Kontrast zu ihrem Leben davor. Und auf eine andere Art gruselig.


Gregor nimmt meine schwitzige Hand unter dem Tisch und fährt mit dem Zeigefinger in Kreisen über den Ring mit dem grünen Stein. Grün, wie meine Augen.
Schönes Detail. Und nebenbei geschickt die Augenfarbe eingeführt ...


Grüne Augen Froschnatur, von der Liebe keine Spur.
... und ihre Komplexe/Erfahrungen.


des jungen Gregors
Gregor.


Wir küssen uns. Der Octopus klebt in meinem Mund und hinterlässt einen unangenehm fischigen Nachgeschmack.
Auch ein schöner Kontrast. :D


Dann gibt es noch mehr schöne Sätze, Ausrufungszeichen, über den Tisch geworfene Komplimente. Gregor diskutiert mit Herbert über die Ukraine. Gregors Mutter fragt, wo ich mir die Nägel habe machen lassen, so eine frische Sommerfarbe. Ihre Armbänder klimpern, aus der Küche ruft jemand etwas, eine Dame in langem Kleid am Nebentisch lässt eine Gabel fallen. Ich wische mir die nassen Hände immer wieder am Stuhl ab. Dann stehe ich auf, entschuldige mich und verschwinde mit meinem Täschchen nicht Richtung Toilette, sondern nach draußen.
Das ist auch toll!


Meine kleine Assibraut raucht", sagt Gregor liebevoll, als er mich beim Rauchen erwischt. Er steht plötzlich neben mir und nimmt sogar einen Zug von meiner Zigarette. "Psst", sagt er, "wir sagen es keinem. Nur dieses eine Mal. Familie...so anstrengend!" Er rollt mit den Augen. Ich lache und drücke meinen Rücken durch.
Hier ist die Nähe zwischen den beiden gut spürbar. Ich lese aus der kleinen Assibraut aber auch einen weiteren Hinweis darauf, dass ihre Herkunft nach der Verliebtheitsphase für beide zum Problem werden könnte.


zu viel, du fette Sau. In diesem Moment blicke ich hoch und sehe von draußen an der Scheibe auf einmal das Gesicht des Eritreers
Guter Überraschungsmoment.


mittlerweile.Immer
Hier fehlt das Leerzeichen nach dem Punkt.


entfernen .Das ist
Hier ist es statt nach dem vor den Punkt gerutscht. :)


Der Eritreer hat jetzt den Reißverschluss seiner Jacke aufgezogen, darunter ist er nackt und streicht sich mit beiden Händen über den Bauch.
Eindrucksvolles Bild.


Ich steche mir unter dem Tisch mit dem Stiel des Espressolöffels so fest ich kann in den Oberschenkel und schaue mir selbst dabei zu: Wenn etwas sehr weh tut, schau zu, dass es woanders noch mehr weh tut. Und dann taucht neben dem Eritreer mein Vater auf,
:thumbsup:


Mein Ring sieht bei dieser Beleuchtung fast dunkelblau aus. Ein Schweisstropfen läuft mir zwischen den Brüsten herunter. Ich lecke mit der Zunge über die feuchte, salzige Stelle über der Oberlippe. Der Rotweinfleck sieht aus wie eine Weihnachtsmannmütze.
Viele schöne Details.

So, und jetzt höre ich mal auf zu zitieren, was mir gefällt, denn sonst müsste ich fast den ganzen restlichen Text zitieren. Ich finde, du hast eine sehr gute Beobachtungsgabe und ein Händchen für originelle Beschreibungen und Timing. Das Ende kommt überraschend, aber spiegelt für mich ihren mentalen Zustand. Sie wird ihrer Vergangenheit nie entkommen, egal, wie sehr sie es versucht. Und der letzte Satz ist auch treffend.

Gern gelesen von Chai.

 

Hallo Penny Works,

Mir hat der Text sehr gut gefallen. Du benutzt schöne Bilder und man ist schnell in der Situation drin. Besonders den inneren Konflikt der Protagonistin finde ich sehr gelungen.
Meine Kritik beschränkt sich deshalb nur auf Sprachliches.

Im Flur herrscht das übliche Chaos, Zeitungen, Rechnungen, ein Amazonkarton, aufgerissene Tüten mit Katzenfutter, Schnapsflaschen und Bierdosen. "Ich bins, Vale," rufe ich in Richtung Wohnzimmer, während ich mir meinen Weg durch den Abfall bahne.
Weil das alles nicht funktioniert heute, stelle ich dann für den Rest des Weges die Musik ab, lasse das Fenster unten und versuche tief ein und auszuatmen.
Das "heute" kann man hier m.M.n. weglassen. Wirkt etwas fehl am Platz.

Ich hätte ihm das von der Verlobungsfeier nie erzählen dürfen und hatte das schon in dem Moment gewusst, als ich mich selbst den ersten Satz aussprechen hörte. Hatte ich denn wirklich gedacht,ich könnte ihn beeindrucken?
Ich glaube hier kommt jeweils "habe" hin, da du im Präsens schreibst. Kann mich aber auch irren.

Liebe Grüße
Lukas

 

@Chai - ich danke Dir ganz herzlich für Deine investierte Zeit und die wertvollen Kommentare und Korrekturen. Ich stimme Dir mit den Anmerkungen zu. (Ich habe es noch nicht so ganz raus auf einzelne Aspekte zu antworten und habe gerade etwas als Zitat irgendwo hinzugefügt:sad: ) und werde den Text entsprechend in Ruhe überarbeiten.
Wegen dem Gestank im Treppenhaus und dann in der Wohnung: Ich war mal in so einem Haus und dachte im Eingangsbereich nur Oh Gott. Oben vor einer Wohnung war es dann noch viel schlimmer (das war eine Messie-Wohnung). Das ist mir so in der Nase geblieben, dass ich hier in die Vollen gegangen bin.
Mich hat es richtig glücklich gemacht, dass Dir der Text gefallen hat und Du die Details gesehen hast. Ich bin ja Neuling und bis vor ein paar Tagen war es undenkbar für mich, dass ich so einen Text ins Internet stelle - noch dazu vor diese kritischen Augen und Profiwortkrieger :shy:.Merci

@lighis- lieber Lukas, auch Dir ganz herzlichen Dank, dass Du Dir die Zeit genommen hast meine Geschichte zu lesen und auch noch auf die Schlampereien hinzuweisen. Ich werde die Korrekturen natürlich übernehmen. Es freut mich sehr, dass Dir die Geschichte gefallen hat.

 

Liebe @Penny Works,

das ist ein starker Text. In jeder Hinsicht. Sprachlich dicht, toll gezeichnete Figuren und ein spannender Handlungsbogen.

Als ihr "Vater" auftaucht und sie nach draußen geht, dachte ich tatsächlich, das wäre "the end of all her hopes, the end of all her dreams". Und dann wendet sich das Blatt. Toll.

An ein paar Stellen könntest du den Text noch einmal straffen, aber dafür hast du ja schon Anregungen bekommen.

Liebe Grüße
Gerald

 

(Ich habe es noch nicht so ganz raus auf einzelne Aspekte zu antworten und habe gerade etwas als Zitat irgendwo hinzugefügt:sad: ) und werde den Text entsprechend in Ruhe überarbeiten.
Hallo Penny,
wenn du zitieren willst, markierst du das Gewünschte, klickst auf "zitieren" in dem schwarzen Feld, dass erscheint, (kannst so auch mehrere Zitate sammeln) und dann im Antwortfeld auf "Zitate einfügen".
Liebe Grüße von Chutney

 

@ralfchen- danke für Deinen Kommentar, zu dem ich allerdings eine Sache anmerken will: Es gibt Treppenhäuser, in denen es genau so riecht. Du hattest Glück noch in keinem solchen gewesen zu sein. Berechtigt aber zu fragen, wie auch @Chai angemerkt hat, ob man es so dick aufgetragen schreiben muss.

@C. Gerald Gerdsen - vielen Dank, das freut mich!

@Chutney - merci, ich werde es dann mal probieren…

 

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