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Weltuntergang
Das Feuer im Wohnzimmer wärmte wenig wenn man innerlich vor Angst fror.
Die Elfenfamilie hatte sich um die Feuerstelle versammelt und starrte in die Flammen. Niemand traute sich, auch nur einen Mucks von sich zu geben. Niemand traute sich auf die Uhr an der Wand zu sehen. Doch Llyane wusste, dass sie höchstens noch eine halbe Stunde hatten.
Sie hasste die Menschen, sie hasste sie. Sie haben das Land Fantasie zerstört, weil sie sie vergessen hatten. Gerüchten zufolge gab es noch nicht einmal mehr Bücher. Nur noch Computer, und da steckten nur Statistiken, Tabellen und Computerspiele drin. Dort war kein Platz mehr für Elfen oder Hexen oder Zauberer oder magischen Tieren. Sie waren von der Fantasie der Menschen abhängig. Ohne sie würden sie alle einfach so verschwinden. Sie alle waren nur eine Idee, nur eine Idee, die vor hunderten von Jahren entstanden ist.
Gedankenverloren strich Llyane über ihre Finger. Sie fühlten sich fest an, aber sie waren nur die Fantasie eines anderen. Einer, der sie schon längst vergessen hatte… Ihre Wut schlug um in Trauer und Enttäuschung.
„Warum haben sie uns vergessen?“, murmelte sie leise und schüttelte gedankenverloren den Kopf.
„Ich weiß es nicht“, sagte ihre Mutter, ohne den Blick von den Flammen abzuwenden.
„Wir müssen doch etwas unternehmen können“, überlegte Llyane.
„Es gibt nichts“, sagte ihre Mutter streng, „Hör auf an die Möglichkeiten zu denken Llyane! Der Gedanke daran, was man noch hätte tun können macht die Sache nur noch frustrierender.“
Doch das wollte Llyane nicht hören. Sie stand auf und musterte die Bücher im Bücherregal.
„Llyane!“, rief ihre Mutter energisch.
„Wie wäre es mit Zeitreisen?“
„Mensch, das wäre zu riskant. Die Menschen haben auch Zeitreisen vergessen und das könnte so nicht richtig funktionieren.“
„Ja, ja, ja. Schon gut.“
Enttäuscht stellte Llyane das Buch wieder zurück ins Regal.
„Llyane, sieh es mal so“, mischte sich ihr kleiner Bruder Uther ein, „ich meine, die Sache würde ziemlich schmerzlos ausgehen. Puff, und wir sind weg.“
„Ein beruhigender Gedanke“, meinte Llyane schnippisch und blätterte bereits in einem anderen Buch.
Uther sah sie dabei verständnislos an. Sie alle schienen schon aufgegeben zu haben.
„Puff, puff, puff“, sang ihr kleiner Bruder, als sie bereits das neunte Buch aus dem Regal holte.
„Puff, puff…“
„Uther, wenn du mir noch einen letzten Gefallen tun willst, dann halte endlich die Klappe!“, rief Llyane kühl.
Wie konnte Uther jetzt auch noch dazu singen, während sie vor Angst fast platzte?
„Puff!“, rief Uther ein letztes Mal und lachte.
Llyane überflog das Inhaltsverzeichnis des zehnten Buches, als ihr etwas auffiel.
Unabhängigkeit von den Menschen, S.55
Llyanes Hände zitterten, als sie die Seite fünfundfünfzig aufschlug. Sie überflog sie kurz, ihr Herz schlug dabei so schnell, dass sie befürchtete, es würde zerspringen.
„Mama, hole mir doch bitte Feenstaub, Einhornhaar und Drachenhaut. Uther, du holst mir einen Kessel mit heißen Wasser.“
„Ich dachte, ich hätte dir bereits einen letzten Gefallen getan“, murmelte er mürrisch, ging aber in die Küche, um den Kessel zu holen.
Ihre Mutter eilte verwirrt in die Vorratskammer. Währenddessen zeichnete Llyane mit Kreide einen großen Kreis auf den alten Holzfußboden.
„Hier!“, rief Uther und knallte den Kessel so heftig auf den Boden, dass ein wenig kochendheißes Wasser auf den Boden spritzte.
„Mensch, pass’ doch auf!“
„Bitte schön“, sagte ihre Mutter und legte die Zutaten neben den Kessel, „Was nun?“
Llyane hatte sich alles gemerkt. Sie schüttet den Feenstaub, dann die Drachenhaut und zum Schluss das Einhornhaar in den Kessel. Dann setzte sie ihn in den Kreis.
„Wie lange haben wir noch?“
„Fünf Minuten“, sagte Uther heiter. Llyane warf ihn einen vernichtenden Blick zu.
„Das Gebräu sorgt für die Unabhängigkeit von den Menschen“, erklärte Llyane ihrer misstrauisch drein blickenen Mutter, „Wir müssen nur warten.“
Und so standen sie alle um den Kreis und starrten den brodelnden Kessel an. Llyane fürchtete sich nicht mehr, aber innerlich zerriss sie vor Spannung.
Bitte lass’ es funktionieren, bitte, bitte!
Eine Minute verstrich, in vier würde die Welt untergehen.
Drei Minuten…
Zwei…
Eine…
„Woher hast du dieses Rezept?“, fragte ihre Mutter auf einmal leise.
„Aus einem großen roten Buch mit silbernen Lettern.“
Ihre Mutter schloss entsetzt die Augen.
„Du weißt hoffentlich, dass das Buch deine Tante geschrieben hat?“
Llyane schluckte. Ihre Tante hatte Geld gemacht mit Wundergebräuen, die eigentlich keine waren. Es war, als hätte Llyane einen großen Packen Eis im Magen.
„Es wirkt also nicht“, sagte sie leise. Ihre Mutter schüttelte den Kopf.
Plötzlich bebte die Erde kurz und war dann wieder ruhig. Llyane klammerte sich an ihre Mutter. Wenn sie schon verschwand, dann schon an der Seite an einer Person, die sie liebte.
„Es ist so weit“, sagte Uther mit einem Blick auf die Uhr.
„Komm her“, sagte ihre Mutter ruhig und nahm Uther an die Hand.
So verharrten sie eine Weile, bis sich die Erde zur Seite neigte. Ohne sich los zu lassen fielen sie hin und rutschten gegen die Wand.
Llyane hatte keine Angst mehr. Irgendwie beruhigte sich man, wenn man wusste, dass es wirklich zu spät ist und nichts mehr machen kann. Ihr Rücken schmerzte und ihre Flügel wurden unangenehm gegen die Wand gedrückt, aber es war ihr egal. Der Schmerz würde sowieso bald vorbei sein.
Als Llyane an ihrer Mutter vorbei sah, war Uther nicht mehr da. Ihre Mutter sah sie mit Tränen in den Augen an und verschwand.
"Nein!", schrie sie, "Nein, verdammt! Nicht so!"
Auf einmal hatte sie ihren Mut zu Kämpfen wiedergewonnen. Sie spürrte, wie etwas an ihr riss und zerrte, doch sie sträubte sich dagegen. All die Dinge um sie herum verschwanden, nur sie kämpfte noch gegen das Verschwinden. Llyane spürrte, wie langsam ihre Kräfte nach ließen.
Dann war plötzlich alles vorbei. Das Wohnzimmer war leer, die Erde war noch zur Seite geneigt, aber die Dinge hörten auf zu verschwinden und nichts riss mehr an ihr.
Sie hatte es geschafft! Sie konnte es nicht glauben, aber sie hatte es geschafft! Vor Freude machte Llyane einen Luftsprung. Weil sie sich dagegen gewehrt hatte, lebte sie noch!
Doch Llyane irrte.
Mit einem Ruck riss sie eine unsichtbare Kraft zu Boden und sie verschwand.