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Wendungen
Der Zug fuhr ohne ihn ab. Er sog nervös an seiner Zigarette. Er musste bleiben, musste noch etwas erledigen.
Der Westen musste warten. Er konnte nicht verschwinden, als wäre nichts gewesen. Acht Jahre Haft hatte er hinter sich. Acht Jahre voller Schikanen und Entbehrungen. Sein Sohn musste zehn sein. Als er ihn zum letzten Mal gesehen hatte, brabbelte der kleine Patrick seine ersten Sätze.
Alles wegen diesem Schwein. Seit einer Woche war Falk wieder frei. Drei Tage bevor die Mauer gefallen war. Endlich war die Freiheit, von der er früher immer geträumt hatte, Wirklichkeit geworden. Nachdem seine Welt im Stasi-Gefängnis auf sechs Quadratmeter geschrumpft war, hatte er ein anderes Verständnis von Freiheit bekommen. Alles hatten sie ihm genommen. Und das Schwein lebt mit seiner Familie in einer Villa im Dresdner Nobelstadtteil „Weißer Hirsch“ und genießt das Leben.
Einen Tag nach der Entlassung hatte Falk das Haus ausfindig gemacht. Jahrelang musste er ihn bespitzelt haben. Er hatte ihn verraten, um an die Fleischtöpfe zu gelangen, mit welchen ihn die Funktionäre dieses Unrechtsstaates gelockt hatten. Die lange Haftstrafe seines angeblichen Freundes hatte das Schwein in Kauf genommen, und dessen Ehefrau heuchlerisch über den Verlust hinweg getröstet. Falk hatte im Untergrund für die Opposition gearbeitet. Politische Kontakte in den Westen. Ein Staatsfeind! Nur seine Frau Sabine und sein bester Freund, der Verräter, hatten davon gewusst, hatte er geglaubt. Dann die Festnahme. Mitten in der Nacht hatten sie ihn aus dem Bett geholt. Am dritten Dezember neunzehnhunderteinundachtzig war es. Sie hatten ihn in eine unbeheizte Zelle geworfen und drei Tage lang verhört, um die passenden Wahrheiten und Unwahrheiten aus ihm herauszuprügeln.
Falk warf den Zigarettenstummel auf den Boden und ging zurück zu seinen Eltern. Bis du eine eigene Wohnung hast, so hatten sie gesagt. Die eigene Wohnung würde er in Hannover suchen. Vorher könnte er bei seinem Freund unterkommen, der vor elf Jahren aus der DDR geflohen war. Aber nicht heute. Nicht bevor er mit dem Verräter abgerechnet haben würde.
Am nächsten Morgen nahm Falk die Straßenbahn in Richtung Bühlau. Es war Samstag. Frisch geduscht und nach Kölnisch Wasser duftend wanderte er den schmalen Weg hinauf zu den alten Villen, vorbei an baumbepflanzten Gärten. Die Sonne erwärmte die windige Anhöhe. Er trug seine schwarze Lederjacke mit den großen Innentaschen. An zwei weißen Steinlöwen vorbei, die wie hochmütige Cäsaren auf ihren Sockeln thronten, ging er durch das Gartentor. Nachdem er geläutet hatte, öffnete ein Junge in Jeans, der ihm bis zur Brust reichte. Das musste Patrick sein. Falk sah ihn nicht an. Er hätte den Gesichtsausdruck seines Sohnes nicht ertragen, der ihn wie einen Fremden musterte. Er musste ihn für einen Versicherungsvertreter oder Hausierer halten.
„Ist deine Mama zu Hause?“ fragte er über den dunkelbraunen Haarschopf hinweg. Ein Ist-dein-Papa-zuHause brachte er nicht über die Lippen.
„Falk“, murmelte Sabine. Unsicher stand sie vor ihm, als suche sie etwas zum Festhalten. Ihre Mundwinkel waren nach unten gezogen und ihre Augen starrten ihn an, als wäre sie bei einem Diebstahl ertappt worden.
„Kann ich kurz hereinkommen?“ bat Falk ruhig.
Mit einer zögerlichen Handbewegung deutete sie ihrem Ex-Mann den Weg in das Esszimmer. Es hatte ihr die Sprache verschlagen. Er betrat das Esszimmer. Die große Fenstergalerie erhellte den Raum.
An einem herbstlich dekorierten Holztisch saß der Verräter. Er klappte eine Zeitschrift zu, in der zu lesen er vorgetäuscht hatte. Falk bat seine Ex-Frau, ihn mit dem Verräter alleine zu lassen. Still verschwand sie in das obere Stockwerk. Der Verräter sah Falk mit großen Augen an. Das schlechte Gewissen und die Angst benetzten sein Gesicht mit Schweiß. Er rückte mit seinem Stuhl vom Tisch zurück, als wolle er sich eine Fluchtmöglichkeit schaffen. Falk tastete nach der Walther P3 in seiner Jackentasche. Er hatte die Pistole längst entsichert und sah mit glasigen Augen auf den Verhassten herab.
„Du dreckige Sau!“ -
„Falk, sie haben mich dazu...“
„Halt dein Maul“ schrie Falk den Verräter an, den Griff der Waffe krampfhaft umklammert.
„Halt bloß dein dreckiges Maul.“ Seine Stimme wurde weinerlich. Er hasste ihn. In der Zelle hatte er sich die Szene Hunderte Male vorgestellt, ihn in seinen Gedanken erschossen und Tags darauf den Plan verworfen. Nein, er konnte keinen Menschen töten. Hastig verließ er das Haus. Er lief den Weg zurück. Nur weg, rennen, endlich mit der Vergangenheit abschließen.
„Hätte ich ihm doch wenigstens ins Gesicht gespuckt“, dachte Falk am Abend, als er in den Zug nach Hannover stieg.