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Wenigstens heute Nacht

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04.10.2006
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Wenigstens heute Nacht

„Warum?“
Die Stimme ließ den jungen Mann zusammenzucken, eiskalter Schreck fuhr ihm ins Herz, dann in seine Glieder. Er begann zu zittern. Vorsichtig wandte er den Kopf zur linken Seite, um hinter sich zu blicken. Er sah niemanden.
„Hallo?“ fragte er leise, unsicher. „Ist da jemand?“ Der junge Mann stand außerhalb des Einsenbahnbrückengeländers, den Rücken gegen die etwas mehr als hüfthohe Brüstung gedrückt, die Arme nach unten hängend, nach hinten angewinkelt, die Hände an den abblätternden Lack des Handlaufs geklammert.
„Ja“, sagte die Stimme wieder. „Ich bin hier drüben.“ Vorsichtig wandte der junge Mann seinen Kopf nach rechts, blickte hinter sich. Dort sah er im blassen Licht des halbvollen Mondes eine schattenhafte Gestalt, der Stimme und der Statur nach ein Mann, zweifellos, in einem Mantel.
„Äh, hallo,“ sagte der junge Mann wieder.
„Hallo“, sagte die Gestalt.
„Was – was machen Sie denn hier?“
„Sie meinen, was ich hier mitten in der Nacht ...“ – der Mann hob das linke Handgelenk, drückte mit dem rechten Zeigefinger auf einen Knopf seiner Armbanduhr. Ein fahles, blaues Licht erleuchtete das Ziffernblatt. „... um viertel nach zwölf auf einer Eisenbahnbrücke mache?“
Der junge Mann schwieg.
„Meinen Sie das?“ fragte die Gestalt erneut.
„Ja“, sagte der junge Mann kleinlaut.
„Das ist eine gute Frage. Aber ich habe zuerst gefragt.“
„Bitte?“
„Ich habe gefragt: Warum?“
„Warum ... was denn?“
„Warum Sie hier runterspringen wollen?“
„Ich will doch gar nicht –„
„Natürlich nicht. Sie sind nur über die Brüstung gestiegen, um die tolle Aussicht besser genießen zu können, was? Wem wollen Sie das erzählen?“
„Ich ...“ Die Stimme des jungen Mannes verlor sich bereits in dieser einen Silbe.
„Gut. Worauf warten Sie noch? Springen Sie.“
Der junge Mann wandte den Kopf wieder nach vorn, blickte in das schwarze Nichts der nachmitternächtlichen Leere. Seine Kiefer mahlten. Unter ihm, das wusste er, ging es wenigstens 50 Meter in die Tiefe. Er sprang nicht.
„Geht’s nicht?“ fragte die Gestalt nach einer Weile.
„Ich kann nicht“, sagte der junge Mann.
„Warum nicht? Ist es Ihnen peinlich, vor meinen Augen in den Tod zu springen?“
Der junge Mann nickte zögerlich.
„Das finde ich wirklich unglaublich. Es ist Ihnen peinlich, dass Sie vor meinen Augen die Kontrolle verlieren könnten? Dass Sie einen unwürdigen Abgang haben könnten? Dass ich irgendjemandem erzähle, dass Sie gekreischt haben? Dass der Sturz nicht ästhetisch genug war?“ Die Stimme klang plötzlich anders, aufgeladener, wütender. „Das ist hier kein Bungee-Springen! Wenn Sie erst da unten liegen, Freundchen, dann kann Ihnen das alles egal sein. Dann sind Sie tot! Das wissen Sie, oder? T – O – T! Dann haben Sie alles hinter sich! Und es ist Ihnen peinlich?!“
Der junge Mann sog scharf die kalte Luft ein und nickte. Er schrie ängstlich und überrascht auf, als er einen eisenharten Griff im Nacken spürte und eine seiner Hände gewaltsam vom Geländer gelöst wurde.
„Du kleines, selbstsüchtiges Arschloch!“ hörte er die zornige Stimme des Mannes hinter sich. „Du dreckiger, rückgratloser Verlierer! Es ist Dir peinlich, zu sterben? Was für eine beschissene Pose ist das, wen willst Du damit beeindrucken, Du rückgratloser Wichser?!“ Der Druck im Nacken verstärkte sich, die Gestalt drehte dem jungen Mann den Arm auf den Rücken, Schmerzen schossen ihm in Schulter und Rücken. „Aua, bitte, hören Sie auf, bitte aufhören, lassen Sie mich in Ruhe, ich habe Ihnen doch gar nichts getan!“ Der Schmerz im Arm wurde schlagartig schlimmer, als die Gestalt ihn gewaltsam noch höher bog.
„Nichts getan?! Weißt Du Pisser eigentlich, was Du hier heute anrichtest? Bist Du Dir im Klaren darüber, was Du mit so einer Selbstmord-Scheiße tust?! Ich könnte Dir die ganze Nacht die Fresse polieren, ich könnte Dir wochenlang die Fresse polieren, Du hirnloser Idiot!“
Der Griff im Nacken verschwand schlagartig, der Arm hinter seinem Rücken wurde ebenso plötzlich losgelassen. Der junge Mann kreischte angstvoll auf, er war steif vor Schrecken, er drohte zu fallen, seine Beine trugen ihn nicht mehr, sein Arm war schlaff vor Schmerzen, sein anderer Arm kraftlos. Bevor ihm der letzte Halt entgleiten konnte, legte sich von hinten ein Arm um seine Kehle, er spürte den Atem der Gestalt ganz dicht an seinem rechten Ohr.
„Du hast es dann hinter Dir. Dein Leben wird Dir zuviel, Du packst es einfach nicht mehr, was? Und dann verdrückst Du Dich, Du Feigling, auf die selbstgerechte Tour. Das Leben will mich nicht, also bring ich mich um. Wie mich so eine Scheiße ankotzt. Hast Du einen einzigen Augenblick mal nicht nur an Dich gedacht? An Deine Eltern? An Deine Geschwister? An Deine Freunde? An die Leute, die Dich morgen zerschmettert da unten finden werden? Was Du mit deren Leben machst? Hast an die mal gedacht? Hast Du an irgendjemanden außer an Dich gedacht?!“
„Ich – ich ...“, stammelte der junge Mann.
„Genau, ich, ich, ich, immer nur ich! Du bist nicht der Mittelpunkt der Welt, und weil Du das nicht erträgst, müssen alle anderen durch die Hölle gehen, was?! Hast bestimmt einen Abschiedsbrief geschrieben, um Dein Gewissen zu beruhigen. ‚Ihr könnt nichts dafür, ich pack’s einfach nicht!’ Und sicherlich unten drunter gekritzelt: ‚Ich liebe Euch!’“ Er wurde herumgerissen, wollte schreien, aber er konnte nicht. Nackte Panik schnürte ihm die Kehle zu. Er blickte im Mondschein der Gestalt ins Gesicht, in ein Gesicht, das ihn in einer schrecklichen Grimasse voller Zorn, Hass und unbändiger Traurigkeit anstarrte. „Hast Du so was geschrieben? Hast Du’s geschrieben!? Dass Du sie liebst, Deine Eltern, Deine Freunde? Und so sieht das aus, wenn Du jemanden liebst? Du kneifst, Du verdrückst Dich und lässt alle zurück, denen Du etwas bedeutest? Lässt sie allein mit der Schuld, Dich nicht gehindert, Dich nicht verstanden, Dich nicht genug geliebt zu haben?! Sieht das so aus, wenn man alle liebt, ja?! Ich sollte Dich eigenhändig von dieser Brücke werfen, Du selbstsüchtiges Stück Scheiße!“ Die Hände, die den jungen Mann am Kragen gepackt hielten, zitterten vor Wut, der ganze Mann vor ihm bebte vor verzweifelter Spannung.
„B-bitte nicht“, ächzte der junge Mann und Tränen flossen über sein Gesicht. „Bitte, ich wollte nicht – ich wusste doch nicht ... bitte, es tut mir leid! Es tut mir leid!“ Der junge Mann brach in Tränen aus, sein Körper fiel völlig in sich zusammen. Die Gestalt, der ihn immer noch am Kragen hielt, zog ihn sachte über das Brückengeländer auf den Pfad neben den Gleisen, wo er zu Boden sank. Der Mann sackte kraftlos neben ihm zu Boden und blieb eine Weile neben dem schluchzenden Körper hocken. Dann streckte er vorsichtig die Hand aus und berührte den jungen Mann an der bebenden Schulter. Er rutschte näher und legte die Arme um ihn. Gemeinsam weinten sie.
Nach einer langen Weile löste sich der junge Mann aus dem Griff des Älteren und setzte sich auf. „Ich danke Ihnen“, sagte er und zog die Nase hoch. „Wirklich. Ich weiß nicht, was ich gemacht hätte, wenn Sie nicht hier gewesen wäre.“ Der Mann blickte ihn schweigend an. „Ich meine“, fügte der junge Mann hinzu, „ich weiß, was ich gemacht hätte. Es war gut, dass Sie hier waren.“
Der Mann nickte.
„Ich ... ich gehe dann jetzt. Ich muss was essen. Ich muss ... ich muss mal mit jemandem reden, ja?“ Der Mann blickte ihn erneut schweigend an, aber diesmal lächelte er erschöpft durch die Tränen, die in seinen Augen standen. Er wollte etwas sagen, aber seine Stimme gehorchte ihm nicht, und er nickte erneut.
Der junge Mann erhob sich und stand auf immer noch wackligen Beinen. Er fasste das Geländer, aber diesmal von der anderen, der richtigen Seite. „Kommen Sie zurecht?“ fragte er und erntete erneut ein Nicken und ein halbes Lächeln.
“Gehen Sie ruhig“, sagte der Mann heiser. „Ich komme schon zurecht.“
„Gute Nacht.“
„Ja. Ihnen auch.“
Der junge Mann ging, zunächst unsicher, dann mit festerem Schritt. Er faßte das Ende der Brücke in den Blick und beschloß, sich erst wieder umzublicken, wenn er es erreicht hatte. Er hörte seinen eigenen Atem, und das erfüllte ihn mit einer eigentümlichen Euphorie. Bevor er vom Brückendamm zu dem angrenzenden Feldweg hinabstieg, blickte er ein letztes Mal zurück.
Der Mann stand jetzt an der Brüstung und blickte in die Nacht. Dann bewegte sich sein rechter Arm, so als habe er etwas von sich fort in die Tiefe geworfen. Der junge Mann glaubte ein kleines weißes Flackern im Dunkel der Nacht zu sehen, wie von einem Stück Papier, das vom Mondlicht getroffen wird. Dann wandte sich der Mann um und ging in die Finsternis davon, auf die gegenüberliegende Seite der Brücke.
Es schien dem Jungen, als sei soeben etwas zu Ende gegangen. Er schaute auf seine Uhr. Wenn er sich beeilte, schaffte er es vielleicht noch rechtzeitig zur Bushaltestelle.

 

Hallo brudervomweber,

die Geschichte hat mich zu Beginn sehr stark angesprochen. Sie ist in einem guten Stil geschrieben und geht flott voran. Sie baut auch sehr gut Spannung auf. Und ich habe schon während des Lesens gedacht. ALLES darf kommen. JEDER Schluss wäre mir recht, und ich würde am Ende auf jeden Fall zufrieden meinen, mal wieder eine ziemlich gute und unterhaltsame KG gelesen zu haben.

Nur EIN GANZ BESTIMMTER SCHLUSS darf nicht kommen, das wäre zu banal, zu trivial, hätte schon fast etwas von dieser triefenden Hollywoodsentimentailtät, die am Ende selbst die tollsten und innovativsten Stories verkleistert, verwässert und verdünnt. Bitte bloß nicht so einen Schluss!

Leider hast du aber genau diesen einen aus meiner Sicht falschen und somit schrecklichen Schluss gewählt, und dadurch war der tolle Eindruck der Geschichte am Ende fast völlig zerstört. Schade, das fing so gut an!

Grüße von Rick

 

Hi, ihr zwei.

Vorne hui, hinten pfui, wenn ich das richtig zusammenfasse, ja?

Danke auf jeden Fall fürs Lesen. Und für die kritische Auseinandersetzung.

So einfach will ich euch aber dann doch nicht davonkommen lassen. Was für ein Ende wäre denn besser? Daß er den Jungen vergrault, um selbst freies Sprungfeld zu haben? Entspricht nicht meiner Intention, empfinde ich außerdem als abgeschmackt. Daß ihn Außerirdische abholen? Dann hätte ich es nicht unter Gesellschaft gepostet. Daß er den Jungen runterstößt? Das wäre vielleicht noch eine Möglichkeit gewesen, daß der Zorn auf seinen gesprungenen Bruder ihn zu einer solchen Überreaktion treibt. Aber auch das hätte meine Absicht nicht richtig wiedergegeben.

Ich hätte den Schluß - also den letzten Absatz - auch einfach weglassen können. Das ist vermutlich die einfachste und beste Möglichkeit, die Geschichte vor einem schrecklichen Ende zu "retten". Dann hätte es aber geheißen: ein bißchen unwahrscheinlich, daß ein Fremder ausgerechnet am Tag dieses Selbstmordversuchs auch auf der Brücke ist. Und woher weiß der, daß der Junge Geschwister hat? Weiß er ja nicht. Er geigt ja seinem Bruder die Meinung, nicht dem Jungen. Irgendwelche Vorschläge für ein passenderes, besseres Ende, das in euren Augen nichts so Schmonzettenhaftes hat. Letzter Absatz weg, dem Leser ein offenes Ende zumuten?

@Z-P: Ich wollte hier wirklich nicht originell sein, und daß Dich der Ausbruch "ziemlich überrollte", kommt meiner Absicht näher, als hier irgendwelche Überraschungsglanzlichter zu setzen.

Wegen der Schachtelsätze: Bislang habe ich mich wirklich am Riemen gerissen, wobei ich bei meinem allerersten Posting hier schon darauf hingewiesen wurde, daß ich vielleicht manchmal auch PUNKTE setzen könnte. Die nächste Story wird exklusiv für Dich ein paar ganz zauberhafte Schachtelsätze enthalten. ;)

Gruß & Dank
bvw

 

Hi bvw,

wie auch Rick muss ich das Ende bemängeln. Überhaupt kann ich mich Ricks Kritik exakt anschließen :)

Was ich ja einen sehr geilen Schluss gefunden hätte: Der "Retter" stürzt sich selbst hinab, denn ihm selbst wäre es peinlich, wenn der junge Mann irgendwie dabei gewesen wäre :D
Oder dass der Retter ihn doch noch dazu bringt, zu springen, ein psychopathischer Killer oder son Kram. ;)

Trotzdem gerne gelesen.

Tserk!

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo brudervomweber,

so einfach willst du mich als Kritiker nicht aus der "Verantwortung" entlassen und fragst, welches Ende aus meiner Sicht besser wäre?

Zunächst stecken in dieser Frage ja zwei Ansätze.

Der erste Ansatz: Welches Ende ich dir (in Bezug auf DEIN KG-Konzept) empfehlen würde: Da würde ich mich Tserks Vorschlag anschließen. Der "Retter" springt dann selbst, wollte den anderen Selbstmord-Kandidaten nur loswerden, um dann seinen eigenen Selbstmord ungestört vollziehen zu können.

Der zweite Ansatz: Wie hätte ICH das Ende gestaltet? Ich hätte die KG, deren Grundidee ich sehr gut finde, mit zwei für die Leser unklaren und interpretationswürdigen Punkten angelegt.

Zum einen hätte ich den Text so gestaltet, dass zwar einiges auf Selbstmordgedanken des Prots hinweisen würde, aber es dürfte an keiner Stelle der Geschichte endgültige Klarheit darüber herrschen.

Ebenso würde ich das Schicksal des Retters einnebeln. Er taucht wie aus dem Nichts auf. Eine gute und richtige Entscheidung finde ich es, ihn aggressiv, wütend und verbittert agieren zu lassen, den Prot richtig attaktierend, ihm unterstellend, dass er sich das Leben nehmen will. Das meiste deiner Aussagen passt da schon. Das würde ich so eskalieren lassen, bis der Prot flüchtet, plötzlich "Angst um sein Leben hat". Das wäre eine schöne Überspitzung. Ein vermeintlich Lebensmüder wird bedroht und rettet sein Leben indem er flüchtet.

Den Retter würde ich so unvermittelt in der Nacht verschwinden lassen, wie er auftauchte, geheimnisvoll, getrieben von einem Schicksal, das ich als Leser nur erahnen kann. Man wird zwangsläufig vermuten, dass auch er einen geliebten Menschen durch einen Selbstmord verlor (nicht zwangsläufig an derselben Stelle, aber das spielt absolut keine Rolle). Es könnte aber auch sein, dass er der Geist eines Selbstmörders ist, der einst hier sein Leben beendete, und nun noch einmal auftaucht, um ein anderes Leben rettet. Du könntest durch geschickte Anspielungen auch diese Option offenhalten.

Ein offener Schluss wäre dann richtig passend, den Rest kannst du getrost der Fantasie deiner Leser überlassen.

Fazit: Der Stoff ist gut, du kannst ihn durch einen cleveren Schluss veredeln. Mit dem jetzigen Ende beraubst du dich um jede gute Möglichkeit.


Grüße von Rick

 

Hi, Tserk.

Kritik ist angekommen, allerdings wäre dieser Schluß, den Du vorschlägst, ja der einer ganz anderen Geschichte. Die sicherlich Spaß machen würde zu lesen, die aber ganz bestimmt nicht den Tenor hätte, den diese Geschichte haben soll. Die Idee ist nicht übel, aber sie würde aufgrund ihrer Skurrilität nur unter Humor Sinn machen. Da sind wir hier aber nicht. Und da habe ich die Story auch nicht gepostet.

Daß die Übermittlung meiner Intention wohl nicht ganz funktioniert hat, ist das erste Fazit, das ich aus dem bisherigen Feedback ziehen muß. Daß das auf einen vielleicht etwas zu direkten und darum zu platten Schluß der Geschichte zurückzuführen ist, scheint mir die Haupthypothek zu sein. Werde ich ändern.

Hallo, Rick.

Danke fürs nochmalige Feedbacken.

Es ging mir nicht eigentlich darum, welchen Schluß Du für den besten halten würdest, mich hatte eher interessiert, was an diesem Schluß in Deinen Augen so no-go ist.

Ich habe inzwischen das Gefühl, daß es eine inhaltliche Sache ist. Der Schluß paßt Dir nicht, weil ... ich weiß nicht warum. Daß man ihn platt formuliert finden kann, da bin ich inzwischen auf deiner Seite und werde versuchen, das Finish neu zu schreiben. Daß man den Schluß aber für banal, trivial, hollywoodsentimental hält, das geht ja nicht gegen die Sprache oder die Narrationsdramaturgie, sondern gegen die Aussage.

Die wiederum finde ich gar nicht so banal. Es geht nicht nur darum, daß der Junge von jemandem gerettet wird, der zufällig nachts auf der Brücke steht. Eigentlich werden hier drei gerettet. Der Junge (davor, daß er springt), der Bruder des Retters (symbolisch, weil der Junge seine Stelle einnimmt) und der Retter selbst (der sich mit der Rettung des Jungen von seinen eigenen Schuld, seinen Bruder nicht gehindert, nicht verstanden, nicht genug geliebt zu haben). Ich finde das weder banal noch trivial. Sentimental kann man es findet, aber was ist daran falsch? Vielleicht könnte ich es aber besser verpacken.

Der Vorschlag von Tserk, den "Retter" springen zu lassen, wäre zwar zweifelsohne überraschend, aber auch geradewegs vollkommen unsinnig. Und darum auch nicht passend in mein KG-Konzept. Ich will keine Diskussion über Suizid vom Zaun brechen, dafür kenne ich mich mit dem Thema gottlob zuwenig aus. Aber für mich (persönliche Auffassung) ist der Grund für einen Kurzschluß-Selbstmord (wie diesen hier) in den meisten Fällen eine sozusagen egoistische Geisteshaltung, die nicht mehr in der Lage ist, den Anderen mitzudenken. Der Selbstmörder glaubt, die Welt ist a) nur für ihn da und hat sich b) leider gegen ihn gewandt. Dieses Nurnochsichselbstsehen, dieses Nichtdenken an Konsequenzen, dieser Egoismus, über den eigenen Schlußstrich nicht hinausschauen zu wollen ist es, was der "Retter" hier anprangert. Und darum kann ich ihn nicht in die Tiefe springen lassen. No way. Nicht in dieser Geschichte.

Daß es sich um den Geist eines Selbstmörders handeln könnte, die Idee ist mir als alternativer Schluß nach deiner und Zerbrösel-Pistoles Rückmeldung auch gekommen, aber das wäre dennoch nicht dasselbe, es wäre geradewegs noch banaler, es wäre so eine öde "Ich bewahre Dich vor dem Fehler, den ich einst gemacht habe, huhuuuuu" Klamotte.

Daß ich den Schluß weniger direkt und dafür offener und andeutungsvoller aufbereiten sollte, diese Anregung nehme ich gerne mit und auf. Und danke Dir im übrigen herzlich für Deine ausführliche Antwort.

Gruß
bvw

 

Hoi brudervomweber - eine weile bin ich mit deiner geschicht gegangen - einerseits hat sie mich berührt, andrerseits geärgert - ich wusste nicht, was mich verärgert, grantig macht- und dann verzogen sich die nebel: da gibt es den (verzweifelten) wutausbruch "der schattenhaften Gestalt, der Stimme und Statur nach ein Mann, zweifellos, in einen Mantel gehüllt" - um ihr, der gestalt, zu ermöglichen, zu sagen, was sie ihrem bruder nicht (mehr) sagen konnte - (geht übrigens aus deinem text nicht hervor, dass die gestalt ihren bruder auf diese weise "verloren" hat - oder hab ich was überlesen - ich habs deinem kommentar entnommen) - wurde der junge mann kreiert - er dient der gestalt als projektionsfläche - hat kein eigenleben - bzw. dient er dem autor, die message der gestalt rüberzubringen - "gestalt" wiederhole ich desewegen sooft, weil es mich in der geschichte stört, dass der andere eine gestalt bleibt - eine gestalt für seine aussage - wenn er einen lebendigen gegenspieler bekäme, einen mit kontur und geschichte, dann würde auch er farbe annehmen müssen - z. b.: könnte der junge mann auf der anderen seite des brückengeländers dem retter glasklar zu verstehn zu geben, dass er sich nicht dafür hergibt, damit er, der retter, retten könnte - seine schuld (woher er immer sich nehmen möcht, dass er schuld sei, an der entscheidung seines bruders - vielleicht typischer fall von überverantwortlichkeit) abtragen möcht - dass er nämlich - der junge mann - endgültig genug hätte den erwartungen und moralvorstellungen seiner mitmenschen, besonders seiner "guten" mitmenschen, zu entsprechen - dass er jetzt eben die kraft gefunden hätte, diesen erwartungen mit seinem körper sein Nein! entgegenzuschleudern - und dass er sich jetzt, genau jetzt sehr lebendig fühle - wie siehts denn mit dem egoismus der gestalt aus? - weil sie sich keine gedanken möcht, darf er nicht springen? -
und "verloren" geht nicht: was war, war - geht nicht verloren - auch der bruder nicht - die gestalt kann ihn, wenn sie möchte, mitsamt seiner eigenmächtigen entscheidung in die arme schließen - und dankbar sein oder verärgert, für die zeit in der er war - er war, wie immer die gestalt das bewertet -
es kommt für meinen geschmack eben zu farblos rüber, wenn prot. kreiert werden, um eine message loszuwerden -
das habe ich für mich in der auseinandersetzung mit deiner geschichte gelernt -
grüße
krissy

 

Hi, Krissy.

Danke erstmal fürs Lesen und fürs Dich ärgern.

Zunächst mal ist es schön, daß die geschichte Dich berührt hast, andererseits erklärst Du für mich nachvollziehbar, was Dich an ihr gestört hat. Zweifellos Hat Dein Argument für einen Selbstmord - ihn nämlich als ein Zeichen des Protestes zu sehen, ihn als ein aktives und selbstbewußtes Symbol ans Leben und nicht als eine kopflose und feige Flucht aus ihm zu verstehen - einen interessanten Aspekt, den ich aber leider so nicht zu denken in der Lage bin. Das ist eben das Heikle an dem Thema - ich habe da eine sehr eingeschränkte Sicht drauf, und die ist eben jene, daß ich mir nicht logisch und emotional erschließen vermag, weshalb sich jemand das Leben nimmt. Logisch leuchtet mir Dein Argument durchaus ein, aber emotional kann ich nicht daran andocken. Daher die vielleicht eingeschränkte Perspektive, daher auch meine mangelnde Toleranz gegenüber einer solchen Entscheidung.

Darum natürlich auch die einseitige Charakterisierung. Ich kann die Verbitterung sehr gut nachfühlen, aber ich kann gleichzeitig dem angehenden Selbstmörder nur unterstellen, daß er seine Entscheidung nicht richtig oder unter falschen Vorzeichen durchdacht hat. Den Spagat, beide Haltungen wirklich nachempfinden zu können, kann ich nicht leisten.

Du hast natürlich recht, daß der junge Mann dadurch eine blasse Figur bleibt, daß er Projektionsfläche für die Gefühle des anderen wird, und daß er letztlich auch für seinen Retter eigentlich als Person überhaupt keine Rolle spielt, bis auf die, daß er symbolisch in die Rolle eines anderen schlüpft.

(Das mit dem Bruder hatte ich ganz am Anfang explizit am Ende stehen, aber nachdem ich mir die Hollywoodkitsch-Maulschellen abgeholt habe, habe ich den Schluß ein wenig umformuliert, so daß es jetzt wieder ungewisser ist, was eigentlich das Motiv für die "Gestalt" war, mitten in der Nacht auf der Brücke zu stehen.)

Das mit dem "Verloren" ist im übrigen ja auch eine Frage der Perspektive. Unter dem Aspekt eines "Was wäre wenn", der ja nun im wesentlichen den Schuldkomplex ausmacht, hat man einiges verloren, und der Blick auf das, was war, wird dadurch, daß man dem nachtrauert, was hätte sein können, ja verstellt. Am Ende hat sich der Blick auf dieses Gewesene durch den symbolischen Rettungsakt geklärt. Das war meine eigentliche Absicht. Aber vielleicht habe ich mich doch etwas vorschnell auf das dünne Eis der Selbstentleibung begeben.

Danke jedenfalls für Deine spannende Meinung.

Gruß
bvw

 

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