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Wenigstens heute Nacht
„Warum?“
Die Stimme ließ den jungen Mann zusammenzucken, eiskalter Schreck fuhr ihm ins Herz, dann in seine Glieder. Er begann zu zittern. Vorsichtig wandte er den Kopf zur linken Seite, um hinter sich zu blicken. Er sah niemanden.
„Hallo?“ fragte er leise, unsicher. „Ist da jemand?“ Der junge Mann stand außerhalb des Einsenbahnbrückengeländers, den Rücken gegen die etwas mehr als hüfthohe Brüstung gedrückt, die Arme nach unten hängend, nach hinten angewinkelt, die Hände an den abblätternden Lack des Handlaufs geklammert.
„Ja“, sagte die Stimme wieder. „Ich bin hier drüben.“ Vorsichtig wandte der junge Mann seinen Kopf nach rechts, blickte hinter sich. Dort sah er im blassen Licht des halbvollen Mondes eine schattenhafte Gestalt, der Stimme und der Statur nach ein Mann, zweifellos, in einem Mantel.
„Äh, hallo,“ sagte der junge Mann wieder.
„Hallo“, sagte die Gestalt.
„Was – was machen Sie denn hier?“
„Sie meinen, was ich hier mitten in der Nacht ...“ – der Mann hob das linke Handgelenk, drückte mit dem rechten Zeigefinger auf einen Knopf seiner Armbanduhr. Ein fahles, blaues Licht erleuchtete das Ziffernblatt. „... um viertel nach zwölf auf einer Eisenbahnbrücke mache?“
Der junge Mann schwieg.
„Meinen Sie das?“ fragte die Gestalt erneut.
„Ja“, sagte der junge Mann kleinlaut.
„Das ist eine gute Frage. Aber ich habe zuerst gefragt.“
„Bitte?“
„Ich habe gefragt: Warum?“
„Warum ... was denn?“
„Warum Sie hier runterspringen wollen?“
„Ich will doch gar nicht –„
„Natürlich nicht. Sie sind nur über die Brüstung gestiegen, um die tolle Aussicht besser genießen zu können, was? Wem wollen Sie das erzählen?“
„Ich ...“ Die Stimme des jungen Mannes verlor sich bereits in dieser einen Silbe.
„Gut. Worauf warten Sie noch? Springen Sie.“
Der junge Mann wandte den Kopf wieder nach vorn, blickte in das schwarze Nichts der nachmitternächtlichen Leere. Seine Kiefer mahlten. Unter ihm, das wusste er, ging es wenigstens 50 Meter in die Tiefe. Er sprang nicht.
„Geht’s nicht?“ fragte die Gestalt nach einer Weile.
„Ich kann nicht“, sagte der junge Mann.
„Warum nicht? Ist es Ihnen peinlich, vor meinen Augen in den Tod zu springen?“
Der junge Mann nickte zögerlich.
„Das finde ich wirklich unglaublich. Es ist Ihnen peinlich, dass Sie vor meinen Augen die Kontrolle verlieren könnten? Dass Sie einen unwürdigen Abgang haben könnten? Dass ich irgendjemandem erzähle, dass Sie gekreischt haben? Dass der Sturz nicht ästhetisch genug war?“ Die Stimme klang plötzlich anders, aufgeladener, wütender. „Das ist hier kein Bungee-Springen! Wenn Sie erst da unten liegen, Freundchen, dann kann Ihnen das alles egal sein. Dann sind Sie tot! Das wissen Sie, oder? T – O – T! Dann haben Sie alles hinter sich! Und es ist Ihnen peinlich?!“
Der junge Mann sog scharf die kalte Luft ein und nickte. Er schrie ängstlich und überrascht auf, als er einen eisenharten Griff im Nacken spürte und eine seiner Hände gewaltsam vom Geländer gelöst wurde.
„Du kleines, selbstsüchtiges Arschloch!“ hörte er die zornige Stimme des Mannes hinter sich. „Du dreckiger, rückgratloser Verlierer! Es ist Dir peinlich, zu sterben? Was für eine beschissene Pose ist das, wen willst Du damit beeindrucken, Du rückgratloser Wichser?!“ Der Druck im Nacken verstärkte sich, die Gestalt drehte dem jungen Mann den Arm auf den Rücken, Schmerzen schossen ihm in Schulter und Rücken. „Aua, bitte, hören Sie auf, bitte aufhören, lassen Sie mich in Ruhe, ich habe Ihnen doch gar nichts getan!“ Der Schmerz im Arm wurde schlagartig schlimmer, als die Gestalt ihn gewaltsam noch höher bog.
„Nichts getan?! Weißt Du Pisser eigentlich, was Du hier heute anrichtest? Bist Du Dir im Klaren darüber, was Du mit so einer Selbstmord-Scheiße tust?! Ich könnte Dir die ganze Nacht die Fresse polieren, ich könnte Dir wochenlang die Fresse polieren, Du hirnloser Idiot!“
Der Griff im Nacken verschwand schlagartig, der Arm hinter seinem Rücken wurde ebenso plötzlich losgelassen. Der junge Mann kreischte angstvoll auf, er war steif vor Schrecken, er drohte zu fallen, seine Beine trugen ihn nicht mehr, sein Arm war schlaff vor Schmerzen, sein anderer Arm kraftlos. Bevor ihm der letzte Halt entgleiten konnte, legte sich von hinten ein Arm um seine Kehle, er spürte den Atem der Gestalt ganz dicht an seinem rechten Ohr.
„Du hast es dann hinter Dir. Dein Leben wird Dir zuviel, Du packst es einfach nicht mehr, was? Und dann verdrückst Du Dich, Du Feigling, auf die selbstgerechte Tour. Das Leben will mich nicht, also bring ich mich um. Wie mich so eine Scheiße ankotzt. Hast Du einen einzigen Augenblick mal nicht nur an Dich gedacht? An Deine Eltern? An Deine Geschwister? An Deine Freunde? An die Leute, die Dich morgen zerschmettert da unten finden werden? Was Du mit deren Leben machst? Hast an die mal gedacht? Hast Du an irgendjemanden außer an Dich gedacht?!“
„Ich – ich ...“, stammelte der junge Mann.
„Genau, ich, ich, ich, immer nur ich! Du bist nicht der Mittelpunkt der Welt, und weil Du das nicht erträgst, müssen alle anderen durch die Hölle gehen, was?! Hast bestimmt einen Abschiedsbrief geschrieben, um Dein Gewissen zu beruhigen. ‚Ihr könnt nichts dafür, ich pack’s einfach nicht!’ Und sicherlich unten drunter gekritzelt: ‚Ich liebe Euch!’“ Er wurde herumgerissen, wollte schreien, aber er konnte nicht. Nackte Panik schnürte ihm die Kehle zu. Er blickte im Mondschein der Gestalt ins Gesicht, in ein Gesicht, das ihn in einer schrecklichen Grimasse voller Zorn, Hass und unbändiger Traurigkeit anstarrte. „Hast Du so was geschrieben? Hast Du’s geschrieben!? Dass Du sie liebst, Deine Eltern, Deine Freunde? Und so sieht das aus, wenn Du jemanden liebst? Du kneifst, Du verdrückst Dich und lässt alle zurück, denen Du etwas bedeutest? Lässt sie allein mit der Schuld, Dich nicht gehindert, Dich nicht verstanden, Dich nicht genug geliebt zu haben?! Sieht das so aus, wenn man alle liebt, ja?! Ich sollte Dich eigenhändig von dieser Brücke werfen, Du selbstsüchtiges Stück Scheiße!“ Die Hände, die den jungen Mann am Kragen gepackt hielten, zitterten vor Wut, der ganze Mann vor ihm bebte vor verzweifelter Spannung.
„B-bitte nicht“, ächzte der junge Mann und Tränen flossen über sein Gesicht. „Bitte, ich wollte nicht – ich wusste doch nicht ... bitte, es tut mir leid! Es tut mir leid!“ Der junge Mann brach in Tränen aus, sein Körper fiel völlig in sich zusammen. Die Gestalt, der ihn immer noch am Kragen hielt, zog ihn sachte über das Brückengeländer auf den Pfad neben den Gleisen, wo er zu Boden sank. Der Mann sackte kraftlos neben ihm zu Boden und blieb eine Weile neben dem schluchzenden Körper hocken. Dann streckte er vorsichtig die Hand aus und berührte den jungen Mann an der bebenden Schulter. Er rutschte näher und legte die Arme um ihn. Gemeinsam weinten sie.
Nach einer langen Weile löste sich der junge Mann aus dem Griff des Älteren und setzte sich auf. „Ich danke Ihnen“, sagte er und zog die Nase hoch. „Wirklich. Ich weiß nicht, was ich gemacht hätte, wenn Sie nicht hier gewesen wäre.“ Der Mann blickte ihn schweigend an. „Ich meine“, fügte der junge Mann hinzu, „ich weiß, was ich gemacht hätte. Es war gut, dass Sie hier waren.“
Der Mann nickte.
„Ich ... ich gehe dann jetzt. Ich muss was essen. Ich muss ... ich muss mal mit jemandem reden, ja?“ Der Mann blickte ihn erneut schweigend an, aber diesmal lächelte er erschöpft durch die Tränen, die in seinen Augen standen. Er wollte etwas sagen, aber seine Stimme gehorchte ihm nicht, und er nickte erneut.
Der junge Mann erhob sich und stand auf immer noch wackligen Beinen. Er fasste das Geländer, aber diesmal von der anderen, der richtigen Seite. „Kommen Sie zurecht?“ fragte er und erntete erneut ein Nicken und ein halbes Lächeln.
“Gehen Sie ruhig“, sagte der Mann heiser. „Ich komme schon zurecht.“
„Gute Nacht.“
„Ja. Ihnen auch.“
Der junge Mann ging, zunächst unsicher, dann mit festerem Schritt. Er faßte das Ende der Brücke in den Blick und beschloß, sich erst wieder umzublicken, wenn er es erreicht hatte. Er hörte seinen eigenen Atem, und das erfüllte ihn mit einer eigentümlichen Euphorie. Bevor er vom Brückendamm zu dem angrenzenden Feldweg hinabstieg, blickte er ein letztes Mal zurück.
Der Mann stand jetzt an der Brüstung und blickte in die Nacht. Dann bewegte sich sein rechter Arm, so als habe er etwas von sich fort in die Tiefe geworfen. Der junge Mann glaubte ein kleines weißes Flackern im Dunkel der Nacht zu sehen, wie von einem Stück Papier, das vom Mondlicht getroffen wird. Dann wandte sich der Mann um und ging in die Finsternis davon, auf die gegenüberliegende Seite der Brücke.
Es schien dem Jungen, als sei soeben etwas zu Ende gegangen. Er schaute auf seine Uhr. Wenn er sich beeilte, schaffte er es vielleicht noch rechtzeitig zur Bushaltestelle.