Wenn Der Eismann Kommt…
„Mein Name ist Ryan! Ryan Silverman! Ich bin 16 Jahre alt und wohne in einem kleinen Kaff namens Poor-Man-Wedding! Eigentlich sind wir eine ganz normale amerikanische Kleinstadt hier im Süden Ohios… eigentlich! Bis auf eine winzige Kleinigkeit… eine sehr merkwürdige Kleinigkeit!
Seltsamerweise wurde niemals jemand von außerhalb auf uns oder auf die Geschehnisse hier in Poor-Man-Wedding aufmerksam. Das hat mich schon immer irgendwie… irgendwie gewundert. Aber mittlerweile glaube ich, es liegt daran, dass es einfach keinen interessiert, was sich hinter der Idylle von amerikanischen Kleinstädten verbirgt. Vielleicht ist es aber auch die Furcht vor dem Monster, das zu Tage kommen könnte. Ich weiß es nicht, und… und ich glaube, ich es werde es wohl niemals wissen.
Seit nun schon ungefähr 60 Jahren verschwinden Menschen… spurlos. Niemals ist wieder einer aufgetaucht… niemals wurde eine Leiche gefunden. Es ist, als würden sie sich in Luft auflösen… einfach „buff“!
Ich bin damit aufgewachsen. Es wäre übertrieben zu sagen, man gewöhnt sich daran, aber… aber es wurde in gewisser Weise zur Normalität. So eigenartig das auch klingen mag.
Immer wieder traf es Menschen, die ich entweder näher kannte oder zumindest immer wieder einmal irgendwo gesehen habe. Das passierte ständig… ständig.
Wie ich bereits sagte, war es mittlerweile eine grausame Tradition. Doch ebenso merkwürdig war das Verhalten der Bewohner von Poor-Man-Wedding. Ich hatte das Gefühl, jeder wusste was hier vorging. Ich dachte, sie wären die Hüter eines grausamen Geheimnisses.
Nun - bei Gott - weiß ich wie recht ich damit hatte…
Es ist jetzt mehr als 2 Tage her als ich und zwei meiner Freunde beschlossen, dieser mysteriösen Sache näher auf den Grund zu gehen. Aus meiner jetzigen Sichtweise weiß ich… weiß ich, wir hätten zur Hölle unsere gottverdammten Finger davon lassen sollen…
Dann würden Andrew und Percy… dann… dann würden beide noch leben…
Wahrscheinlich hätten wir uns nie darum gekümmert, wenn… ja wenn Percy nicht vor 2 Tagen mitten in der Nacht dieses seltsame Erlebnis gehabt hätte.
Aber ich will es ihnen von Anfang an erzählen…!“
„Jungs, wenn ich’s euch doch sage. So gegen 3, vielleicht halb vier… mitten in der Nacht… ich… ich konnte meinen Augen nicht trauen!“
Vollkommen aufgeregt stand Percy Lindser in meinem Zimmer. Er war außer Atem und hatte große Mühe zu sprechen.
Ebenfalls anwesend war Andrew Stone. Beide waren meine Klassenkameraden und meine besten Freunde.
„Also, Percy, das klingt allerdings sehr, sehr... ich weiß nicht…!“ Andrew strich sich durchs blonde Haar. Mittlerweile hatte Percy sich leicht beruhigt.
„Das ist mir auch klar. Aber ich traue meinen Augen… ich habe sogar meine Brille angezogen…!“
Percys Puls ging wieder hoch. Er starrte uns beide an.
„Ich lag in meinem Bett und schlief… was sollte ich sonst nachts um drei Uhr auch tun… plötzlich hörte ich ein Bimmeln. Ein Bimmeln wie es immer der Eismann tut. Ich rieb mir die Augen, zog meine Brille an und taumelte zum Fenster.
Ich… ich musste zweimal hinsehen… ich konnte es nicht glauben. Draußen hielt tatsächlich der Eismann… oder zumindest irgendwas Ähnliches. Ich sah einen braunen Lieferwagen, der langsam durch die Straße tuckerte und mit dieser verfluchten Klingel versuchte alle zu wecken.
Ich dachte, welche Irre will nachts um drei Eis verkaufen… wie irre muss ein Mensch sein?“
Percy nahm seine Brille ab und setzte sich auf mein Bett. Andrew starrte zu Boden.
„Das war kein Eismann! Ich habe ihn auch schon gesehen… es war irgendwann im Winter… auch mitten in der Nacht… bei stürmischen Regen…! Das war kein Eismann. Dieser Irre verkauft irgendetwas anderes…aber auf jeden Fall kein Eis!“
Percy wurde wieder nervöser.
„Jungs, wartet… das Beste kommt noch…! Plötzlich… plötzlich hielt dieser seltsame Kerl an und öffnete eine Seitenfenster. Ich habe versucht, ihn zu erkennen… aber… aber er war zu weit entfernt…!
Wenige Sekunden später kam dann Mrs. Flower zu… zu dem Eismann. Sie unterhielten sich und dann gab er ihr ein Paket…!“
Jetzt wurde ich ebenfalls nervös. Percy hatte mich angesteckt.
„Ein Paket…???“
„Ja, ein Paket…! Danach fuhr er davon und Mrs. Flower ging wieder in ihr Haus!“
Percy atmete einmal tief durch. Er schien erleichtert. Als hätte er sich gerade eine Riesenlast vom Herzen geredet.
„Andrew, du hast ihn auch schon gesehen, sagst du?!“ Warum hast du das nie erzählt!“
Andrew schüttelte mit dem Kopf und zuckte dann mit den Schultern.
„Ich weiß es nicht! Hab es ziemlich schnell wieder vergessen…!“
Wir schwiegen alle. Keiner wusste was er sagen könnte. Keiner hatte eine plausible, vernünftige Erklärung dafür, weshalb irgendein Psycho mitten in der Nacht bei strömenden Regen mit einem Eiswagen durch die Straßen von Poor-Man-Wedding fuhr und versuchte irgendetwas zu verkaufen. Aber was auch immer das für eine kranke Sache war, offensichtlich hatte er Erfolg damit.
Am nächsten Morgen plagten mich heftige Kopfschmerzen. Ich beschloss zu unserer Dorfapotheke zu gehen und mir einige Aspirin zu besorgen. Unentwegt musste ich an unser gestriges Gespräch denken, es… es wollte nicht mehr aus meinem Kopf… was geht hier vor sich.
Die Apotheke von Poor-Man-Wedding war ein kleiner, aber gut sortierter Betrieb, der schon seit ewigen Jahren in der Hand der Familie Holland war. Vor gut 60 Jahren eröffnete Chad Holland sie und übergab sie einige Zeit vor meiner Geburt an seinen Sohn Bob, der sie auch heute noch führt. Und wie ich bereits erwähnte, führte Bob Holland sie sehr gut. Er war ein fähiger und zudem noch ein sehr freundlicher Mensch, Mitte vierzig, der offensichtlich ziemlich gut von dem, was sein Laden abwarf, leben konnte. Er hatte ein tolles Haus, ein teures Auto und war immer fein gekleidet. Seinetwegen spielte ich Langezeit mit dem Gedanken auch Apotheker zu werden, um ebenfalls in diesen goldenen Apfel hineinbeißen zu dürfen, aber… aber das hat sich nun alles erledigt.
Ich betrat die Apotheke, kaufte mein Aspirin, hielt ein kleines Schwätzchen mit Mr. Holland und wollte das Geschäft gerade wieder verlassen, als plötzlich Mrs. Flower hereinkam. Ich musste schlucken und sofort an Percy gestrige Worte denken. Ein eigenartiges Gefühl stieg in mir auf… ich musterte sie von oben bis unten. Was zur Hölle hat sie mitten in der Nacht nur da gewollt?
Eigentlich schien mir Mrs. Flower immer eine nette Frau ohne große Geheimnisse zu sein. Ich würde behaupten, sie wäre die perfekte Großmutter. Aber was machen perfekte Großmütter nachts bei einem Freak, der in einem Eiswagen herumfährt?
Kurz spielte ich mit dem Gedanken, sie einfach zu fragen… geradeheraus! Ich meine, was sollte denn schon groß passieren? Würde sie mich erschießen? Würde sie mich schlagen?
Bestimmt würde sie sich herausreden und mir irgendwie ausweichen. Nein. Ich glaube, das bringt nichts…
Schließlich verließ ich die Apotheke und ging nach hause.
Gegen Mittag klingelte es an meiner Haustür. Percy und Andrew hatten sich zu einem Kurzbesuch entschlossen.
Beide waren sehr aufgeregt und sofort hatten wir wieder nur ein Gesprächsthema.
Percy schien von dieser Sache besessen und auch ich muss zugeben, dass mich dieses perfide Thema irgend wie faszinierte.
„Jungs, wir müssen der Sache auf die Schliche kommen...!“
Percy war sofort Feuer und Flamme für meine Idee.
„Das sehe ich ganz genauso, Ryan, mich lässt dieses Thema nicht mehr los!“
Nur Andrew hatte leichte Zweifel.
„Ich weiß nicht! Sollten wir uns da wirklich einmischen...!“
Ich legte meinen Arm auf Andrews Schulter.
„Heute Nacht legen wir uns auf die Lauer!“
„Aber... aber wer sagt denn, dass wir ihn wirklich finden?“
Jetzt legte auch Percy seinen Arm auf Andrews Schulter.
„Wir finden ihn, Andrew... wir finden ihn...!“
Percy wusste zu diesem Zeitpunkt noch nicht, wie Recht er damit haben sollte.
Nachmittags beschloss ich noch zwei Stunden zu schlafen. Schließlich hatte ich eine anstrengende Nacht vor mir.
„Ryaaaaaaaan!!!! Kommst du bitte kurz?“
Gerade als meine Augen zufallen wollten, rief meine Mutter. Mit gequältem Blick stieg ich aus meinem Bett und ging an die Treppe im Flur.
„Was ist los?“
Meine Mutter war wie alle Mütter, herzensgut, hilfsbereit... und nervig.
Sie war die typische Hausfrau... immer besorgt, immer zuverlässig... sie hielt die Familie zusammen, während mein Vater die Brötchen verdiente. Er war Buchhalter in Poor-Man-Weddings ganzem Stolz... dem Sägewerk.
Eigentlich hatte ich eine glückliche Kindheit. Meine Mutter war, wie ich bereits erwähnte, wie man sich eine Mutter wünscht und mein Dad war ein Klassetyp. Wir spielten früher immer zusammen Baseball, ließen Drachen steigen oder gingen Angeln. Es war alles wie ein billiges Klischee aus einem Hollywood-Streifen... aber es war Realität.
Meine Freunde Percy und Andrew hatten weit weniger Glück als ich. Percys Vater starb vor ungefähr 7 Jahren bei einem Brand im Sägewerk und Andrews Vater war ein sadistischer Alkoholiker.
„Ryan, mein Schatz, ich gehe noch kurz zu Mr. Willing!“
Ich musste laut gähnen.
„Okay, Mum...!“
Meine Augen wurden immer kleiner. Ich trabte zurück ins Bett. Dabei musste ich plötzlich an Mr. Willing denken. Ihm gehörte der Frisörladen in der Candice Avenue. Meine Mutter ging mindestens einmal im Monat zu ihm und unterzog sich einer Grundüberholung. Als kostenlose Zugabe gab es die aktuellsten Gerüchte und den neuesten Tratsch. Schrecklich.
Meiner Meinung nach war Mr. Willing ein fürchterlicher Mensch. Ein aalglatter Kerl, der über jeden und alles etwas zu sagen hatte. Er war jemand, der dich freundlich anlächelte und beim nächsten Moment die Klinge in dein Bein rammte. Ich mochte solche Menschen nicht im geringsten... absolut nicht...
„Was zur Hölle ist das?“
Immer wiederkehrende dumpfe Schläge rissen mich aus meinem Schlaf. Ich setzte mich auf und erschrak.
„O Mann, draußen ist bereits stockduster. Wie lange habe ich denn geschlafen?“
Nach einem Blick auf meinen Digitalwecker rieb ich mir die Augen.
„ 22.17 Uhr!! Ich habe fast 6 Stunden geschlafen!“
Ich reckte mich und zuckte zusammen als wieder ein dumpfer Schlag in mein Ohr drang.
Es dauerte wenige Sekunden bis ich endgültig registrierte, dass jemand kleine Steinchen an mein Fenster warf.
„Was zur Hölle...!“
Immer noch müde erhob ich meinen Körper und torkelte zum Fenster.
„Ach Jungs, ihr seid es... tut mir leid, ich bin eingeschlafen...!“
Percy schüttelte vorwurfsvoll mit seinem Kopf und sah Andrew an, der nur kurz mit den Schultern zuckte.
„Ich ziehe mich schnell an, dann... dann komme ich runter!“
Wir zogen durch die Nacht. Wir waren drei junge Männer auf dem Abenteuer ihres Lebens. Wir waren auf der Suche... auf der Suche nach einem Irren, der mitten in der Nacht Eis in unserer Stadt verkauft... verrückt... das würde uns kein Mensch glauben.
„Verflucht... wo ist dieser verdammte Bastard?“
„Wir laufen jetzt schon knapp eine Stunde durch die Gegend... ohne eine gottverdammte Spur...!“
So allmählich verloren wir die Lust an unserem Abenteuer. Andrew wurde zusehends müder und Percy war unentwegt am Fluchen.
„Jungs, ich würde sagen, wir brechen unsere Mission ab und verschieben sie auf morgen. Anscheinend ist hier niema...!“
Andrews Worte wurde plötzlich jäh von einem bizarren Klingeln unterbrochen. Ein grauenhafter Ton… mir gefror das Blut in den Adern.
Er war einige Meter entfernt... doch wir konnten ihn deutlich hören. Endlich... endlich hatten wir ihn gefunden...
„O mein Gott, da ist er!“
Andrews Teilnahmslosigkeit schlug in Hektik um.
„Was... was machen wir jetzt... wie gehen wir jetzt vor? Ryan? Percy?“
Ich versuchte ruhig zu bleiben und atmete tief durch.
„Wir... wir schleichen uns an ihn ran und... und...!“
Meine beiden Freunde sahen mich erwartungsvoll an.
„...und... und sehen was passiert!“
Der irre Eismann hatte mittlerweile angehalten und stand in der Planderstreet... fast genau unter einer Straßenlaterne. Weit und breit war sonst niemand zu sehen. Scheinbar waren wir drei und dieser Freak die einzigen Menschen, die noch auf den Beinen waren – scheinbar.
Die Planderstreet lag am Stadtrand und war nur einseitig bebaut. Von der Innenstadt kommend war nur die rechte Straßenseite mit Häusern besiedelt. Die linke Seite bestand aus einem großen Hügel, dahinter befand sich ein kleiner Fluss, der Wedding River, und hinter diesem Fluss wiederum lag Fellow Point, ein Stadtteil von Poor-Man-Wedding .
Percy, Andrew und ich standen auf jenem besagten Hügel, geschützt von einer kleinen Hecke und hatten den vollen Überblick über die Planderstreet.
Plötzlich öffnete sich die Fahrertür des Eiswagens und jemand stieg aus.
„O mein Gott… da… da ist er…!“
Im Scheine der Straßenlaterne konnte ich eine weiße Mütze, ein weißes Hemd und eine Hose erkennen. Mehr war nicht zu sehen… noch war er zu weit entfernt.
„Dieser Irre ist sogar wie ein Eismann gekleidet…!“
Langsam lief er um das Auto herum und blieb hinten vor den beiden Hecktüren des braunen Lieferwagens stehen. Der Eismann schaute sich um und öffnete erst die rechte, dann die linke Tür.
„Was… was hat er vor?“
Er nahm eine große blaue Tüte heraus, legte sie sich auf die Schulter und taumelte zu einem Haus.
„Was ist das? Ist das eine…?“
Percy zog seine Brille aus und rieb sich die Augen.
„Keine Ahnung, was sich in diesem Sack befindet, aber es scheint höllisch schwer zu sein…!“
Der Kerl öffnete mit einer Hand die Gartentür des Hauses, balancierte geschickt mit dem scheinbar schweren Sack hindurch und betrat den Vorgarten.
„Das ist das Haus der Bergs…! Meine Opa ist ein alter Freund von Nicholas Berg!“
„Okay, Ryan, was nun…?“
Mit der rechten Faust hämmerte der Eismann gegen die Haustür der Bergs. Nach wenigen Sekunden wurde sie tatsächlich geöffnet. Mitsamt dem Sack verschwand unser Eismann im Haus von Nicholas Berg.
„Okay, Jungs… was… was machen wir jetzt?“
Mein Blick fiel auf den braunen Lieferwagen, dessen Hecktüren immer noch offen standen.
„Wir sehen uns den Wagen an…!“
„Aber… aber, Ryan… der Freak kann jede Sekunde wieder erscheinen…!“
„Halt die Luft an, Percy, das ist unsere Chance…!“
Wie ein Besessener verließ ich meinen sicheren Platz hinter der Hecke und stürmte den Hügel hinab. Andrew folgte mir und letztendlich hatte auch Percy seine Angst überwunden und stürmte in sicherem Abstand hinterher.
Wenige Meter vor dem Eiswagen hielt ich inne und starrte auf die Hecktüren. Percy und Andrew waren direkt hinter mir. Ich konnte beide laut atmen hören. Sie waren starr vor Angst… genau wie ich…
„Ryan… was ist los? Wir müssen uns beeilen… komm schon…!“
Andrew gab mir einen kleinen Schubs… das hatte ich gebraucht… ich ging zu dem Wagen, öffnete langsam die wieder zugeklappten Hecktüren und riskierte einen Blick in den mysteriösen Eiswagen. Mein Herz klopfte… ich war auf alles vorbereitet…
Doch diesen Anblick werde ich mein Leben lang nicht mehr vergessen… das Blut gefror in meinen Adern… ich war unfähig ruhig und gleichmäßig zu atmen.
In dem Lieferwagen hingen an der linken Wand etliche durchsichtige Tüten. Tüten gefüllt mit menschlichen Gliedmaßen… ich sah Arme, Beine, Finger, sogar Ohren und Nasen…
Ich weiß nicht warum, aber ich stieg in den Eiswagen hinein und betrachte die Tüten genauer. Es… es war grauenhaft… überall schwamm noch Blut in den Tüten… Blut und Wasser…
Jetzt bemerkte ich auch den furchtbaren Gestank, der mir sofort Tränen in die Augen trieb.
Ich sah Percy und Andrew an, die beide an den Türen standen und unfähig waren etwas zu sagen. Andrew starrte auf die abgetrennten Gliedmaßen… seine Augen traten fast aus den Höhlen heraus. Percy hatte beide Hände vor dem Mund… dann übergab er sich.
Ich sah mich weiter in dem Lieferwagen um und entdeckte eine Box. Meine innere Stimme schrie mich an sie nicht zu öffnen, aber… aber ich musste… ich musste sie öffnen. Zitternd legte ich meine Hand an den Deckel und…
„Neeeeein!!! O mein Gott… bitte nicht… bitte nicht…!!!“
Ein gellender Schrei durchfuhr meinen Körper, ich drehte meinen Kopf und… ich sah dem Eismann mitten ins Gesicht.
Meine Hände begannen wie wild zu zittern… ich musste laut schreien.
Andrew lag auf dem Boden – tot – in seinem linken Auge steckte ein Fleischmesser…
Der Eismann drückte Percy an die Hecktür und hielt ihm einen spitzen Gegenstand an den Hals. Es sah aus wie eine Mischung aus einer Stricknadel und einem Eispickel…
„KINDER, KINDER… NA? WOLLTET IHR EIN WENIG SCHNÜFFELN? WOLLTET IHR DAS GEHEIMNIS VON POOR-MAN-WEDDING WISSEN? HEHE… NUN… JETZT WISST IHR ES…!“
Ich starrte dem irren Freak mitten in das mir sehr vertraute Gesicht und konnte noch keine Worte finden… Ich versuchte gleichmäßig zu atmen…
„Mr. Holland!!! Das… kann… doch… nicht…! Mr. Holland? Sie… sie… Was haben sie getan… was haben sie getan?“
Tränen liefen meine Wange hinunter. Ich konnte es nicht fassen… hinter dem irren Eismann verbarg sich niemand geringeres als Mr. Holland, unser Dorfapotheker. Ein Mann, den ich schon mein ganzes Leben lang kenne… Mein ganzes Leben…
„Sie haben meinen Freund getötet und… und all diese Menschen hier!“
Ich musste mich an der Wand abstützen um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.
„Warum? Warum… warum haben sie das getan? Warum… Mr. Holland???“
„NEIN, NEIN, NEIN… NICHT NUR ICH! ES IST DIE STADT, RYAN… ES IST DIE STADT…!“
Seine Augen bekamen ein irres Glitzern und sein Mund verzog sich zu einem diabolischen Grinsen.
WIR… WIR LIEBEN MENSCHENFLEISCH… ES IST SO ZART UND SO FEIN!“
Ein entsetzlicher Gedanke stieg in mir hoch… verbunden mit grenzenlosem Ekel.
„Nein! Nein! Das… das kann nicht sein… Nein!“
Mr. Holland lachte.
„… UND NUR WENIGE KOMMEN IN DEN GENUSS DIESER DELIKATESSE…!“
Allmählich wich meine Angst und Furcht grenzenloser Panik…
„Ihr wahnsinnigen Mörder… ihr wahnsinnigen Mörder!“
„ICH BIN EUCH ZU GROSSEM DANK VERPFLICHTET… NUN, MUSS ICH DIESE WOCHE NICHT MEHR AUF DIE JAGD GEHEN!“
Dann rammte Mr. Holland den spitzen Gegenstand in Percys Adamsapfel. Blubbernd und Blut spuckend brach er zusammen und hielt sich den Hals. Er sah mich an… niemals werde ich diesen Blick vergessen… niemals… dann starb er.
„Sie wahnsinniges Dreckschwein…!“
Sofort drehte ich mich herum, kletterte über die Sitze und verließ den Eiswagen durch die Fahrertür. Der wahnsinnige Mr. Holland reagierte überhaupt nicht… er starrte mich nur lachend an. Ich nahm meine Beine in die Hand und rannte wie der Teufel über den Hügel… ich rannte und rannte…
Immer wieder sah ich Percy vor mir… wie er mich ansah, blutüberströmt, hechelnd nach Luft… mit durchstochenem Adamsapfel…
Wieder musste ich weinen…
Nach einem 10 Minuten Lauf war ich dann zuhause. Ich stieg die Treppen hoch, ging in mein Zimmer und hockte mich vors Bett…
Immer und immer lief alles vor meinem geistigen Auge ab.
Nach einer halben Stunde erhob ich mich, wischte die Tränen aus meinem Gesicht und setzte mich an meinen Schreibtisch.
Dann begann ich das alles hier aufzuschreiben…
Ich konnte niemandem trauen… jeder konnte darin verwickelt sein… jeder hier konnte ein Kannibale sein und seine Mitmenschen verspeisen.
Seit Jahrzehnten schon gibt es offenbar hier wohl diesen Kult… diesen grausamen, bestialischen Kult.
Endlich hatte ich das Geheimnis von Poor-Man-Wedding gelöst… ich wusste nun, warum hier immer und immer wieder Menschen verschwinden… Gott, es ist grauenhaft… ich habe das Geheimnis unserer Stadt gelöst…aber… aber ich habe einen viel zu hohen Preis dafür bezahlt… meine Freunde sind tot… und ich wahrscheinlich auch bald.
Aber vorher werde ich diesen Brief an die Polizei schicken… vielleicht kann ich helfen… helfen, dieses Grauen zu beenden… und somit die unschuldigen Bürger von Poor-MAN-Wedding vor einem widerlichen Schicksal bewahren.
Dem Schicksal von ihren nach außen hin sauberen Mitmenschen verspeist zu werden…
Mit freundlichen Grüßen
Ryan Silverman
Ich packte den Brief in den Umschlag und nahm einen Stift…
Plötzlich klopft es an meiner Tür. Ich erschrak kurz.
„Ryan? Hier ist deine Mutter… ich weiß, dass du noch nicht schläfst…!“
Ich schrieb meine Adresse auf den Umschlag.
„Ryan? Öffne bitte die Tür… Mr. Holland ist hier!“
Ich schreckte auf als hätte mir jemand einen Hammer auf den Kopf gehauen.
Zaghaft sah ich zur geschlossenen Tür.
„Was… was will er…?“
Meine Mutter kicherte.
„Ich glaube, dass weißt du, Schätzchen… ich glaube, dass weißt du…!“
Irgendwie hatte ich es geahnt… Ich zerriss den Umschlag mitsamt dem Brief…
denn ich wusste nun, dass ich dieses Haus niemals mehr lebend verlassen werde…