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Wenn man überlebt
"Ich habe es versucht.
Aber nicht geschafft, obwohl ich es wollte.
Viele reden davon – wie schrecklich der Tod wohl sein mag, oder dass sie sich umbringen wollen, weil ihr Leben so schlimm sei. So, wie meines es war.
Andauernd werden im Alltag Begriffe, wie Todesangst, sich totlachen, oder Ich bin so müde, ich glaub ich sterbe verwendet.
Aber keiner, nicht ein Einziger von ihnen, ist sich der wahren Bedeutung des Wortes Tod bewusst.
Ich schon.
Vor geraumer Zeit habe ich gedacht, mein Leben sei nichts Wert. Ich wollte fliehen, all dem ein Ende setzen und sterben. Es war einfach zu viel.
Als ich gefeuert wurde, konnte ich das noch vertragen. Gibt ja noch viele andere Arbeitsplätze für Nicht-Hochqualifizierte. Als man mir sagte, dass ich keine Kinder mehr zeugen könnte, brach in mir etwas zusammen. Was genau, kann ich nicht sagen, aber mit Sicherheit etwas Großes, etwas, was von wichtiger Bedeutung für mich war. Und dann? Dann passierte das, was nie hätte passieren dürfen. Dann geschah jenes, was mir den Rest gab.
Dann starb Lili. Mein kleiner Engel Lili. Mein ein und alles, einfach alles, was meinem Leben überhaupt noch einen Sinn gegeben hatte. Ich wollte fliehen.
Wovor wollte ich fliehen? Vor der Einsamkeit? Vor der Trauer, die durch mein schlechtes Gewissen immer schlimmer wurde? Oder war es der Hass auf mich selbst, weil ich das Gefühl hatte, mich nie genug um Lili, meinen kleinen Engel, gekümmert zu haben? Wahrscheinlich waren das alles Gründe. Gründe, die mich beinahe dazu gebracht hätten, mein Leben zu beenden.
Zu dem Zeitpunkt, als ich begriff, dass der Trost meiner Mitmenschen nur scheinheiliges Gerede war, beschloss ich, etwas zu ändern. Ich wollte alles vergessen, was mit meiner Vergangenheit zusammenhing, einfach von vorne anfangen und mein Leben in den Griff bekommen.
Es hat nichts gebracht. Weder das Umziehen in eine andere Stadt, noch das Verbrennen aller Erinnerungsstücke von meinem Engel Lili. Im Gegenteil, es wurde immer schlimmer. Ich dachte mehr denn je an sie, und gab mir die Schuld für alles.
War ich schuld? Damals hätte ich diese Frage ohne zu zögern bejaht.
Aber jetzt? Jetzt sehe ich das etwas anders. Ich hab meinen kleinen Engel schließlich allein großgezogen und mein Bestes getan.
Sie würde das auch so sehen, wäre sie noch hier. Oder ich bei ihr.
Und könnte sie es, sollte sie sich auch keinerlei Schuld an meinem dummen Benehmen geben.
Nachdem Lili starb, und ich mein Leben nicht mehr in den Griff bekam, habe ich für sie ein Denkmal errichten lassen. Undzwar genau an der Stelle, an der sie gefunden worden ist.
Sicher hat sie viel gelitten, in der Nacht, in der es geschah.
Mein kleiner Engel war doch noch so verdammt jung, und verdient hatte sie es auf keinen Fall. Niemand verdient es, so brutal und schamlos missbraucht und zu Tode gefoltert zu werden.
Im Wald, in der Lichtung, wo man ihren leblosen Körper aufgefunden hatte, an diesem schrecklichen Ort voll schmerzhafter Erinnerungen, die mir Atem und Verstand rauben, habe ich das Denkmal errichten lassen.
Wieder und wieder hatte ich mir die Zeilen durchgelesen, die daraufgeschrieben standen:
„Wenn du stirbst, sterbe ich mit dir.
Und jetzt, wo du tot bist, sterbe ich nach. Für dich.“
Für sie. Nur für meinen kleinen Engel hätte ich alles gegeben. Das wertvollste in meinem
Leben war weg, deshalb wollte ich auch nicht mehr sein.
Wie bringt man sich am schmerzlosesten um? Geht das überhaupt?
Ich bin kein einfallsreicher Mensch. Ich wusste es nicht.
Man liest ständig von Selbstmordopfern, aber in dem Moment ist man sich ja nicht im Klaren darüber, wie qualvoll so etwas sein kann.
Qualvoll, bis zu dem Augenblick, in dem man erreicht hat, was man wollte.
Oder auch qualvoll für diejenigen, die überleben und all den Schmerz, den sie sich selbst zugefügt hatten, mit sich tragen müssen. Ein Leben lang.
Ich habe überlebt. Und ich erlebe.
Am meisten erlebe ich Tag für Tag die Konsequenzen, die mein Selbstmordversuch nach sich gezogen hat. Als ich vom siebten Stock des Hauses gesprungen bin, habe ich nicht damit gerechnet, zu überleben. Beim Fallen hatte ich noch immer sehr große Angst. Vor etwas Unbekanntem, dem Neuem, was mich erwarten sollte. Etwas, das noch nie dagewesen ist im Leben. Ich hatte Angst vor dem Tod.
Und dann, als er da war, verschwand die Angst. Was ich in diesen Minuten, ja, vielleicht sogar nur Sekunden gesehen habe, war unglaublich. Ich sah meinen kleinen Engel Lili.
Mich überkam das Gefühl von Freiheit, dem Gewissen, nichts tun zu müssen, zu nichts verpflichtet zu sein. Ewig hätte ich dieses Gefühl genießen können, denn alles, was ich sah, roch, schmeckte, fühlte und hörte, war nichts. Es war gar nichts. Nur leere Stille.
Doch dann konnte ich wieder etwas riechen. Es roch irgendwie nach Schweiß, und ich hörte eine Stimme. Und dann noch eine. Viele Stimmen waren da, und ein Gesicht, dass irgendwie verkrampft aussah. Was ich dann hörte, wusste ich Anfangs noch nicht, doch dann wurde mir klar, dass es sich um meinen eigenen Herzschlag handelte. Es war mein Körper, dessen jede einzelne Faser nun deutlich spürbar war. Es waren unglaubliche Schmerzen, und sie waren so stark, dass ich drohte, meinen Verstand zu verlieren.
Ich spürte den Schmerz, roch den Schweiß, sah das Gesicht, hörte die Stimmen.
Ich lebte. Und ich hörte nicht auf damit.
Lilis Tod ist jetzt schon sehr lange her, aber ich war erst vor kurzem wieder in der Lage, mir ihr Denkmal anzusehen. Was da drauf stand, war falsch.
Deswegen habe ich es ändern lassen, damit es stimmt.
Jetzt gefällt es mir viel besser.
Danke."
Der halbseitig gelähmte Mann, der im Rollstuhl sitzt, wird von einem anderen von der Bühne geschoben, der Applaus ist kaum zu überhören. Er denkt an die Zeilen, die er für das Denkmal seiner Tochter hat erneuern lassen.
„Wenn du stirbst, stirbt ein Teil von mir mit dir.
Und jetzt, wo du tot bist, lebe ich weiter. Für dich.“
Er lächelt.