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Wenn man nicht das hat, was man mag...
Die Sonne ging, der Abend kam. Unausweichlich, unvermeidlich und viel zu schnell für die alte Frau.
Ein einziges Ächzen schien die Gegend zu erfüllen.
Das Geäst der Bäume ächzte unter der Schneelast, die Alte unter dem Bündel aus Ästen auf ihrem Rücken, und der Schnee tat das gleiche unter ihren Füßen.
Manchmal blieb sie stehen, um ein wenig durchzuatmen. Sie wusste, dass ihr die Zeit davon lief, aber sie war nun mal nicht mehr so flink wie früher. Das Dorf war nah, sie würde es bestimmt noch vor Einbruch der Dunkelheit schaffen.
Ein Rauschen im Gestrüpp. Nichts. Nur ein Hase. Wohl verirrt, der arme.
„Ja ja, einst war ich jung und schnell, sogar solche Burschen wie dich konnte ich fangen, wenn ich mich richtig angestellt habe...“, seufzte die Alte. „Heute kann ich noch nicht mal mehr dein Fleisch kauen“. Sie befühlte mit der Zunge ihr weiches und leeres Zahnfleisch und seufzte erneut. Ein Dampfwölkchen stieg in die Luft.
„Ich hätte gerne meine Zähne und meine Jugend wieder“, sagte sie noch, als sie sich wieder auf den Weg machte. Der helle Schein verschwand gerade hinter einem verschneiten Hügel.
„Guten Abend“, sagte eine fremde männliche Stimme. Die plötzlich aufgetauchte Gestalt lächelte sie so seltsam an...
Der Abend kam viel zu schnell für seinen Geschmack, sagte sich der alte Mann.
Er war auf dem Rückweg von der Jagd und hatte, wie schon so oft in der letzten Zeit, wieder nichts gefangen. Dabei herrschte schon Frühling und die Wälder waren voller Wild.
Seine Hand fuhr über sein unrasiertes Kinn, er wurde langsam nervös und beschleunigte seine Schritte, allerdings hatte es kaum eine Auswirkung auf sein Fortkommen. Der Speer lastete schwer auf seiner Schulter.
„Wie gern wäre ich wieder jung, dann hätte ich das Leben noch vor mir, ich könnte einen Sohn zeugen, der mich bei meinen Jagdausflügen begleiten und mir die meiste Arbeit abnehmen würde“, stöhnte er vor sich hin, während er vorwärts stapfte.
Als der alte Mann zum wiederholten Male gen Himmel blickte, da wusste er, dass er es bei Tageslicht nicht mehr nach Hause schaffen würde.
Der Wind regte sich und begann verworren klingende Melodien zwischen den knorrigen Ästen der Bäume zu pfeiffen.
Die Sonne verschwand hinter den Baumkronen.
„Du weißt, dass jeder Wunsch auch seine Tücken hat“, hörte er eine Stimme sagen.
Er drehte sich um. Sie war wunderschön und lächelte ihn an. Ihre Wangen waren blass aber die Augen brannten wie Feuer.
Als sie näher kam und ihn sanft auf die Wange küsste, sagte er nichts.
Ihr gefiel es, wie er sich unter ihr wand. Seine weit aufgerissenen Augen, sein beschleunigter Atem, der hämmernde HERZSCHLAG. Doch sie ließ plötzlich von ihm ab und stand auf. Er blieb liegen, sein Körper bebte.
„Ich habe es mir anders überlegt. Ich werde dir mein Schicksal ersparen. Auch ich wollte mal jung sein, wollte jagen können, gesunde Zähne haben, um wieder Fleisch genießen zu können. Nun, ich bin jung, und habe meine Zähne. Jedoch Lust auf Fleisch habe ich nicht – ironisch, nicht wahr?“
Und sie biss noch mal zu, bis nur noch eine leere Hülle übrig blieb.
... dann muss man halt das mögen, was man hat.