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Wer das liest, wird ein besserer Mensch
Wer das liest, wird bescheuert, dachte Ingo reflexartig. Wahrscheinlich irgendeine Freikirche, die um neue Schäfchen warb. Komisch nur, dass es kein Flyer war, sondern ein dicht bedrucktes Blatt, das mit zwei goldenen Reißnägeln befestigt wurde. Den unteren löste Ingo vorsichtig aus dem Kork, um sein Mietgesuch aushängen zu können. An den anderen schwarzen Brettern hatte er es genauso gemacht. Ingo wischte sich den Rotz aus dem Vollbart. Dann warf er einen Blick über die Schulter. Der Korridor wimmelte vor Kommilitonen. Es waren jedoch keine bekannten Gesichter dabei. Trotzdem peinlich, aber egal, dachte Ingo und zog die Nase hoch. Dann begann er zu lesen.
Wer das liest, wird ein besserer Mensch
Du bist ein guter Mensch, weil du Mitleid hast. Du leidest mit deinen Freunden und deiner Familie. Du leidest auch mit fremden Menschen, wenn sie arm, alt oder behindert sind. Sogar für Hühner, die in Käfigen gehalten werden, hast du Mitleid. Nur mit Kleinwüchsigen leidest du nicht. Und du weißt ganz genau warum. Schäme dich nicht für dein inneres Kichern. Du darfst auch laut lachen. Ich habe das schon zweitausenddreihundertundzweiundfünfzig mal erlebt. Ja, richtig Riesenarschloch, ich führe Buch. Und jetzt spitz mal deine Elefantenohren:
Ich will raus aus meinem Körper und dafür brauche ich deine Hilfe. Der Strick ist schon geknüpft, aber ich brauche eine Leiter, um ihn an der Decke zu befestigen. Ich könnte sie durch die ganze Stadt bis zu mir nach Hause schleifen, doch ich lebe im sechsten Stock eines gepflegten Altbaus und es wäre wirklich schade um die Jugendstil-Treppe. Ich möchte ihr keinen einzigen Kratzer zufügen. Als ich noch ein Kind war, bereitete es mir großes Vergnügen, ihre Stufen hinunter zu gleiten, wenn sie gerade frisch geputzt und gewienert waren. Allein der Duft der Holzpolitur! Ich konnte gar nicht genug davon bekommen.
Doch zurück zu deiner Aufgabe. Du begleitest mich in den Baumarkt, der gleich um die Ecke ist. Dort kaufen wir dir ein paar Handschuhe und mir die Leiter. Die schleppst du dann in meine Wohnung, keine Sorge, sind auch nur ein paar Blöcke, höchstens fünfzehn Minuten. Dann hältst du die Leiter fest, während ich den Strick anbringe. Und danach kannst du dich auch schon wieder verpissen. Die Sache ist in einer guten halben Stunde erledigt.
Ich bitte dich als guten Menschen um diesen Gefallen, damit du zu einem besseren Menschen wirst. Solltest du mir deine Hilfe verweigern und somit zu einem schlechteren Menschen werden, lege ich dich um. Glaub' mir das lieber. Meine Eier sind größer als du denkst.
Ingo lachte und schüttelte den Kopf.
„Nicht zu fassen“, sagte er zu einer Kommilitonin, die neben ihm die Aushänge studierte.
„Dreh dich mal um Du Arschloch!“
Ingo wirbelte herum. Pure Einbildung, da war niemand!
„Hier unten!“, herrschte ihn dieselbe Stimme an.
Der Kleinwüchsige war selbst für Kleinwüchsige klein. Er trug eine runde Brille mit dicken Gläsern. Seine rechte Hand steckte in einem schwarzen Mantel, dessen Tasche auch noch einen langen, spitzen Gegenstand beherbergte. An einer Stelle war der Stoff bis auf wenige Fäden eingerissen und ließ die Öffnung eines Schalldämpfers erkennen.
„Bringen wir es hinter uns“, zischte der Kleinwüchsige und wies mit seinem Glatzkopf zum Ausgang.
Ingo nickte eilig und ging steifen Schrittes voraus. Seine Nase lief schon wieder, doch er traute sich nicht, sie abzuwischen.