Wer hätte das gedacht
Wer hätte das gedacht
Er saß zu hause und langweilte sich fürchterlich. Im Fernsehen lief eine Zeichentrickserie. Irgendetwas mit einem sprechenden Schwamm, der eine penetrante Fröhlichkeit an den Tag legte und ihm damit tierisch auf die Nerven ging, weil es im krassen Gegensatz zu seiner eigenen Stimmung stand.
Vielleicht sollte ich umschalten, überlegte er sich, aber die Fernbedienung befand sich außerhalb seiner Reichweite. Etwa zwei Meter von ihm entfernt. Eindeutig zu weit weg. Darum beschloss er zu warten bis die Sendung zu Ende war. Vielleicht konnte der darauf folgende Werbeblock ihn mehr unterhalten. Vielleicht konnte er ihn von dem einen Gedanken ablenken, der ihn immer wieder heimsuchte. Halt! Fast hätte er wieder an sie gedacht! An wen?! Niemanden.
Ach so, Katjana… Verdammt! Da war sie wieder. Seit Tagen versuchte er nicht an sie zu denken. Ohne Erfolg. Vielleicht sollte er sie anrufen. Dann könnte er sie fragen ob… Er merkte, dass er wieder drauf und dran war sich in Träumereien zu verlieren, sprang von seinem Bett auf, schaltete den Fernseher aus und wusste nicht was er jetzt machen sollte. Es erschien ihm so als hätte sich seine Hilflosigkeit, mit der er Katjana am Wochenende gegenüberstand, mit der er ihr eigentlich immer gegenüberstand, sich mit seiner mittlerweile allgegenwärtigen Ratlosigkeit zusammengeschlossen nur um ihm vorzuhalten was für ein Idiot er doch war.
Bin ich ein Idiot oder einfach nur ein Feigling? Wahrscheinlich ein feiger Idiot.
Oder ein idiotischer Feigling? Er wusste es nicht genau und begann in seinem Zimmer auf und ab zuwandern wie ein eingesperrtes Raubtier, dessen Wille zwar noch nicht gebrochen war, das dem kleinen Käfig und den Erdnüsse werfenden Kindern aber nicht mehr lange standhalten würde.
„Wenn ich wenigstens was zu tun hätte… Oder Geld…“ murmelte er vor sich hin. Bei dem Gedanken an Geld rührte sich etwas in seinem Hinterstübchen.
„Geld! Genau! Arbeitslosengeld!“ rief er plötzlich und strahlte dabei über das ganze Gesicht. „Die Hermeline haben hoffentlich endlich gezahlt.“
Er verließ sein Zimmer und eilte eiligst zur Haustür. Seine Eltern waren nicht da. Sie mussten arbeiten aber daran verschwendete er keinen Gedanken.
Von dem kleinen Tisch neben der Haustür schnappte er sich sein Schlüsselbund, schloss auf, stürmte hinaus zu seinem Auto, einem alten rostigen VW Käfer, der irgendwann einmal blau gewesen war und lief wieder zurück als er ihn gerade erreicht hatte, um die Haustür zu schließen. Er kam gerade wieder bei seinem Wagen an und merkte, dass er sich vielleicht auch noch Schuhe anziehen sollte.
Nachdem er mehrere male zwischen dem Haus und seinem Auto hin und her gelaufen war saß er endlich hinterm Steuer und fuhr los.
Er wohnte mit seinen Eltern in einem kleinen Dorf, dass die Bezeichnung Dorf nur durch die Tatsache verdiente, das es ein eigenes Ortsschild besaß. Ansonsten sah es aus wie ein Vorort von einer schäbigen Kleinstadt. Und genau zu so einer war er unterwegs. Die Stadt in der er geboren wurde und die ihn wahrscheinlich irgendwann das Leben kosten würde. Die Fahrt zur Bank dauerte etwa fünf Minuten. Die Suche nach einem Parkplatz eine halbe Stunde. Der Fußmarsch zur Bank noch einmal zehn Minuten. Als er sie endlich erreichte waren seine Nerven gespannt wie ein Drahtseil über das gerade das ukrainische Damenringernationalteam balancierte. Nur Affen unterwegs! Nur Affen! Dachte er.
Er schob seine Karte in den Kontoauszugsdrucker und dachte nur: Bitte. Bittebittebitte… Der Automat schien Stunden zu brauchen um den Ausdruck aus zu werfen. „Was Druck der da?! Einen Roman?!“ Fuhr es über seine Lippen, gerade als das erwartete Papier zum Vorschein kam. Er entriss es förmlich dem Automaten und blätterte die Zettel durch, die er erhalten hatte, bis das gewünschte Stück erreicht war. Natürlich das Letzte. Welches denn sonst.
Seine Gebete wurden allerdings erhört. Der Ausdruck zeigte an, dass sich auf seinem Konto 400€ und ein paar zerquetschte befanden. Er freute sich ausgiebig und hob gleich die Hälfte davon ab. Das muss schließlich gefeiert werden, sagte er sich und schlug den Weg zum nächsten Supermarkt ein. Dort kaufte er sich eine Flasche Jack Daniels, zwei Flaschen Ginger Ale, einen Sixpack Bier und zwei Schachteln Zigaretten. Auf dem Weg zu seinem Auto begegnete er einer ehemaligen Lehrerin von ihm und dachte: Was die alte Alkoholikerin lebt noch?
Er grüßte sie nicht. Die doch nicht. Seiner Meinung nach waren alle Lehrer Alkoholiker, Kettenraucher und/oder Pädophile. Um es kurz zu fassen: AFFEN!
Er dachte nicht weiter drüber nach, versuchte sein Auto auf zu schließen, ohne dass ihm etwas herunter fiele und schaffte es sogar. Einkaufstüten sind etwas für Mädchen, schoss es ihm durch den Kopf. Mädchen? Mädchen… Verdammt!
Schon wieder dachte er an sie. Ruhig. Keine Panik. Erstmal Patrick anrufen.
Er zückte sein Handy und wählte Patricks Nummer. Patrick war ebenfalls arbeitslos und von dem Plan, dass er gleich mit Kippen und Alk vorbei kam, hellauf begeistert. Patrick wohnte in Zurpen. Ein weiteres kleines Dorf in einer Gegend in der es scheinbar nur kleine Dörfer und schäbige Kleinstädte gab. Er fuhr ziemlich schnell aus der Parklücke und setzte seinen Weg im übereilten Tempo fort. Um nach Zurpen zu gelangen musste er durch ein kleines Waldstück fahren. Aus den überstrapazierten Boxen, die zur Serienausstattung seines Käfers gehörten, drang, natürlich viel zu laut, der übelste Black-Metal.
Von der Vorfreude des anstehenden Besäufnisses berauscht achtete er kaum auf die Straße und merkte dadurch zu spät wie ein Reh gemütlich vom Straßenrand auf die Fahrbahn geschlendert kam. Er rammte es. Frontal. Das Reh sah ihn wissend an aber das bemerkte er nicht. Sein verzweifelter Versuch noch zu bremsen half nichts.
Das nächste an das er sich erinnerte war, dass er auf einer Wiese lag, nicht wusste wie er dort hingekommen war und, nachdem es ihm gelang seine Augen zu öffnen, eine Gestalt in einer violetten Kutte sah, die dicht über ihn gebeugt stand. „Na, wieder wach? Wie heißt du mein Freund?“ wurde er gefragt.
„Was?“ brachte er mühsam hervor. „Ich möchte wissen wie dein Name lautet.“ Sagte die Gestalt. „Meine Freunde nennen mich Osm. Ooooooh…Mein Kopf.“
„So so. Du heißt also Osmo. Möchtest du vielleicht einen Pfannenkuchen? Die sind lecker.“
Er setzte sich auf und hielt seine Hände an seinen Kopf. Er schmerzte höllisch.
„Mach dir keine Sorgen. Du bist nicht ernsthaft verletzt. Aber diese Biester können es einfach nicht lassen. Und jetzt probiere einen Pfannenkuchen.“
Er konnte sich dem wunderbaren Duft nicht erwehren, den die Pfannenkuchen ausstrahlten und nahm sich einen von dem Tablett, das ihm unter die Nase gehalten wurde. Er biss hinein und vergaß augenblicklich alles um ihn herum.
Das Ding schmeckte einfach himmlisch. Selbst an Katjana dachte er nicht mehr.
Er dachte eigentlich überhaupt nicht mehr und genoss nur den unglaublichen Geschmack.
„Ich habe großes mit dir vor Osmo. Lange habe ich nach dir gesucht und dich leider erst nach den Rehen gefunden. Zum Glück ist ihr Anschlag fehlgeschlagen.“
Osmo hörte überhaupt nicht zu und verschlang noch einen weiteren Pfannenkuchen. „Es wird Zeit, dass wir aufbrechen. Es gibt viel zu tun.“
Die Geschalt in der violetten Kutte holte einen kleinen Apparat unter seiner Kleidung hervor und hielt ihn in die Luft. Ein seltsames Fiepen ging von dem Gerät aus, das erst verstummte als ein riesiges, ebenfalls violettes, Etwas vom Himmel herab kam. Es sandte einen Lichtstrahl zu der Stelle an der sich die beiden befanden und kurz darauf waren sie verschwunden.
Das Auftauchen der fliegenden Untertasse wurde von niemandem bemerkt. Zumindest von keinem Menschen.
Ein Rudel Rehe kam zu der Stelle, an der zuvor Osmo und der Kuttenträger verweilt hatten. Sie gingen auf ihren Hinterbeinen und blickten wütend zum Himmel empor. Sie hatten versagt. Es war ihnen nicht gelungen einen der vier zu erwischen. Ihre Strafe dafür war ihnen bekannt. Sie würden als Jagdwild der Menschen enden.