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Wider das Vergessen

sim

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13.04.2003
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7.599
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Wider das Vergessen

Ich habe mich vergessen.
Irgendwo zwischen aufkeimender Wut und glühendem Zorn habe ich mich stehengelassen, während ich gelaufen bin – immer hinter ihm her.
Hätte er nicht so ein zartes Gesicht gehabt, kaum Bartwuchs, Haut, für die Akne und Pubertätspickel Fremdwörter zu sein schienen, Wimpern, für deren Länge manche Frau ein Vermögen ausgäbe, einen Mund, der eher für die Zärtlichkeit eines Kusses geschaffen war als für die Tiraden, die daraus geschleudert wurden, Augen, deren goldener Ton wie Öl in meine Rage tropfte – vielleicht hätte ich mich eingeholt.
Den ganzen Tag schon hatten wir versucht, an sie heranzukommen, einen Weg zu finden, mit ihnen in der Sprache zu sprechen, die sie verstehen. Doch sie waren gut geschützt gewesen. Ein Spalier von Uniformierten, die mit erhobenen Schilden die Rechte der Demokratie für deren Feinde schützen mussten. Uns haben sie gejagt, mit Knüppeln verdroschen, in Gewahrsam genommen und unsere Personalien erfasst. Uns haben sie daran gehindert, die Freiheit zu verteidigen, durchzudringen zu den Verführern und Verführten, um ihnen die Parolen in die Fresse zu stopfen, ihnen die Zungen herauszureißen, die Münder zu verbrennen, sie mit Steinen zu bombardieren.
Alles an diesem Sonntag war eine braune Soße, wie aufgegossener Bratenfond, mit Maggi gewürzt, fertig nach dem Kirchgang zur Vergebung der Sünden: Die Bullen, die Faschos, die Straßensperren, die Autos am Stadtrand, aus denen wir brennende Barrikaden gebaut hatten, um dem deutschen Umzug den Weg zu versperren.
Wir waren durch den Stadtpark gerannt, durchs Gestrüpp gekrochen, um einen Weg an den Bullen vorbei zu finden. Wir wollten die Demo in die Zange nehmen, egal, aus welcher Richtung wir an sie herankamen, doch wir waren nur auf Hindernisse gestoßen, bis wir nicht ihrer, sondern sie unserer habhaft geworden waren und uns in ihre Kleinbusse gestopft hatten.
Niemanden von den Faschos hatten wir gesehen. Nur die Vasallen des Systems, nur die, denen man befohlen hatte, das rechte Auge zuzukneifen, um auf dem linken wachsamer zu sein.
Ich hatte blaue Flecke von den Wasserwerfern und von den Polizeistöcken, hatte mich ausziehen und nach Drogen filzen lassen müssen und habe jetzt mit einer Strafanzeige wegen Landfriedensbruch zu rechnen. Mit zwei Euro und sechzig Cent aus der Stadtkasse für die Fahrt mit der U-Bahn in der Tasche und Wut im Bauch war ich aus dem Gewahrsam entlassen worden, als die Faschos sich längst wieder in ihre Löcher verkrochen hatten, da sah ich ihn.
Er stand am Überseering an der Bushaltestelle, so schmächtig, dass ich mich fragte, wie er die schwere Bomberjacke und die Springerstiefel tragen konnte. Immer wieder sah er auf die Armbanduhr. Niemand war zu sehen, nur der Verkehr rollte vorbei. Am Straßenrand standen ausgebrannte Autowracks, der Geruch verschmorten Gummis lag noch in der Luft.
»Haben sie die Zecken wieder laufen lassen?«, fragte er grinsend, so, als hätte er einen seiner Kameraden vor sich. So, als könnte man mit ihm reden und befreundet sein.
»Was willst du? Dich für die nächste Schlacht verabreden?«
»Die freie Wahrheit wird immer siegen. Ihr könnt uns nicht stoppen.« Er grinste noch immer wie ein Sieger, der nach erfolgreichem Kampf dem Verlierer die Hand schüttelt und sich bedankt – so freundlich, dass die Wut über die Demütigungen langsam wieder von mir Besitz ergriff.
»Freie Wahrheit.« Ich spuckte vor ihm aus. Mehr als meinen Rotz hatte ich für dieses Gewäsch nicht übrig. »Das nächste Mal werden euch die Bullen nicht schützen können. Und jetzt ist auch keiner da, der dir deine freie Wahrheit verteidigt.«
Nur einen Schritt trat er zurück, schlurfte dabei mit den Sohlen seiner Stiefel über die Gehwegplatten, aber sah mir unverwandt in die Augen. »Du hängst einem Traum nach«, sagte er. »Ich wünschte mir ja auch, wir könnten alle friedlich zusammenleben. Aber die Realität sieht anders aus.«
Von wegen Traum. Alles Unglück dieser Welt entstand, weil die Berufung auf die Realität verhinderte, dass Träume real wurden. Weil der Zynismus die Gegenwart determinierte und für unumstößlich erklärte. Der Bengel mit seinem Kindergesicht unterhalb der Glatze, dieser Steppke, der aussah, als wollte er zwanzig sein und wirkte, als wäre er vierzehn, glaubte auch noch, was er da von sich gab. Wie eingetrichterte Wahrheiten plapperte er Papas Vorträge beim sonntäglichen Mittagstisch mit brauner Soße nach. Wozu sollte ich da diskutieren? »Du wirst gleich träumen, die Realität sähe anders aus.« Ich ging auf ihn zu, hob die Hand, wollte ihn am Kragen seiner Bomberjacke fassen, ihn zu Boden stoßen und ihm unmissverständlich klarmachen, er hielte besser seine Fresse, da ich ihm die sonst polierte.
Schnell war es vorbei mit seinem Mut, mit dem offenen Blick und der großen Klappe. Er drehte sich um und rannte, trotz der Springerstiefel und der Bomberjacke in unglaublichem Tempo, in den Stadtpark davon.
Ich habe mich vergessen. Irgendwo zwischen aufkeimender Wut und glühendem Zorn habe ich mich stehengelassen, während ich gelaufen bin – immer hinter ihm her. Endlich tun, wozu ich in die Stadt gekommen war, woran mich die Schikanen den ganzen Tag gehindert hatten. Endlich einen von ihnen erwischen und meinen Abscheu in ihn hineinprügeln.
Vielleicht habe ich zugeschaut, Mund und Augen aufgerissen, als ich mich nach dem Stein bückte, und diesen dem Jungen in den Rücken schleuderte. Möglicherweise habe ich entsetzt aufgeschrien, während er fiel, ich ihn einholte und über ihm kniend den Stein wieder in die Hand nahm.
Alles, was ich hasste, lag unter mir. Die Lider des Jungen zuckten, die Lippen zitterten, die Phrasen waren ausgestorben, doch ich hörte die Beleidigungen: Zecke, Schwuchtel, Kommunistenschwein, Weltverbesserer, Gutmensch. Ich wollte ihn küssen, ihm die Hosen runterzerren und ihn ficken, wollte ihn erniedrigen, vom Herrenmenschen zum Sklaven degradieren, wollte ihm ins Gesicht und auf die Eier spucken, ihm die verdammte Unschuld aus dem Leib prügeln, mit der er mich aus weit geöffneten Pupillen anstarrte. Ich wollte ihm sein verdammt hübsches Kindergesicht einbeulen. Den Schmerz des Lebens sollte er endlich spüren, ohne Clique, hinter der er sich verstecken, ohne Papa oder Mama, zu denen er sich an den Tisch mit dem Sonntagsbraten retten konnte. Wenigstens einer dieser Faschos sollte nie wieder das Maul öffnen können.
Hätte ich mich eingeholt – vielleicht wäre ich in mich gegangen, bevor man mich von ihm zog.

 

Mon Moin Lord,

na, wer hat dich denn totgesagt? ;)

Hi morti,

das hast du richtig erkannt. Was die Politik betrifft, wollte ich nicht so ins Detail gehen. Eine Geschichte über die Gewaltauseinandersetzung innerhalb der linken Szene wäre vermutlich eine Nummer zu groß für mich. Selbst innerhalb der Autonomen ist diese Diskussion noch längst nicht abgeschlossen.

Vielen Dank, vor allem freut mich "sprachlich stark", da es zu diesem Text diesbezüglich ja auch andere Stimmen gab.

Lieben Gruß und vielen Dank
sim

 

Hallo Sim!

Es wird da vieles unvermischt zusammengestoppelt, und das tut der Geschichte nicht gut. Ich mach da vier Säulen der Geschichte fest: 1. Straßenkampf, 2. ohnmächtige Gefühle: Wut, Gewaltbereitschaft und sexuelle Anziehung, 3. politische Parolen, 4. die seltsame Distanz des Ich-Erzählers zu seinen Handlungen, die alles wie in Zeitlupe geschehen lassen.
Punkt 1 und Punkt 3 würde ich möglichst zurücknehmen, nur die notwendigsten Informationen geben. Den ersten Satz würde ich lassen, aber dann gleich mit der Stelle anfangen, wo er ihn am Straßenrand sieht. Im Zentrum sollte die (positive und negative) Attraktion stehen, die der Junge auf den Ich-Erzähler ausübt. Ich würde gerne mehr über das Zentrum des Protagonisten erfahren, in dem die beiden Punkte Hass und Anziehung zusammenfließen, denn die haben ja EINEN Ursprung. Nicht, dass du dieses Zentrum genau festmachen oder beschreiben müsstest, aber darstellen solltest du es eindringlicher.

Was mir gut gefallen hat, war dieser intensive Grundton der Geschichte, die zornige Intensität dieses angry young man, das hast du gut getroffen.

Alles an diesem Sonntag war eine braune Soße, wie aufgegossener Bratenfond, mit Maggi gewürzt, fertig nach dem Kirchgang zur Vergebung der Sünden: Die Bullen, die Faschos, die Straßensperren, die Autos am Stadtrand, aus denen wir brennende Barrikaden gebaut hatten, um dem deutschen Umzug den Weg zu versperren
zuviel Information wird in diesen Absatz gestopft, ich versteh diese Übertragungen einfach nicht: wem werden denn hier die Sünden vergeben? Und du legst auch nahe, dass ALLES zur brauen Soße gehört, auch die Barrikaden, die die Linken gebaut haben.
über die Gehwegplatten
schreckliches Wort
Er drehte sich um und rannte, trotz der Springerstiefel und der Bomberjacke in unglaublichem Tempo, in den Stadtpark davon.
Komma falsch gesetzt: ... Bomberjacke, in unglaublichem Tempo in den Stadtpark ...
Vielleicht habe ich zugeschaut, Mund und Augen aufgerissen,
ich finde, das fehlt ein "mir": Vielleicht habe ich mir zugeschaut ...


Gruß
Andrea

 

Hallo Andrea,

und vielen Dank für deine Auseinandersetzung.
Im Kanon der Kommentare hinterlässt sie eine neue Stimme, denn während vielen die Punkte 1. und 3. zu wenig und zu flach daherkamen würdest du sie eher reduzieren. Mir persönlich erscheinen sie wichtig für die Entladung, auch wenn du natürlich Recht hast: Es geht im die Hilflosigkeit anhand der Attraktion, die der Junge auf den Ich-Erzähler ausübt. Die hätte ihn aber vielleicht nicht so sehr überfordert, wenn er nicht den Tag über so viel subjektiv erlebte Ungerechtigkeit erfahren hätte.

zuviel Information wird in diesen Absatz gestopft, ich versteh diese Übertragungen einfach nicht: wem werden denn hier die Sünden vergeben?
Ja, deutlich zu viele Informationen, die da auch im Erzähler zusammenfließen und dessen Verarbeitung überfordern. Auch hier ist die Information als Baustein auf dem Weg zur späteren Entladung gedacht (was natürlich nicht heißt, dass es auch so funktioniert).
Und du legst auch nahe, dass ALLES zur brauen Soße gehört, auch die Barrikaden, die die Linken gebaut haben
ja, das war so beabsichtigt, ein kleiner Anflug eines Gedankens, den der Erzähler doch eigentlich nur einmal zu Ende denken müsste, was er aber nicht tut. Die seltsame Distanz ist ja ein Zeichen, dass er sich bei aller Reflexion nicht wirklich dem Geschehen stellt.

Lieben Gruß und vielen Dank
sim

 

Hallo sim,

hier mit dem 48. Beitrag etwas Neues zu deiner Geshcichte aufzubringen erscheint mir schwierig. Dennoch ist es mir ein Bedürfnis mich in die Liga der lobenden Worte zu reihen.
Deine Geschichte befässt sich mit einem wichtigen Thema und deine Auseinandersetzung damit hat mich wirklich ergriffen. Die transportierten Emotionen sind voll eingeschlagen. Diese lodernde Wut macht die kg in mehrfacher Hinsicht "heiß". Die Umkehrung der Perspektiven, wenn man so will, gibt dem ewig aktuellen und dadurch in manchen Köpfen leider ermüdendem Thema eine Brisanz, die auf anderem Wege wachrüttelt und einen nachdenklich zurück lässt.
Eindringlich, heftig, sehr gut umgesetzt.

grüßlichst
weltenläufer

 

Huch,

da habe ich doch deine Antwort glatt vergessen, weltenläufer. Das tut mir aufrichtig leid. Vielen Dank für deine Gedanken, deine Geduld und deine lobenden Worte.

Schön, dass die die Geschichte gefallen hat.

Lieben Gruß
sim

 

zwei themen eine geschichte..

hi sim - deine geschichte regt wirklich zum nachdenken an, auch wenn sie an einigen stellen höchste lesekonzentration verlangt und mir eigentlich einfach&prägnant am liebsten ist.. die komplexität des inhaltes, die vermischung von schwarz-weiß hat mir sehr gut gefallen... womit ich wiederhole, was manch anderer hier schon gesagt hat..

trotzdem störte mich irgendwas - und erst beim lesen vieler kommentare ist mir aufgefallen, was das war, weil es auch gox aufgefallen war: "warum überhaupt ein sexueller blickwinkel" - die links-rechts-verschiebung ins gegenteil des politisch korrekten hätte doch gereicht..jedes der beiden themen hätte mich zum nachdenken verführt...

dann las ich dies von dir:

Und auch bei den Anti-AKW-Demos gab es ja Ausschreitungen. Ich denke, auch diese Gewaltbereitschaft beruht oft auf der Hilflosigkeit, auf der Ohnmacht, in seinem Anliegen nicht gehört zu werden oder eben die Neonaziaufläufe mit noch so vielen friedlichen Demonstrationen nicht verhindern zu können.

fast scheint es, als sei die sexuelle anziehungskraft und die daraus resultierende innere zerissenheit für dich notwendig, um das mörderische entgleisen am schluss "zu rechtfertigen" - ähnlich wie es in dem zitat mit hilflosigkeit und ohnmacht anklingt..

mir hätte es wahrscheinlich ohne dieses zusätzliche motiv besser gefallen - eben weil die geschichte dann den einen unbedingten wahrheitsanspruch - egal von welcher politischen seite - in frage stellt... da dieser viel gefährlicher ist, als ein paar glatzköpfige idioten, die ne demo machen...

grüße, streicher

 

hi streicher,

der sexuelle Blickwinkel war der Ursprung der Geschichte. Mein Interesse galt der Hilflosigkeit, die entsteht, wenn auf einmal Anziehungskraft da ist, die der eigenen Einstellung im größtmöglichen Extrem zuwiderläuft. Für die rein politische Diskussion über Gewalt und Wahrheitsanspruch hätte ich viel mehr in die Tiefe der politischen Argumentation gehen müssen.
Aber natürlich gebe ich dir Recht, die glatzköpfigen Idioten sind nicht die wirkliche Gefahr, eher ihre strategischen Vordenker.

Schön, dass du doch immer noch mal bei der Seite vorbeischaust.

Vielen Dank und liebe Grüße
sim

 

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