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Wider das Vergessen
Ich habe mich vergessen.
Irgendwo zwischen aufkeimender Wut und glühendem Zorn habe ich mich stehengelassen, während ich gelaufen bin – immer hinter ihm her.
Hätte er nicht so ein zartes Gesicht gehabt, kaum Bartwuchs, Haut, für die Akne und Pubertätspickel Fremdwörter zu sein schienen, Wimpern, für deren Länge manche Frau ein Vermögen ausgäbe, einen Mund, der eher für die Zärtlichkeit eines Kusses geschaffen war als für die Tiraden, die daraus geschleudert wurden, Augen, deren goldener Ton wie Öl in meine Rage tropfte – vielleicht hätte ich mich eingeholt.
Den ganzen Tag schon hatten wir versucht, an sie heranzukommen, einen Weg zu finden, mit ihnen in der Sprache zu sprechen, die sie verstehen. Doch sie waren gut geschützt gewesen. Ein Spalier von Uniformierten, die mit erhobenen Schilden die Rechte der Demokratie für deren Feinde schützen mussten. Uns haben sie gejagt, mit Knüppeln verdroschen, in Gewahrsam genommen und unsere Personalien erfasst. Uns haben sie daran gehindert, die Freiheit zu verteidigen, durchzudringen zu den Verführern und Verführten, um ihnen die Parolen in die Fresse zu stopfen, ihnen die Zungen herauszureißen, die Münder zu verbrennen, sie mit Steinen zu bombardieren.
Alles an diesem Sonntag war eine braune Soße, wie aufgegossener Bratenfond, mit Maggi gewürzt, fertig nach dem Kirchgang zur Vergebung der Sünden: Die Bullen, die Faschos, die Straßensperren, die Autos am Stadtrand, aus denen wir brennende Barrikaden gebaut hatten, um dem deutschen Umzug den Weg zu versperren.
Wir waren durch den Stadtpark gerannt, durchs Gestrüpp gekrochen, um einen Weg an den Bullen vorbei zu finden. Wir wollten die Demo in die Zange nehmen, egal, aus welcher Richtung wir an sie herankamen, doch wir waren nur auf Hindernisse gestoßen, bis wir nicht ihrer, sondern sie unserer habhaft geworden waren und uns in ihre Kleinbusse gestopft hatten.
Niemanden von den Faschos hatten wir gesehen. Nur die Vasallen des Systems, nur die, denen man befohlen hatte, das rechte Auge zuzukneifen, um auf dem linken wachsamer zu sein.
Ich hatte blaue Flecke von den Wasserwerfern und von den Polizeistöcken, hatte mich ausziehen und nach Drogen filzen lassen müssen und habe jetzt mit einer Strafanzeige wegen Landfriedensbruch zu rechnen. Mit zwei Euro und sechzig Cent aus der Stadtkasse für die Fahrt mit der U-Bahn in der Tasche und Wut im Bauch war ich aus dem Gewahrsam entlassen worden, als die Faschos sich längst wieder in ihre Löcher verkrochen hatten, da sah ich ihn.
Er stand am Überseering an der Bushaltestelle, so schmächtig, dass ich mich fragte, wie er die schwere Bomberjacke und die Springerstiefel tragen konnte. Immer wieder sah er auf die Armbanduhr. Niemand war zu sehen, nur der Verkehr rollte vorbei. Am Straßenrand standen ausgebrannte Autowracks, der Geruch verschmorten Gummis lag noch in der Luft.
»Haben sie die Zecken wieder laufen lassen?«, fragte er grinsend, so, als hätte er einen seiner Kameraden vor sich. So, als könnte man mit ihm reden und befreundet sein.
»Was willst du? Dich für die nächste Schlacht verabreden?«
»Die freie Wahrheit wird immer siegen. Ihr könnt uns nicht stoppen.« Er grinste noch immer wie ein Sieger, der nach erfolgreichem Kampf dem Verlierer die Hand schüttelt und sich bedankt – so freundlich, dass die Wut über die Demütigungen langsam wieder von mir Besitz ergriff.
»Freie Wahrheit.« Ich spuckte vor ihm aus. Mehr als meinen Rotz hatte ich für dieses Gewäsch nicht übrig. »Das nächste Mal werden euch die Bullen nicht schützen können. Und jetzt ist auch keiner da, der dir deine freie Wahrheit verteidigt.«
Nur einen Schritt trat er zurück, schlurfte dabei mit den Sohlen seiner Stiefel über die Gehwegplatten, aber sah mir unverwandt in die Augen. »Du hängst einem Traum nach«, sagte er. »Ich wünschte mir ja auch, wir könnten alle friedlich zusammenleben. Aber die Realität sieht anders aus.«
Von wegen Traum. Alles Unglück dieser Welt entstand, weil die Berufung auf die Realität verhinderte, dass Träume real wurden. Weil der Zynismus die Gegenwart determinierte und für unumstößlich erklärte. Der Bengel mit seinem Kindergesicht unterhalb der Glatze, dieser Steppke, der aussah, als wollte er zwanzig sein und wirkte, als wäre er vierzehn, glaubte auch noch, was er da von sich gab. Wie eingetrichterte Wahrheiten plapperte er Papas Vorträge beim sonntäglichen Mittagstisch mit brauner Soße nach. Wozu sollte ich da diskutieren? »Du wirst gleich träumen, die Realität sähe anders aus.« Ich ging auf ihn zu, hob die Hand, wollte ihn am Kragen seiner Bomberjacke fassen, ihn zu Boden stoßen und ihm unmissverständlich klarmachen, er hielte besser seine Fresse, da ich ihm die sonst polierte.
Schnell war es vorbei mit seinem Mut, mit dem offenen Blick und der großen Klappe. Er drehte sich um und rannte, trotz der Springerstiefel und der Bomberjacke in unglaublichem Tempo, in den Stadtpark davon.
Ich habe mich vergessen. Irgendwo zwischen aufkeimender Wut und glühendem Zorn habe ich mich stehengelassen, während ich gelaufen bin – immer hinter ihm her. Endlich tun, wozu ich in die Stadt gekommen war, woran mich die Schikanen den ganzen Tag gehindert hatten. Endlich einen von ihnen erwischen und meinen Abscheu in ihn hineinprügeln.
Vielleicht habe ich zugeschaut, Mund und Augen aufgerissen, als ich mich nach dem Stein bückte, und diesen dem Jungen in den Rücken schleuderte. Möglicherweise habe ich entsetzt aufgeschrien, während er fiel, ich ihn einholte und über ihm kniend den Stein wieder in die Hand nahm.
Alles, was ich hasste, lag unter mir. Die Lider des Jungen zuckten, die Lippen zitterten, die Phrasen waren ausgestorben, doch ich hörte die Beleidigungen: Zecke, Schwuchtel, Kommunistenschwein, Weltverbesserer, Gutmensch. Ich wollte ihn küssen, ihm die Hosen runterzerren und ihn ficken, wollte ihn erniedrigen, vom Herrenmenschen zum Sklaven degradieren, wollte ihm ins Gesicht und auf die Eier spucken, ihm die verdammte Unschuld aus dem Leib prügeln, mit der er mich aus weit geöffneten Pupillen anstarrte. Ich wollte ihm sein verdammt hübsches Kindergesicht einbeulen. Den Schmerz des Lebens sollte er endlich spüren, ohne Clique, hinter der er sich verstecken, ohne Papa oder Mama, zu denen er sich an den Tisch mit dem Sonntagsbraten retten konnte. Wenigstens einer dieser Faschos sollte nie wieder das Maul öffnen können.
Hätte ich mich eingeholt – vielleicht wäre ich in mich gegangen, bevor man mich von ihm zog.