Wie aus einem traurigen Engel ein glücklicher wurde
“Wie oft muss ich jetzt noch schlafen, bis Weihnachten ist?”
Wie jeden Morgen begrüßte Lisa ihre Mutter mit dem gleichen Satz, als diese in ihr Zimmer kam, um sie zu wecken.
„Noch zehn Mal, mein Schatz“, antwortete Lisas Mutter und gab ihr einen Kuss.
„Wieviel ist zehn Mal?“, fragte Lisa
„Soviel, wie du Finger an deinen Händen hast. Zähl sie mal“, forderte die Mutter sie auf. Lisa hielt ihre Hände vor das Gesicht und begann zu zählen: eins, zwei, drei... neun, zehn. „Also muss ich jetzt jeden Tag einen Finger umknicken“, überlegte sie, „und wenn alle umgeknickt sind, dann ist Weihnachten.“
„Genau. Hattet ihr nicht heute etwas Besonderes im Kindergarten vor?“, erinnerte sie die Mutter.
„Ja, wir malen heute einen Brief für das Christkind, mit den Sachen, die wir uns zu Weihnachten wünschen.“
Wie der Blitz sprang Lisa aus dem Bett und heute musste die Mutter sie nicht wie sonst immer, mehrmals auffordern, sich anzuziehen und die Zähne zu putzen.
Im Kindergarten legte Frau Jakobi, die Erzieherin, vor jedes Kind ein Blatt Papier und einen Umschlag hin. Auf den Bogen durften sie nun all die Dinge malen, die ihnen das Christkind bringen sollte. Während die Kinder eifrig zu zeichnen begannen, erzählte ihnen Frau Jakobi, dass das Christkind die ganze Arbeit vor Weihnachten nicht alleine schaffte und deshalb viele kleine Gehilfen hatte, die Engel. Diese flogen nachts in die Häuser und sammelten die Briefe der Kinder ein. Dann halfen sie dem Christkind noch, die Geschenke zu besorgen und einzupacken.
Lisa zeichnete einen Puppenwagen, einen Stofftiger und ein Buch auf ihr Blatt, während sie Frau Jakobi zuhörte. Als sie fertig war, malte sie noch mit großen wackeligen Buchstaben ihren Namen unter das Bild, faltete es zusammen und steckte es in den Briefumschlag, auf den Frau Jakobi dann „An das Christkind“ schrieb.
„Ihr müsst den Brief am Abend in euren Zimmern auf die Fensterbank legen, damit ihn die Engel auch finden, wenn sie nachts zu euch kommen“, erklärte Frau Jakobi.
Lisa stellte, bevor sie ins Bett ging, zur Sicherheit noch eine Schüssel mit selbstgebackenen Plätzchen dazu, falls die Engel Hunger bekamen. Sie konnte vor Aufregung lange nicht einschlafen und das Sandmännchen musste an diesem Abend die doppelte Menge Schlafsand verstreuen, bevor Lisa endlich ins Land der Träume rutschte.
Im Himmel herrschte helle Aufregung.
Nur noch zehn Tage bis Weihnachten und noch kein einziger Brief war auf der Erde abgeholt worden. Ungeduldig flog das Christkind zwischen den Engeln umher und erteilte Befehle.
„Wir hätten einfach nicht solange den Himmel aufräumen sollen“, seufzte es.
„Nun fehlt uns die Zeit, und wir können vielleicht nicht mehr alle Geschenke rechtzeitig besorgen.“ Die Säuberungsaktion des Himmels hatte wohl wirklich etwas zu lange gedauert, aber es hatte sich gelohnt, überall war es sauber und ordentlich und alles blinkte und blitzte.
„Mach dir keine Sorgen, liebes Christkind“, versuchten die Engel es zu beruhigen. „Gleich heute Nacht fliegen wir auf die Erde und holen die Briefe.“
In der Adventszeit war es auf der Erde besonders schön. Überall waren helle Lichterketten gespannt, und die Schaufenster der Geschäfte und die Fenster der Häuser waren bunt geschmückt. In manchen Wohnungen roch es nach Bratäpfeln und Plätzchen. Deshalb flogen die Engel in dieser Zeit besonders gerne auf die Erde und die Vorfreude hatte ihre kugelrunden Wangen rot gefärbt.
Nur ein kleines Engelchen machte ein trauriges Gesicht. Goldglöckchen war noch nie mit zur Erde geflogen. Es hatte nur einen Flügel und konnte daher eine solch lange Strecke nicht bewältigen. Wie jedes Jahr stand es an der Himmelstür und versuchte die Tränen zurückzuhalten, während es den anderen nachwinkte.
Lisa drehte sich unruhig in ihrem Bett umher. Irgendein Geräusch hatte sie aufgeweckt. Sie setzte sich auf und schaute zum Fenster.
Was war denn das? Eine kleine Gestalt in einem weißen Kleid naschte von den Keksen. Auf ihrem Rücken trug sie ein paar wunderschöne Flügel.
Neugierig ging Lisa zum Fenster.
„Hallo, bist du ein Engel?“, fragte sie.
Die Gestalt, die Lisa noch nicht bemerkt hatte, zuckte zusammen.
„Oh, hast du mich jetzt aber erschreckt. Ja, ich bin ein Engel, ich heiße Silberlöckchen. Und wer bist du?“
Lisa nannte ihren Namen und unterhielt sich eine ganze Weile mit dem Engel.
Silberlöckchen erzählte ihr auch von Goldglöckchen und wie gerne das kleine Engelchen auch einmal mit zur Erde fliegen würde.
„Das arme Goldglöckchen, kann man denn da gar nichts machen?“ Lisa dachte einen Augenblick nach und hatte plötzlich eine Idee.
„Ich werde meine Mama fragen, die ist ganz schlau und weiß bestimmt, wie wir Goldglöckchen helfen können. Kannst du morgen Nacht noch mal vorbeikommen?“
Das wollte Silberlöckchen gerne tun, da es bestimmt noch einige Tage dauern würde, bis alle Briefe der Kinder eingesammelt waren.
Lisa erzählte am nächsten Morgen sofort ihrer Mutter von ihrem nächtlichen Erlebnis und bat diese, Goldglöckchen zu helfen.
„Mhm, lass mich mal nachdenken“, sagte die Mutter, „da war doch mal...im letzten Jahr...doch ja, das müsste gehen.“
„Hast du eine Idee, Mama?“, fragte Lisa ungeduldig.
„Ja,“ lächelte die Mutter. „Erinnerst du dich an die Weihnachtsaufführung von deiner Schwester im letzten Jahr?“ Und ob sich Lisa daran erinnerte. Sie war wunderschön gewesen und Leoni, Lisas ältere Schwester hatte einen Engel gespielt. Richtig, einen Engel mit großen weißen Flügeln. Ein zufriedenes Lächeln breitete sich auf Lisas Gesicht aus. Schnell begleitete sie die Mutter nach unten in den Keller, wo das Engelskostüm in einem Karton aufbewahrt wurde. Die Flügel bestanden aus einem Drahtgestell, das über und über mit weichen Federn bedeckt war. Mit einem Gurt konnte man es am Körper befestigen.
„Toll, Mama, vielen Dank“, rief Lisa und gab ihrer Mutter einen dicken Kuss. Bevor sie ins Bett ging, legte Lisa die Flügel vorsichtig auf die Fensterbank und beschloss, wachzubleiben, bis Silberlöckchen kommen würde. Doch der Tag war zu aufregend gewesen und so fielen Lisa schon bald die Augen zu. Sie verpasste, wie Silberlöckchen beim Anblick der Flügel vor Begeisterung in die Hände klatschte und spürte auch nicht, wie der Engel ihr zärtlich über das Gesicht strich. Das einzige, was sie am nächsten Morgen vorfand, war eine leere Fensterbank, das heißt, ganz leer war sie nicht, ein bisschen Silberstaub und ein paar kleine glitzernde Sterne hatte Silberlöckchen zurückgelassen.
Die Freude bei Goldglöckchen war riesig, als Silberlöckchen ihm Lisas Geschenk überreichte. Die anderen Engel halfen ihm, die Flügel zu befestigen, und da es nun drei Flügel hatte, flog es höher und besser als je ein Engel zuvor. Auch das Christkind freute sich mit Goldglöckchen, da ihm das kleine Engelchen immer sehr leid getan hatte.
Lisa fand an diesem Heiligen Abend unter dem Weihnachtsbaum den schönsten Puppenwagen, den größten Stofftiger und das bunteste Bilderbuch, dass man sich nur vorstellen konnte, und als sie einen Moment glücklich zum Fenster hinausschaute, da war es ihr so, als ob für einen kurzen Augenblick ein paar weisse Flügel aufgeblitzt hätten.