Wie Betäubt
Es ist sechs Uhr und der Wecker klingelt. Scheiße, ich hab keine Lust. Hm, was hab ich heute? Mathe, Bio, Deutsch und Geschichte. Alles wichtig, also aufstehen. Na ja, fünf Minuten länger macht auch nichts.
Als ich dann endlich im Bus sitze, schlafe ich schon wieder fast ein.
Ich bin ein notorischer Morgenmuffel und hasse frühes aufstehen. Ich bin aber sofort wach, als ich ihn sehe. Diesen Blödmann, der mich vor ein paar Wochen angesprochen hat, und dessen Hundeblick mich immer verfolgt, wenn ich aus dem Fenster schaue, jedes Mal wenn er in den Bus kommt. Ich weis nicht mal mehr wie er heißt. Tobias? Thomas? Keine Ahnung. Ich kriege jedes Mal Herzklopfen, wenn er kommt. Nicht weil ich in ihn verliebt bin, sondern weil ich Angst habe, dass er mich schon wieder anspricht und ich kann ihm keinen Korb geben. Ich hasse ihn wegen seines Hundeblicks. Zum Glück ist bald Wochenende, nur noch acht Stunden und vier gelangweilte Lehrer. Schule ist wie immer, schrecklich langweilig. Die Lehrer lassen sich einfach nichts neues einfallen. Seit zwanzig Jahren die gleiche Leier. Ohne meine Freundinnen würde ich das nicht aushalten. Andrea, Anna und Jessica.
Vor einem Jahr sah das noch ganz anders aus. Ich war mit ihr befreundet.
Marie. Ich war in sie verliebt, glaube ich.
Falls ich es noch nicht erwähnt haben sollte, ich bin ein Mädchen. Wir hatten nie was miteinander, es hat mir schon gereicht in ihrer Nähe zu sein. Ihre einzige beste Freundin zu sein. Keine Ahnung wann ich mich in sie verliebt habe. Es hätte lieber nie so weit kommen sollen. Das konnte niemals gut gehen, das ist mir jetzt auch klar. Etwas stand zwischen uns. Und zwar sie Celine. Sie war wie der Wolf im Schafspelz. Ich konnte sie von Anfang an nicht leiden. Ich hab gleich gewusst, dass sie eine falsche Schlange ist. Sie hat sich bei Marie eingeschleimt und jedes Mal, wenn Marie mit ihr rumgealbert hat und mit ihr gelacht hat, habe ich einen Stich bekommen. Damals habe ich noch nicht genau gewusst, was das ist. Jetzt weis ich es, es ist dieses Gefühl, dass dich an dir zweifeln lässt, dich traurig macht und du fühlst dich einsam. Es ist Eifersucht. Und daran ging unsere Freundschaft zu Bruch.
Ich war damals fünfzehn unerfahren und dabei mich selbst zu finden. Ich war noch nie verliebt gewesen und verstand all diese Gefühle nicht. Selbst heute, wenn ich darüber nachdenke, weis ich nicht, wie das alles kommen konnte. Ich war mit Marie seit der sechsten Klasse befreundet, als ich auf die neue Schule kam, haben wir uns sofort angefreundet. Und dann irgendwann kam Celine. Eine große, schlanke Blondine. Ich kann mich noch an den Tag erinnern als wäre es gerade gestern gewesen. Nach den Sommerferien war sie da. Zuerst interessierte sich niemand für sie und ich denke, Marie hatte Mitleid mit ihr. Jedenfalls fing sie an mit ihr zu reden und das kam der guten Celine gerade recht. Von da an stand ich im Abseits. Wozu sich mit mir beschäftigen, ich meine, ich bin ja sowieso da. Ich fragte sie einmal, ob sie Celine jetzt lieber mag als mich und sie versicherte mir, dass dies nicht der Fall sei. Danach war alles leichter zu ertragen. Was an Celine nicht sofort auffiel, denn es kam erst sehr viel später zum Vorschein, war ihr Glaube daran, dass sie einfach immer recht hat, weil ihr Vater ein Richter ist und die haben für gewöhnlich immer recht. Das war der Grund, warum der Umgang mit ihr dann auch so schwierig wurde.
Marie war das Gegenteil von ihr. Sie hatte ständig Komplexe, was auch nicht sehr förderlich war, aber zu ertragen. Irgendwann fing Celine an sich bei mir einzuschleimen.
Es ist Freitag. Nadja hat Geburtstag. Meine Cousine. Sie wird Achtzehn und ist meine Lieblingscouine. Meistens total chaotisch, aber das macht sie so liebenswert. Sie ist elf Monate älter als ich und wie schon gesagt, wird sie heute achtzehn. Ich war schon seit Wochen nicht weg, weil ich ständig für irgendwelche Arbeiten lernen musste. Und wenn ich Party mache, anstatt zu lernen, denke ich nur daran, was ich noch alles lernen muss. Aber heute nicht. Leider sehe ich heute auch jemanden aus meiner alten Klasse wieder, jemanden, den ich nicht leiden kann. Nein, nicht Celine, sondern Sabrina. Das Klassenflittchen. Mit der hat schon jeder mal rumgemacht. Man muss nur ein bisschen nett sein und schon lässt sie einen ran. Ihre Art ist so unvorstellbar künstlich, dass ich mir immer wie ein Öko vorkomme, wenn ich in ihrer Nähe bin. Sie war auch eine Zeitlang mit Celine befreundet, als endlich alle erkannt haben, wie falsch sie ist. Und jetzt hasst sie Celine. Das ist ein Pluspunkt für sie.
Wenn ich an früher denke, kann ich mich nur schwer an konkrete Ereignisse erinnern, aber all diese Gefühle, die Wut ,der Hass, das Gefühl betäubt zu sein, das spüre ich jetzt noch. Ich weis noch, dass Marie, damals erst so richtig schön geworden ist. Sie hat sich so schnell verändert und ich glaube, dass war die Zeit, als ich mich in sie verliebt habe. Sie hat sich in diesen Blödmann Andre verliebt und ich konnte es kaum ertragen, als sie von ihm erzählt hat. Ich habe ihn immer schlecht gemacht und ganz ehrlich, so falsch lag ich damals auch nicht damit. Er hat gekifft und ist immer dämlicher geworden, aber all das hat Marie nicht gesehen, denn er war der erste Junge, der sich zum ersten Mal wirklich für sie interessiert hat. Ich wollte ihre Schwärmerei einfach nicht hören. Ich glaube, Celine ging es damals genauso, denn auch sie konnte ihn nicht leiden. Meiner Meinung nach war auch sie nicht nur an Maries Freundschaft interessiert. Aber, das kann ich natürlich nicht beweisen.
Meine Bemerkungen verletzten Marie, das kann ich verstehen, hätte jemand von ihr so schlecht geredet, hätte ich ihn fertig gemacht. Aber so benimmt man sich nun mal, wenn man eifersüchtig ist. Vielleicht erkannte sie ja doch, dass Andre ein Volltrottel war, aber damals war es schon zu spät.
Zu der Zeit fing ich an zu glauben, ich hätte mich vielleicht in Celine getäuscht und wir fingen an uns besser zu verstehen. Ein großer Fehler wie sich später herausstellte.
Dann ist auch noch mein Hund gestorben und Celine hat mich getröstet. Ich hab es zuerst nur ihr erzählt, weil ich nicht mit Marie reden konnte, denn ich war so furchtbar eifersüchtig. Als sie erfuhr, dass ich mich Celine und nicht ihr anvertraut habe, war sie sehr verletzt. Ich glaube, das war der Auslöser dafür, dass unsere Freundschaft begann zu zerbrechen. Wir haben uns dann doch miteinander ausgesprochen, aber die Versöhnung hielt nicht lange. Celine hat mich sehr beeinflusst. Wie sollte es auch anders sein, ich war verzweifelt, weil ich unglücklich verliebt war und ich konnte es Marie nicht sagen, wie auch? Ich war erst fünfzehn und dabei zu bemerken, dass ich bisexuell bin. Ich hatte einfach Angst. Alles entschied sich an diesem einen Tag, als wir diese blöde Chemiearbeit zurückbekommen haben. Die ehrgeizige Celine konnte es nicht ertragen schlechter als Marie zu sein und machte deshalb einen Riesenaufstand. Sie fand, Marie hätte ihre Note nicht verdient. Daraufhin fingen sie an sich zu streiten und Celine nannte Marie „dumme Votze“. Danach sprachen sie nicht miteinander.
Ich weis noch, wie Marie und ich im Bus sitzen und darüber reden, dass falls es je einen Streit zwischen Celine, ihr und mir geben sollte, wir beide zusammenhalten werden. Warum hab ich mich nicht daran gehalten?!
Nach dem Streit stand ich zwischen zwei Stühlen. Marie war seit über vier Jahren meine beste Freundin, aber mit Celine verstand ich mich viel besser. Zu wem sollte ich halten? Ich versuchte die Beiden wieder dazu zu bringen miteinander zu reden, doch alle Versuche scheiterten. Ich schrieb Marie sogar ein Gedicht, indem ich an all die Dinge appellierte die wir schon miteinander erlebt hatten, doch sie gab nicht nach. Und dann habe ich einen Riesenfehler gemacht. Ich hab ihr die Freundschaft gekündigt. Wieso ich das gemacht habe, ich weis es einfach nicht. Als sie mir dann noch gesagt hat, Andre wäre der einzige, mit dem sie noch wirklich reden könnte, stand mein Entschluss fest. Ich war so blind. Die Freundschaft mit Celine hielt auch nicht lange. Mit der Zeit distanzierte sie sich von mir. Ich konnte das alles nicht mehr ertragen. Ich fing an zu rauchen, und ritzte mir in den Arm, wenn es mir besonders schlecht ging.
Eines Tages wurde mir klar, dass das nicht so weitergehen konnte und ich meldete mich an einer anderen Schule an. Marie jeden Tag zu sehen ohne mit ihr zu reden, konnte ich nicht mehr ertragen. Als sie davon erfuhr, dass ich die Schule wechseln würde, sprachen wir wieder miteinander, doch es war nicht das Gleiche, denn sie war jetzt mit Andre zusammen.
Celine beachtete mich nicht mehr, sondern war jetzt Sabrinas beste Freundin. Als wir drei noch miteinander befreundet waren, konnte sie sie nicht leiden. Als ich sechzehn geworden bin, habe ich meinen Geburtstag nicht gefeiert und als mich Marie anrief um mir zu gratulieren, war der restliche Tag kaum zu überstehen. Die ganze Zeit musste ich an sie denken. Ich mag Geburtstage nicht besonders gern, aber dieser war wirklich schrecklich. Den ganzen Tag musste ich so tun, als sei ich glücklich, dabei wollte ich mich nur in meinem Zimmer verkriechen und heulen.
Als dann der letzte Schultag gekommen war, fiel eine riesige Last von mir. Ich hoffte auf der neuen Schule würde alles besser werden.
Und so war es dann auch. Ich habe jetzt wirklich tolle Freundinnen und ich fühle mich nicht mehr wie betäubt. Ich würde fast sagen, ich bin glücklich.
Auf der Party habe ich sogar mit Sabrina gesprochen, obwohl ich sie nicht leiden kann. Ich hatte Spaß, habe getanzt und kann alles vergessen.
Am nächsten Morgen als ich nah Hause gekommen bin, habe ich aus Langeweile die Zeitung gelesen und zufällig habe ich die Todesanzeigen aufgeschlagen. Was ich sah konnte ich kaum glauben. Sie ist tot. Marie ist tot. Dort stand es schwarz auf weiß. Marie Heine gestorben durch einen Autounfall und Andre Peters, der Fahrer, lebt noch.