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Wie der Schrei in einer klaren Winternacht
Rolf Meier bog gerade in die Poststraße ein. Sehr vorsichtig manövrierte er seinen Volvokombi, metallicblau und verlängerter Radstand, wie er gerne jedem erzählte, der auch nur einen Funken Interesse andeutete, um die Kurve. Denn es war glatt an diesem Heiligabend. Zuvor hatte er noch seine Mutter und seinen Großvater abgeholt. Sie waren schon zu spät, aber Rolf Meier freute sich aus offensichtlichen Gründen nie sonderlich auf Familientreffen. Aber endlich sähe er seinen Sohn wieder, den er immer schnell vermisste – und Rolf Meier musste jedes Mal bis nach Hamburg fahren, um seine Mutter, die keinen Führerschein hatte und seinen Opa, der ihn bei
einer unangenehmen Situation verloren hatte, abzuholen.
Als er dem roten Backsteinhaus, mit der Weihnachtsbeleuchtung auf dem Dach, näher kam, registrierte er mit Genugtuung den großen Garten, den er sich immer gewünscht hatte – er wollte doch mit seinem Sohn Fußball spielen, wie es sich für einen anständigen Vater gehört.
Ohnehin hatten alle Bewohner der Poststraße eine bemerkenswerte Affinität zu Rentieren und leuchtenden Weihnachtsmännern auf ihren Dächern. „Und in ihren viel zu großen Gärten!“, wie Rolf Meier verständnislos hinzufügte.
Alles in allem schien es eine ganz normale Familienfeier zu werden. (Alles in allem war es eine ganz normale Familienfeier!). Rolf Meier parkte in der Einfahrt neben dem schneebedecktem Land Rover und lud Geschenke und seinen Großvater aus. Gerade wollten sie sich zur Tür begeben, da hörte Rolf einen Schrei, aus dem sich schließen ließ, daß der, der ihn ausstieß, darauf achten musste, nicht sein Gebiss zu verlieren, wenn er den Mund zu weit aufmachte und zu wild in seinem bräunlich-ledernen Rollstuhl herumzappelte. Jedenfalls so wild wie es Herz und Hüfte zuließen. Und so verlief sich ein gebrechlicher Schrei in einer klaren Winternacht. Rolf Meier ging automatisch zurück an sein Auto und holte Opas „Prinz-Heinrich“ Mütze, denn er beharrte darauf, den ersten Weltkrieg als Matrose überlebt zu haben. ( Und nebenbei entscheidend zum Sieg beigetragen zu haben!)
So schlenderten sie weiter durch den Vorgarten des roten Backsteinhauses.
Sie gingen, und rollten, langsam über den kleinen gepflasterten Weg, als Rolf Meier links neben Renate Meyers neuem Stolz, der großen Ligusterhecke, wie sie in jedem anderen Garten der Poststraße zu finden war, einen neuen Fußball bemerkte. Rolf blieb stehen, nur sein Opa rollte weiter. Rolf Meier starrte Ball und Hecke an und wischte sich beiläufig eine Träne sehr männlich (wie auch immer ein echter Mann so etwas anstellt) von seiner linken Wange.
Denn Renate Meyer war nicht seine Frau. Und es war auch nicht er, der im großen Garten mit seinem Sohn Fußball spielte – nein, diese Rolle nahm jetzt Renate ein. Die neue Frau an Karin Meiers Seite. Die erschreckend maskuline Frau, an die er sie verloren hatte.
Denn die hatte nach fünf Jahren Musterehe bemerkt, daß sie sich eigentlich vielmehr zu Frauen hingezogen fühlte! Und so wuchs der kleine Dennis nun bei „zwei Mamas“ auf.
Karin erinnerte ihn, daß er es nie so gut gemacht hätte wie Renate, Weihnachtsbeleuchtung am Haus anzubringen. Zwar war es ihm nach seinem vierten Wasserglas Gin egal (er hatte mittlerweile angefangen zu halluzinieren, weil er kaum Alkohol trank), welche Sticheleien und Machtkämpfe er an diesem Abend zu dulden hatte,
aber Rolf Meier ging in keiner Sekunde der einsame Schrei eines alten Mannes aus dem Kopf, den viel eher ein kleiner Junge, der bei zwei lesbischen Müttern aufwuchs, hätte machen sollen. Er vergaß den ganzen Abend, nur diesen gebrechliche Schrei in einer klaren Winternacht nie. Als er bemerkte, daß der Schrei weder zu einem kleinen Jungen, noch einem alten Mann gehörte.