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Wie die Baumwollfaser in den Knast kam

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18.11.2009
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Wie die Baumwollfaser in den Knast kam

Guten Tag. Ich möchte mich zunächst einmal vorstellen:
Ich bin eine Baumwollfaser, mein wissenschaftlicher Name lautet Gossypium, und ich kam auf einer Plantage im nördlichen Indien zur Welt. Mein Strauch sowie alle anderen darum herum gehörten zur gehobenen Schicht, in Indien sagt man wohl Kaste dazu, weil wir länger waren als andere Fasern. Unsere Länge wird nämlich in Stapel eingeteilt und unsere Stapellänge liegt über 32 Millimeter. Dabei sind wir sehr, sehr dünn, nur 1,2 bis 3,5 hundertstel Millimeter. Obwohl wir so dünn sind, sind wir fest und innen hohl und können deshalb viel Wasser speichern. Unsere äußere Form gleicht der eines plattgedrückten, verdrehten Schlauchs. Wir hängen wie die Kletten aneinander und werden deshalb vorzugsweise zu Bekleidungsstücken verarbeitet. Dabei treten wir oft wahre Weltreisen an. So erging es auch mir.
Eines Tages wurde ich mit meinem Familienbüschel von einer zarten Mädchenhand gepflückt. Dabei erging es uns besser als den Verwandten aus anderen Gegenden, die oft von groben Maschinen vom Strauch gerissen werden. Nach dem Pflücken kam ich in einen Beutel, wurde anschließend ausgebreitet und getrocknet, und fand ich mich danach zusammengepresst in einem Ballen wieder. Meine Familie war noch ziemlich zusammen, aber die anderen Verwandten von unserem Strauch habe ich nie wieder gesehen.
Mit einem Schiff traten wir dann eine ziemlich lange Seereise an. In Genua wurden wir ausgeladen und mit einem LKW in die Nähe von Mailand gebracht. Dort gibt es eine große Fabrik, die DENIM, den Stoff für Jeansbekleidung, herstellt. Na ja, es hätte schlimmer kommen können. Mit Gabelstaplern brachte man uns in ein großes Lager und sortierte uns genau nach Stapellänge. So blieben wir einigermaßen zusammen. Bald darauf wurden wir zu einer Maschine gebracht, die einen ganz dünnen Film von uns herunter schnitt. Da war es mit der Familie vorbei. Wir wurden brutal getrennt ich konnte mich gerade noch an einigen Nachbarfasern festhalten, dann ging es rund. Wir wurden gekrempelt. Das heißt, der dünn abgenommene Faserfilm wurde zu einer Wurst zusammengedrückt, durch ein Auge einer Maschine geführt und locker aufgerollt. Dann wurde mir schwindelig. Das war wie pausenloses Achterbahnfahren. Immer wieder wurden wir in die Länge gezogen, verdreht und neu aufgespult. Ohne Pause, bis wir nur noch ein dünner Faden waren. Ihr könnt euch vorstellen, dass ich von meinen früheren Nachbarn keinen mehr sah und nur noch die engsten Familienmitglieder in meiner Nähe hatte. Aus dem Ballen Baumwolle waren nun sehr viele Spulen mit dünnem, weißem Garn geworden. Die hat man dann wieder getrennt. Ein Drittel dieser Spulen kam auf große Rollen, so genannte Kettbäume, und wurde in die Färberei gebracht. Dort wurden wir in indigoblauer Farbe gebadet, getrocknet und wieder gebadet, bis das Garn außen schön blau war. Innen kam die Farbe jedoch nicht hin, so dass die dort liegenden Fasern weiß blieben und nur die äußeren blau gefärbt wurden. Ich hatte Glück. Befand ich mich doch auf der Außenseite des Garns und konnte so alles beobachten. Dann ging es in die Weberei. Dort hat man uns blau gefärbte Fäden zur Kette und die ungefärbten, weiß gelassenen zum Schuss erklärt. Was das zu bedeuten hatte sollte ich bald erfahren. Mit affenartiger Geschwindigkeit wurden wir miteinander verknotet. Das passierte auf großen Webmaschinen und am Ende befand ich mich auf der blauen Oberseite eines schönen Stoffes, der DENIM genannt wird. Der war aber noch ziemlich rau, weil unsere Faserenden an manchen Stellen nach oben rausschauten, wir können sie ja nicht einziehen. Aber auch dafür hatten sie ein Gerät. Wir mussten einen Brennofen durchlaufen und alle hoch stehenden Faserenden wurden brutal abgeflämmt. Es wurde zwar ganz schön warm, aber mir ist nichts dabei passiert.
Später wurden wir aufgerollt, in Lastwagen verladen und nach Ungarn gefahren, wo es am Plattensee einen kleinen Ort mit einer Jeansfabrik gibt. Die hatten da die größten Tische die ich je gesehen habe. Zwanzig Meter lang und über einen Meter breit. Dort hat man uns mit 50 Stoffbahnen übereinander hingelegt. Oben drauf kam eine Schablone auf der die Stücke aufgemalt waren, die für eine Jeanshose gebraucht werden. Mit elektrischen Messern wurden die Einzelteile dann herausgeschnitten. Die von uns, die zwischen zwei Schablonen gerieten, landeten sofort im Abfall. Ich hatte wieder Glück und landete auf einem Teil für ein Hosenbein. Als Packung gleich groß zugeschnittener Schnittteile kamen wir in die Näherei. Das war vielleicht ein Bild. Vierhundert Näherinnen fertigen dort über Viertausend Jeanshosen am Tag. Sie sitzen da wie die Legehennen im Käfig. Ruck- zuck, war auch die Hose fertig zu der ich gehörte. Das Ganze dauerte kaum 15 Minuten. Dann aber wurde es abenteuerlich. Da war so ein Typ, der wollte, dass die Hosen alt und gebraucht aussehen, so als seien sie schon zehn Jahre getragen worden. Das hat vielen von meinen Kumpels das Leben gekostet oder ist ihnen zumindest gar nicht gut bekommen. Mit Drahtbürsten, Schleifpapier und Schleifscheiben haben sie an den Hosen rumgemacht. Bei einigen sogar mehrere Stunden lang. Manchmal wurden auch übel riechende Chemikalien aufgetragen, um einen besonderen Effekt zu erzielen. VINTAGE sollte es aussehen, USED, DESTROYED, AUTHENTIC und GESTONED. Glücklicherweise lag ich ja an einer Stelle wo das nicht nötig war, sonst … na ja, aber das war noch nicht alles, denn wir waren ja noch überwiegend gleichmäßig indigoblau gefärbt. Also ging es in eine große Waschmaschine. Hunderundsiebzig Jeanshosen, dazu dreihundert Kilogramm Bimssteine, alte und neu gemischt. Das war vielleicht ein Gepolter und Geschabe, kann ich euch sagen. Die Steine kratzten und schliffen an uns herum wie verrückt. Dabei nutzten sie sich so weit ab, bis die kleineren von ihnen ganz verschwunden waren und sich aus der Waschlauge ein schleifender Schlamm gebildet hatte. Und da mussten wir durch. Klar, dass die von uns, die an den Kanten oben lagen die ganze Packung abbekamen, sich abrieben und ihre blaue Farbe verloren. Die anderen, die tiefer oder in Ecken lagen waren besser geschützt und blieben dunkel. So auch auf der Seitennaht. Durch das Nähen war eine wellige Oberfläche entstanden. Ich lag glücklicherweise im Tal und blieb schön dunkel, die Erhebungen neben mir wurden hell. So hatte ich es auch sehr bequem, denn die innen liegende Nahtzugabe lag genau unter mir und bot ein schönes Polster. Ich fühlte mich wohl im Verbund mit meinen Nachbarfasern und ich meine, wir sahen gut aus und konnten uns als Naht durchaus sehen lassen. Als einzelne Faser waren wir nun zwar ziemlich bedeutungslos, aber als Teil der rechten Seitennaht einer Jeanshose entwickelt man ja Gemeinschaftssinn. Wenn ich damals schon geahnt hätte, …aber das kommt später.

Ich lag also in einem Jeansshop im Fach der Größe 32/34. Ein paarmal wurde ich herausgenommen, betrachtet und wieder weggelegt. Dann…, endlich, kam jemand und probierte die Hose auch an. Wir legten uns mächtig ins Zeug und nahmen Haltung an. Er sollte doch einen guten Eindruck von uns bekommen. Wir wurden gekauft und landeten bei ihm zu Hause im Schrank. Leider war unser Besitzer nicht sehr ordentlich. Meistens flogen wir nach einem Ausgang in eine Ecke und wurden nur selten ordentlich zusammengefaltet, außer wenn seine Mutter sich erbarmte. Heute war das jedenfalls mal der Fall. Die Quälerei in der Waschmaschine, das heiße Bügeleisen und den ekeligen heißen Dampf hatte ich vergessen und freute mich wieder auf einen Einsatz an frischer Luft.
Glücklicherweise befand ich mich ja an der Seitennaht des rechten Hosenbeins und konnte so alles mitbekommen. Mit meinen engsten Nachbarn bildete ich einen dunklen Fleck über dem Knie. Wir waren schon etwas privilegiert, denn die anderen, die insgesamt heller aussahen und höher lagen als wir, hatten viel mehr Kontakt mit allen möglichen Sachen, rieben sich auf und verloren ihre Farbe. Wir, waren also geschützter und hatten von daher eine höhere Lebenserwartung. Zudem waren wir der letzte dunkle Fleck auf der Vorderhose - von unten nach oben gesehen - denn nach uns wechselte die Fleckenreihe auf die Hinterhose. Genau oberhalb von uns war also dieser Wechsel. Damals waren wir uns der Bedeutung dieses Umstandes gar nicht bewusst. Wir waren als Hose schon etwas Besonderes und genau so einzigartig wie die teuren Designer-Teile, nur weiß das kaum jemand. In der Gemeinschaft sind wir alle Unikate.
Unser Besitzer fuhr mit uns also zu einer Bank. Warum er den Helm nicht abnahm kapierte ich erst später. Dann sah sich sie, die Kamera, direkt von rechts oben. Ein kurzes Zeichen und wir setzten uns nach Leibeskräften in Pose und zeigten uns als schöne Seitennaht. Unser Besitzer sollte doch stolz auf uns sein. Aber er hat das gar nicht gemerkt. Zu Hause flogen wir in eine Ecke, lagen dort herum und wir konnten betrübt sehen, dass er sich eine neue Hose gekauft hatte. Wie undankbar.
Nach einigen Wochen kamen Kripoleute in die Wohnung, durchsuchten alles und steckten alle Jeanshosen einzeln in Papiertüten. Darauf notierten sie ihren Namen, das Datum und die Stelle wo wir gelegen hatten. Darauf konnten wir uns zunächst keinen Reim machen und lagen tagelang in einem dunklen Karton in einem Regal. Später wurde es wieder lebendiger. Wir wurden ausgepackt und unserm Besitzer vorgelegt. Doch die Wiedersehensfreude war sehr einseitig, denn dieser Typ stritt ab, mit uns jemals etwas zu tun gehabt zu haben. Er hat uns schlicht verleugnet und blieb hartnäckig dabei. Man zeigte ihm Fotos aus der Bank aber er schüttelte nur den Kopf. Ich habe mich und die anderen als dunklen Fleck über dem rechten Knie sofort wiedererkannt. Das Leugnen hat meinem Besitzer aber nichts genützt. Zusammen mit den Bildern hat uns die Kripo zum LKA geschickt. Dort gibt es einen der sich mit uns auskennt. Der weiß, dass wir in der Gemeinschaft einmalig sind. Er hat darüber sogar einen Beitrag in einem Fachbuch geschrieben und war mit dem Thema schon häufig in der Presse und im Fernsehen. Meine Stelle auf der Hose, sie erinnern sich, oberhalb des rechten Knies, hat er sofort erkannt, in Augenschein genommen und mit den Bildern verglichen. Bingo, Treffer. Er hat ein Gutachten geschrieben und dem Gericht dargelegt, dass wir es waren, das heißt, dass diese Hose beim Überfall beteiligt war. Er hat einen Vortrag über unsere Individualität gehalten und das Gericht überzeugt.
Mein Besitzer hat weiterhin geleugnet und so getan, als ob er nicht wüsste, wer die Hose zur kritischen Zeit anhatte. Da kann ich nur lachen. Ich kann mich nicht erinnern, jemals einen anderen Geruch als den von ihm in der Nase gehabt zu haben.

Was dann weiter geworden ist, weiß ich nicht. Ich kriege nichts mehr mit, denn ich liege nun seit Jahren in einer Tüte im Regal der Kleiderkammer.

 

Herzlich willkommen, wiko.

Der erste Beitrag in den Geschichtenthreads ist ausschließlich der Geschichte vorbehalten.

wiko hat folgende Zusatzinfos per Link zu seiner Geschichte geliefert:

http://www.vdpolizei.de/Portals/0/Abbildungen/abbildungen_buch/100751.pdf
http://www.zeit.de/1999/15/199915.jeansuntersuchun.xml
http://www.planetopia.de/archiv/2009/planetopia/07_08/bilder/pdf/Die_Spurenleser_Druckversion.pdf
http://www.planetopia.de/archiv/2009/planetopia/06_14/bilder/pdf/Thema_2_druckversion.pdf

Noch viel Spaß hier!
Kerstin

 

Vielen Dank,

bin erst seit ein paar Stunden dabei und dies ist mein Erstlingswerk.

Viele Grüße

wiko

 

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