- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 13
Wie Herbstlaub im Wind
Dicke Regentropfen klatschen gegen das Fenster und perlen an der Scheibe hinunter. Dahinter, verschwommen durch den Regenschleier, sind Bäume zu erkennen, windzerzaust. Der Sturm reißt an ihren Blättern, zerrt und rüttelt daran. Viele Blätter ergeben sich diesem Kampf, werden hinfortgerissen und segeln nach langer Zeit im Wind zu Boden. Wenn ich als Kind traurig war, dass Sommer und Herbst zu Ende gingen und sich der Winter ankündigte, pflegte meine Mutter immer tröstend zu sagen: "Mach dir nichts draus. Im nächsten Frühjahr sind die Blätter doch wieder da". Sie sagte das so, als gäbe es keinen Grund, traurig zu sein, als würde alles wieder gut werden.
Doch diesmal wird es das nicht. Sie ist weg - und zurückkommen wird sie nicht. Dabei hat sie mir so viel versprochen, alles wollte sie für mich tun. Und anfangs hat sie das auch gemacht. Wir waren wie füreinander geschaffen. Meine Freundin und ich. Niemals wollte sie mich verlassen hat sie gesagt, sie hat es sogar versprochen. Naiv ist es, mit 19 an so etwas zu glauben, das mag sein. Aber es gibt eben Momente, da will man nichts anderes glauben und schon gar nicht an so etwas wie es uns nun geschehen ist.
Zaghaft klopft es an der Tür und ich spüre, ohne mich umzudrehen, dass meine kleine Schwester das Krankenzimmer betritt. Langsam und zögerlich nähert sie sich mir, ihrem einst so starken, großen Bruder. "Hallo, du", sagt sie leise, umfasst mit ihren Händen die Griffe des Rollstuhles und will ihn zu sich umdrehen, will mich vom Fenster wegdrehen. "Komm, ich fahre dich etwas spazieren." "Nein lass mich", fahre ich sie an. Lauter als ich es beabsichtigt habe, barscher, als sie es wahscheinlich verdient hat. Denn sie meint es doch sicherlich nur gut. Aber das meinen sie alle. "Geh! Ich will alleine sein!" Alle meinen sie es gut, doch warum verstehen sie meinen Schmerz nicht?
"Na wenn du meinst", entgegnet meine Schwester hinter meinem Rücken. "Spiel doch weiter den Sturkopf. Aber davon wird sie auch nicht zu dir zurückkommen!" Ihre Stimme ist laut geworden, hämmert sich in meinen Kopf ein und hallt dumpf nach, nachdem sie die Tür hinter sich zugeschlagen hat.
Mein Herz verkrampft sich. Ich spüre, wie Tränen in mir aufsteigen und hinauszubrechen drohen. Sie wird nie mehr zurückkommen. Alles hat sie mir versprochen, für immer wollte sie bei mir bleiben, egal was passieren würde. Genau das waren ihre Worte. Und was ist nun? Sie ist gegangen, einfach so und zurückkommen wird sie nie mehr. Und ich bin alleine zurückgeblieben, ein Krüppel. Von der Hüfte abwärts gelähmt, ewig gefesselt an diesen Rollstuhl. Mit so jemandem könne sie nicht zusammen bleiben hat sie gesagt, das müsse ich doch verstehen. Was soll ich verstehen, was?! Das sie lieber mit einem dieser Fußballspieler zusammen ist, einem Jungen, der sich noch bewegen kann, der kein Spasti ist so wie ich es nun bin? Die Dinge hätten sich eben geändert sagt sie. Ein Mädchen wie sie bräuchte Zukunftsperspektiven und mit mir würde sie nun keine mehr sehen. Wie soll ich denn nun noch welche sehen, nachdem sie weg ist, das Mädchen, das ich so sehr geliebt habe, die Frau, mit der ich mein Leben verbringen wollte. Nie mehr wird sie mir ihren zarten Fingern über meine Haut fahren, nie mehr werde ich dieses Kribbeln fühle, wenn ich sie sehe, denn sie ist nicht mehr da, ist einfach aus meinem Leben verschwunden. Einem Leben, das nun sinnlos geworden ist ohne sie.
Die Welt dreht sich um mich und ich scheine in ein bodenloses tiefes Loch zu fallen. Mein Herz verkrampft sich wieder, nie hätte ich gedacht, dass sie mir einmal solche Schmerzen zufügen würde. Wo sie mir doch alles versprochen hat. Alles. Ein Leben mit ihr.
Immer noch prasseln die Regentropfen gegen die Fensterscheibe, die Welt dahinter in einen grauen Schleier gehüllt. Der Wind heult um die Mauerecken und die Bäume rauschen so laut wie der Regen. Tränenverschleierten Blickes fahre ich hinüber zum Waschbecken. Auf dem Rand liegt eine Rasierklinge, nichtssagend. Ich lasse Wasser aus dem verchromten Hahn ins Becken rauschen, welches sich langsam füllt. Mein Griff um die Klinge ist eisern. Der Schmerz um ihren Verlsut treibt mich dazu, sie treibt mich dazu.
Eines hat meine Mutter nicht bedacht, wenn sie von den sprießenden Blättern der Bäume im Frühjahr gesprochen hat. Sie hat es vielleicht nicht bedacht. Es sind niemals die selben Blätter wie im Jahr zuvor, denke ich noch, während mein Blut das Wasser im Becken rot färbt und die Welt um mich herum langsam verschwimmt.