Was ist neu

Wie immer

Mitglied
Beitritt
13.12.2006
Beiträge
40

Wie immer

Der Bus kam natürlich zu spät. Das versuchte er auszugleichen, indem er rückwärts in die Haltebuch einbog.
„Raffiniert …“, hauchte unsere männliche Hauptperson, die lieber anonym bleiben möchte.
Als sich die Vordertür des Busses zischend öffnete, floss ihm der Busfahrer bereits entgegen. Unsere Hauptperson patschte ihm in die Schulter, welche dadurch mächtig in Wallung geriet.
„Neu, was? Das wird schon werden, junger Mann. Man gewöhnt sich an alles; auch an Wurmlöcher.“
„Ich bin eine Frau!“, blubberte der Busfahrer.
„Auch das gibt sich mit der Zeit.“
Da er, unsere Hauptperson, nur harte Währungen mit sich führte, verzichtete er auf ein Ticket und suchte sich einen Sitzplatz.

Nachdem sie schon eine Weile gefahren waren, kam er nicht mehr umhin, seinen Sitznachbarn auf dessen Nachlässigkeit hinzuweisen.
„Entschuldigen Sie bitte.“
„Hm, ja?“
„Es tut mir leid, aber ihr Ohr wächst unaufhörlich.“
„Mm, wie meinen?“
„Ihr Ohr! Es drückt mich bald von meinem Sitz!“
„Oh, ja, äh… Aber, sagen Sie mal! Was machen Sie hier überhaupt? Ich hatte diesen Platz extra für mein Ohr freigehalten. Ich muss Sie bitten, sich einen anderen Platz zu suchen.“
Und so geschah es.

Der Bus hielt.
Von seinem neuen Platz aus beobachtete er den Einstiegsbereich. Da tippte ihm von hinten eine ältere Dame auf den Kopf. Er drehte sich um.
„Ja bitte?“
„Sagen Sie mal, junger Mann, wo ist denn das Kind neben Ihnen geblieben? Gerade hat es doch noch dort gesessen.“
Er sah sich um.
„Ah, ja. Machen sie sich keine Sorgen. Es ist nur durch den Sitzbezug in die Polsterung gefallen. Seine Mutter ist ja bei ihm.“
„Dann bin ich beruhigt. Danke, dass sie nachgesehen haben.“
Er nickte und wandte sich wieder dem Eingang zu. Gerade erschienen zwei Schienbeine vor der Vordertür.
„Verzeihung“, hörte er schwach den Busfahrer gurgeln, „aber Sie sind leider zu groß für diesen Bus. Bitte warten Sie auf die Bahn. Die nächste fährt – lassen Sie mich nachsehen …“
„Bitte keine Umstände“, unterbrachen ihn die Schienbeine, „Wir reisen ohne Gepäck.“
„Na, wenn das so ist. Dann nur hereinspaziert.“

An der Bank unserer Hauptperson machten die Unterschenkel Halt.
„Ich sehe, der Platz neben ihnen ist frei“, fragte ihn der eine, „Dürfte ich wohl Platz nehmen?“
„Selbstverständlich.“
„Aber Tiffy!“, warf Samson, der andere Unterschenkel, ein. „Wir wollten doch zusammen sitzen!“
„Oh, du hast Recht. Ich nehme den Platz trotzdem.“
So nahm er ihn und suchte sich mit Samson weiter hinten im Bus eine Sitzgelegenheit.

Unsere Hauptperson wollte aber nicht allein sitzen. Also begab auch er sich nach hinten.
„Kommen Sie doch in meine Bank!“, bot ihm nach einer Weile ein hagerer, graumelierter Herr an.
„Danke, aber ich zahle noch den letzten Kredit ab.“
Nach einigen weiteren Weilen erreichte er den Wellness-Bereich des Busses. Mehrere fönfrisierten Damen, die seine Zehen massierten und lackierten, erschwerten ihm das Vorankommen.
Schließlich erreichte er die Heilbäder. Die Empfangsdame trug ihre Kopfhaut als Dutt am Hinterkopf und signalisierte auf diese Weise Bereitschaft zur Empfängnis.
„Welchen Wunsch dürfen wir Ihnen erfüllen?“, tönte es aus dem Lautsprecher in Richtung unserer Hauptperson – der Anti-Aging-Prozess der Empfangsdame war soweit fortgeschritten, dass sie das Sprechen wieder verlernt hatte.
„Einen Rooibusch-Tee, bitte.“
„Männlich oder weiblich?“
„Äh, wie bitte?“
„Der Badegast. Männlich oder weiblich?“
„Oh, natürlich. Weiblich, bitte.“
„Dünn, schlank, pummelig, fett?“
„Schlank.“
„Alter?“
„Hm, haben sie einen 89er Jahrgang?“
„Natürlich. Soll es der sein?“
„Ja.“
„Gut, vielen Dank für Ihre Bestellung.“
„Da nicht für“, entgegnete unsere Hauptperson noch, bevor er unverrichteter Dinge weiter zog.

Nach einer Weile wurde es dem Badegast zu viel.
„Nun hören Sie schon auf zu ziehen!“, ermahnte sie unsere Hauptperson. „Ich habe ja kaum mehr genug Wasser, um meine Schultern zu bedecken!“
„Oh, ich war ganz in Gedanken…“
„Und denken Sie jetzt ja nicht, das hätte etwas mit meinen Haaren zu tun! Ihre Haltestelle kommt in Sicht.“
„Tatsächlich?“
Tatsächlich. Die Haltestelle, an der er zu Beginn des Tages eingestiegen war, entfernte sich immer weiter davon, entfernt zu sein.

So stieg unsere Hauptperson bald darauf aus und setzte sich ohne Umschweife zu seiner Frau auf die Couch.
„Wie war die Arbeit, Schatz?“, fragte sie.
„Wie immer“, antwortete seine Frau und schaltete unsere Hauptperson aus, bevor sie zu Bett ging.

 

Dieser Text ist ziemlich schnell entstanden. Eigentlich soll er nur ein Beispiel sein. Meine Frage ist nämlich folgende: Ist dieser Text surreal?

 

Irgendwie schon... Ich finde ihn, wenn er auch etwas wirr ist, aber nicht umsonst steht er hier unter Seltsam, nicht schlecht. Allerdings erinnert mich das sehr an den Anfang von "Herbst in Peking" von Boris Vian. Klingt wie eine Abänderung seines Arbeitsweges. Deswegen bin ich erstmal kritisch und sage: Ist das nicht auf deinem Mist gewachsen, finde ich es nicht sehr originell. Ansonsten - ganz amüsant.

lightdark

 

"Herbst in Peking" von Boris Vian
Puuh, gut, dass ich von dem Buch (?) noch nie etwas gehört habe... :)

Also danke, lightdark, für die doch positive Kritik.

 

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom