Wie Mathematiker Mafiosi jagen
Bruno Jeltsch musste sich Schweisstropfen von der Stirn wischen, als er endlich die Rolltreppe zur U-Bahn-Station erreicht hatte. Selbst zu dieser späten Uhrzeit war es noch heiss und schwül in der Stadt. Kaum ein Windhauch brachte frische Luft in die Strassenschluchten und die Wolken hielten ihr Versprechen nach Regen nicht.
Ein Blick auf die Uhr – es war bald Mitternacht. Jeltsch atmete tief durch, genoss die Frische, die ihm aus dem Untergrund entgegenwehte. Er hasste die Stadt. Er hasste die Leute in der Stadt. Er hasste den Verkehr, die Hochhäuser, den ewigen Lärm. Aber manchmal liess es sich eben nicht vermeiden, für geschäftliche Treffen die Villa in den Bergen zu verlassen.
Das Rattern des ankommenden Zugs war schon zu hören, als Jeltsch noch auf der Rolltreppe stand. Er stieg die letzten Stufen hinunter und kam so rechtzeitig in die Station, wo neben ihm eine Handvoll Partygänger mit Bierflaschen, ein älteres Ehepaar auf Städtereise und die Besucher eines Fussballmatchs auf die U-Bahn warteten. Es waren nicht genug Leute, um die weite, kahle Halle lebendig erscheinen zu lassen. Dies änderte sich jedoch schlagartig mit dem Eintreffen des Zugs. Touristen, Alkoholiker, aktenkoffertragende Geschäftsmänner, Discobetreiber, Hippies und Prostituierte strömten aus den Türen hin zur Rolltreppe. Jeltsch wurde mehrmals angerempelt, musste ausweichen und lief dann doch direkt in eine junge Frau hinein.
„Entschuldigung“, raunte er, der Blondine aufhelfend. Ihr Lächeln liess seinen Mund aufklappen. Sie war von bezaubernder Schönheit.
„Schon gut, nichts passiert. Aber verpassen Sie den Zug nicht!“
Etwas dümmlich nickte Jeltsch, bevor er zwei Schritte zurückstolperte, sich von der Frau abwendete und in die U-Bahn stieg. Wieder musste er sich Schweiss von der Stirn wischen, wieder sehnte er sich nach einem kühlen Luftzug. Dann beschleunigte der Zug und ein Handy klingelte.
„Ich bin müde“, jammerte die kleine Nicole. „Sind wir bald da?“
Liebevoll streichelte ihr Vater durch das Haar des Mädchens. „Nein, noch lange nicht. Schlaf ruhig ein wenig.“
„Ich kann in der U-Bahn nicht schlafen. Da rattert es ständig so und draussen ist es dunkel. Markus sagt, dass da Dämonen leben.“
„Glaub Markus nicht, ja? Versuch einfach zu schlafen. Schliess die Augen und träume. Ganz leicht.“
Nicole seufzte. „Wie lange dauert es denn, bis wir ankommen?“
„Eine Weile. Es sind zehn oder elf Stationen, glaub ich.“
„So weit?“ Missfällig liess das Mädchen den Kopf zurück gegen die Scheibe fallen. Sie wollte endlich ins Hotel, endlich einschlafen und träumen. Der Tag war schrecklich genug gewesen – vierundzwanzig Stunden in Begleitung eines alten Trottels, der verzweifelt versuchte, seine Tochter zu unterhalten und dabei so kläglich scheiterte, dass er ihr beinahe Leid tat.
„So weit“, stöhnte Nicole erneut und schaute aus dem Fenster, aber da war nichts als Schwärze. Nicht mal Sterne gab es hier, unter der Erde.
„Kleines, kannst du dich nicht etwas schmaler machen?“, bat ihr Vater. Die an der letzten Station eingestiegenen Leute suchten sich Plätze in der überfüllten U-Bahn und eine alte Dame am Gehstock liess sich neben Nicole nieder. Sie stank und Nicole rümpfte die Nase beim Gedanken, dass sie noch elf Stationen neben dieser Fast-Leiche sitzen sollte.
„Pa?“
„Mhm?“, entgegnete der.
„Können wir nicht die Plätze tauschen?“
„Weshalb will...?“ Er brach ab, als er bemerkte, wie schamlos sich seine Tochter eben wieder benommen hatte. Mit einem warnenden Kopfschütteln machte er ihr klar, dass es für jedes weitere Wort eine Ohrfeige vor dem Schlafengehen geben würde. Also blieb sie lieber ruhig, hielt die Luft an und liess den Blick über die Mitfahrenden im Wagen streifen. Eine junge Frau, die etwas unbeholfen hin und her schwankte, während ihre Kollegen kicherten. Eine Gruppe Japaner, die sich gegenseitig fotografierten. Ein Skinhead mit Lederjacke und starrem Blick zum Führerstand des Zugs. Und ein dicker Winzling, der verdutzt sein Handy anstarrte.
Das war nicht sein Handy. Die Runzeln auf Jeltschs Stirn wurden immer tiefer, während er das aufklappbare Mobiltelefon betrachtete. Es piepste, jemand rief an. Aber das war nicht sein Handy. Seines war altmodisch, hatte einen Hick auf dem Display, war mindestens doppelt so gross und dafür handlich. Dieses hier hatte er nie zuvor gesehen. Dennoch klingelte es nun in seiner Hosentasche.
„Nehmen Sie endlich ab! Dieses Gepiepse treibt mich noch in den Wahnsinn!“, herrschte ein Glatzkopf in Lederjacke den zögernden Jeltsch an. „Oder soll ich das Scheissding auf den Boden werfen?“
„Schon gut, schon gut“, erwiderte Jeltsch und er nahm das Gespräch nach einer letzten Sekunde des Zauderns an. „Hallo? Hören Sie, ich habe gerade ...“
„Guten Abend“, unterbrach eine raue Männerstimme, „dieses Gespräch richtet sich an Sie, legen Sie also keinesfalls auf. Hören Sie genau zu und sagen Sie nur ‚Ja’ oder ‚Nein’. Verstanden?“
„Wa-wa-was?“, stammelte Jeltsch verwirrt.
„Verstanden?“
„Ich ... Ja, akustisch schon, aber ...“
„Gut. Wenn Sie tun, was ich Ihnen sag, können Sie viele Menschenleben retten, auch Ihr eigenes. Also passen Sie auf. Verstanden?“
„Ja, aber ...“ Jeltsch klammerte sich an einer Stange fest. Die U-Bahn bremste.
„Meine reizende Sekretären hat Ihnen bei dem Aufeinandertreffen vorhin neben dem Handy noch ein zweites Präsent zugesteckt. Greifen Sie in die rechte Tasche ihres Anzugs.“
Folgsam tastete Jeltsch die Tasche ab und war erstaunt, als er dort etwas Metallenes fand. Es war schwer, fiel ihm auf, und eiskalt.
„Was ist das?“, fragte er.
„Das ist eine Pistole.“
„Eine was?“
„Scht! Seien Sie ruhig!“
Jeltsch nickte sofort, auch weil der Glatzkopf von eben wieder einen bösen Blick in seine Richtung warf. „Okay, ich bin ruhig, aber ...“
„Mit dieser Pistole können Sie Menschenleben retten, verstehen Sie?“
„Nein.“
„Schauen Sie sich um. Bei der nächsten Türe, etwa fünf Meter von ihnen entfernt, da sitzt eine alte Frau. Können Sie die sehen?“
Jeltsch brauchte eine Weile, um über die Mitreisenden hinweg zu den Plätzen neben der Türe blicken zu können, aber schliesslich fand er die Greisin. Er atmete zweimal tief durch, bevor er sagte: „Ja, ich sehe sie.“
„Wer sitzt daneben?“
Schulterzuckend antwortete Jeltsch: „Ein Mädchen mit ihrem Vater.“
Nicoles Augen wanderten gelangweilt über die Broschüre, die sie im Zoo am Nachmittag mitgenommen hatte. Da stand, aus welchen Ländern die Bären kamen, woher die Löwen, die Pinguine und Zebras. Aber wirklich interessant waren höchstens die Bilder. Darauf konnte man sogar etwas von den Tieren erkennen, nicht so wie im Zoo, wo sie sich hinter Gebüschen versteckten oder sich im entferntesten Winkel des Geheges verkrochen.
Eigentlich hatte Nicole heute ihren neuen Fotoapparat ausprobieren und Bilder von allen Tieren im Zoo machen wollen, um sie dann zuhause ihren Freundinnen zeigen zu können. Sie hatte sich schon eine tolle Geschichte ausgedacht: Mit Vater zusammen sei sie auf eine Expedition nach Afrika und habe dabei Elefanten und Bären gesehen – und jetzt stand in dieser Broschüre, dass die Bären aus Kanada und die Elefanten aus Indien stammen würden.
Als die U-Bahn in der nächsten Station einfuhr, steckte Nicole das Heftchen zurück in den Rucksack und betrachtete für eine Weile ihren Vater, der mit geschlossenen Augen auf seinem Platz sass und schwer schnaufte. Nachts schnarchte er jeweils so laut, dass Nicole ihn bis in ihr eigenes Hotelzimmer hören konnte. Markus behauptete , Nicole würde ebenfalls schnarchen, sogar noch lauter als der Alte. Aber das glaubte sie nicht.
Vaters Bart wuchs wieder, bemerkte das Mädchen. Vor der Reise hatte er sich rasiert, jetzt waren die gräulichen Stoppel bereits wieder einen halben Zentimeter lang und liessen ihn älter erscheinen, als er war. Aber so war das immer: Für die Reise machte er sich schön, dann, für die Konferenzen, machte er sich alt um klüger auszusehen. Wie die Schauspieler im Theater heute Abend – die schminkten sich auch, um den Zuschauern vorzutäuschen, jemand anderes zu sein.
„Das Mädchen, wie sieht es aus?“, fragte die Stimme. Jeltsch musterte das Kind und beschrieb: „Sie ist vielleicht zehn oder elf, hat rote Strähnen im Haar, trägt eine Jacke aus Jeansstoff und ...“
„Gut, das ist sie.“
„Hören Sie, ich ...“
„Still! Sie tun genau was ich Ihnen sage, verstanden?“
Jeltsch nickte, erinnerte sich aber rechtzeitig daran, dass der Anrufer ihn gar nicht sehen konnte und erklärte deshalb: „Ja. Ja, ich verstehe.“
„Sie werden jetzt vor das Mädchen treten, die Pistole auf ihre Stirn richten und abdrücken. Danach machen Sie dasselbe bei ihrem Vater. Verstanden?“ Ohne Jeltsch Zeit für eine Reaktion zu lassen, sprach der Fremde weiter: „Tun Sie nicht, was ich von Ihnen verlange, wird in dem Zug eine Bombe hochgehen und nicht nur das Kind und ihren Vater töten, sondern mit den beiden alle anderen im Waggon, sie eingeschlossen. Verstanden? Die Bombe wird ebenfalls hochgehen, wenn Sie die Mitfahrenden irgendwie zu warnen versuchen oder andere Bemühungen unternehmen, um die beiden zu retten. Verstanden?“
„Shit!“ Mehr Worte fand Jeltsch nicht, nur hilfloses Gestammel. Mit der freien Hand griff er in die Anzugstasche, wo er ein Tuch zum Abtrocknen des Schweisses zu finden hoffte. Stattdessen spürte er den Stahl der Pistole.
„Verstanden?“
„Ich ...“, versuchte der Geschäftsmann sich zu sammeln, doch weiter schaffte er es nicht. Sein Blick wanderte hinüber zum Mädchen mit den roten Haarsträhnen. Sie gähnte.
Nicole gähnte. Die alte Frau war eben ausgestiegen, sie konnte also wieder frei atmen. Aber auch wenn der Gestank nicht mehr so schlimm war, so blieb die Luft doch stickig und erfüllt vom Geruch nach Schweiss.
„Pa, siehst du den Mann da?“
„Wen?“
Nicole deutete auf den dicken Winzling mit dem Handy, doch ihr Vater zog die Hand sofort zurück und knurrte: „Zeig nicht mit dem Finger auf andere Leute, das ist unanständig.“
„Ja, aber siehst du ihn jetzt?“
Der Winzling strich sich mit dem Ärmel Schweiss von der Stirn, schüttelte den Kopf, stolperte, als die U-Bahn aus der Station beschleunigte.
„Ja. Was ist mit ihm?“
„Er sieht wie eine Bowlingkugel aus, oder?“
„Scht!“, schimpfte der Alte mit tiefen Runzeln über den Augenbrauen. Wie immer, wenn er sich ärgerte, begann er an seinen Barthaaren zu zupfen. In Nicoles Gesicht zeigte sich ein freches Grinsen. „Weisst du eigentlich, wie leicht man dich ärgern kann?“
Auch darauf antwortete Nicoles Vater nicht, nur ein Grummeln, dann öffnete er denRucksack und holte eine Banane heraus. „Da, iss!“, kommandierte er.
„Ich habe keinen Hunger.“
„Iss!“ Die Betonung machte deutlich, dass Nicole keine Wahl hatte. So wollte er sie wohl davon abhalten, ihm weiter auf die Nerven zu gehen. Ungeduldige Zehnjährige waren kaum auszuhalten und das wusste Nicole ganz genau.
Als sie brav mit dem Essen der Banane begann – sie war tatsächlich hungrig – nahm ihr Vater einige Akten aus dem Rucksack und begann damit, sie zu studieren. Darin sah Nicole die nächste Chance, ihm auf die Nerven zu gehen. Sie schluckte rasch runter und fragte: „Um was geht es da?“
„Hören Sie, ich kann mir durchaus vorstellen, dass die Situation unangenehm für Sie ist.“
„Unangenehm, ja?“, grinste Jeltsch zynisch. Wenigstens sprechen konnte er nun wieder, die Knie jedoch zitterten so stark, dass er immer wieder das Gleichgewicht verlor und beinahe stürzte.
„Ja, unangenehm“, wiederholte der Anrufer, „aber versuchen Sie die Lage objektiv zu betrachten. Durch das Töten des Mädchens und ihres Vaters retten sie viele Menschenleben.“
„Ich ...“
„Denken Sie nicht zu lange nach, tun Sie es. Ich will ebenso wenig jemanden unnötigerweise töten wie Sie – deshalb offeriere ich Ihnen auch diese Chance, die Zahl der Opfer zu minimieren. Wenn Sie allerdings nicht kooperieren, wird es geschehen. Die beiden Zielpersonen wollen in acht Stationen aussteigen – nach der siebten müssen beide tot sein, sonst explodiert die Bombe.“
„Ja, ja!“ Nach und nach gelang es Jeltsch, sich wieder unter Kontrolle zu bringen und die Situation einzuschätzen. Trotzdem fiel es ihm weiterhin schwer, sich zu konzentrieren, vor allem auch, weil der Fremde ohne Unterbruch auf ihn einredete.
„Darf ich denn wenigstens erfahren, was die beiden ‚Zielpersonen’, wie Sie das nennen, verbrochen haben?“
„Nichts. Aber die Mafia hält ihre Versprechen und wenn sie jemandem verspricht, er müsse zusehen, wie seine Tochter stirbt, bevor er selber erschossen wird, dann geschieht genau dies. Leider nahm in diesem Fall die Zielperson unsere Drohung nicht ernst genug.“
Jeltsch stiess einen verzweifelten Lacher aus und murmelte: „Wie nett. Und weshalb hat die Mafia jemandem ein solches Versprechen gegeben?“
„Das finden Sie früh genug heraus, wenn Sie als Auftragsmörder vor Gericht stehen.“
Als Auftragsmörder. Jeltsch seufzte. Da stand er also, inmitten einer überfüllten U-Bahn zwischen Partyfreaks, Geschäftsreisenden, Touristen mit Kindern – und er musste eine Entscheidung treffen. Entweder verliess er die Bahn als Mörder, oder er verliess sie nicht. Nie. „Shit“, flüsterte Jeltsch vor sich hin. „Verdammt, was soll ich tun!“
„Bleiben Sie ruhig, ja?“, antwortete die Stimme augenblicklich.
„Ich versuche ruhig zu sein, aber das ist schwierig, glauben Sie mir!“
„Um was geht es da?“, fragte Nicole unschuldig.
„Das sind die Unterlagen zu einem Projekt, an dem ich arbeite“, erklärte der Bärtige. Seine Tochter warf die Bananenschale wie eine Basketballspielerin in den nächsten Abfalleimer, bevor sie nachhakte: „Was für ein Projekt?“
„Das verstehst du nicht. Viel zu kompliziert. Da geht es um Formeln und komplexe Computerprogramme.“
Nicole drückte sich an die Schultern des Mannes, so dass sie selber die Blätter studieren konnte. Er stiess sie zurück und knurrte: „Lass das!“
„Ich verstehe das schon, ich bin gut im Rechnen.“
„Aber nicht so gut.“
Das Mädchen liess sich nicht davon abhalten, ihrem Vater eines der Mäppchen zu entreissen. Interessiert blätterte sie herum, musste aber bald feststellen, dass auf den Blättern tatsächlich kaum etwas anderes als kompliziert aussehende Formeln standen. Zuvorderst jedoch fand sie eine Überschrift in einer Sprache, die entfernt an Deutsch erinnerte: „Wie Mathematiker Mafiosi jagen“
„Hat das mit dieser Konferenz zu tun, an der du gestern warst?“, fragte Nicole und ihr Vater nickte. „Ich hielt einen Vortrag zu dem Thema, aber gib mir die Blätter jetzt zurück, ja?“
Es war noch nicht alles verloren. Nicht aufgeben! Nie aufgeben! So hatte Jeltschs Mutter vor einem Vierteljahrhundert auf ihn eingeredet, als seine Firma unmittelbar vor dem Konkurs gestanden war. Er hatte weitergekämpft, neue Vertragspartner gefunden und aus dem hochverschuldeten Ein-Mann-Unternehmen war ein internationaler Konzern geworden. Aufzugeben lohnte sich nie, redete Jeltsch sich ein. Immer kühlen Kopf bewahren, selbst in der grössten Hitze. Immer weiterkämpfen.
„Wie lange noch?“, fragte er ins Handymikrofon.
„Sechs Stationen.“
Zweimal durchatmen, einen Blick auf das Mädchen, dann wieder nach vorne, am Glatzkopf vorbei, zum Führerstand. Viele Leute waren an der letzten Station ausgestiegen, aber noch immer befanden sich mindestens fünfzig Leute im Wagen. Zu viele.
Aber Jeltsch kannte wieder Zuversicht und Hoffnung, denn er hatte einen Plan – oder eher eine Idee. Auch das kannte er aus dem Geschäftsleben: Pläne sind nichts wert, Ideen dafür umso mehr. Flexibilität zählt.
Aus der Hosentasche zog Jeltsch sein eigenes Handy hervor und sogleich begann der Glatzkopf über Snobs zu fluchen, die sich mit nur einem Handy einsam fühlten. Jeltsch beachtete ihn nicht, sondern er liess seinen Blick schweifen auf der Suche nach anderen Leuten im Zug, die ihn anstarrten. Eine junge, bildhübsche Frau sah leicht angewidert auf seinen Bauch, zwei Teenager grinsten in seine Richtung und für einen Augenblick trafen sich die Blicke eines Penners mit denen des Geschäftsmanns, aber der Penner nippte gleich wieder an seinem Bier und schaute aus dem Fenster ins Schwarz. Jeltsch hingegen suchte weiter – und er fand einen jungen Burschen mit Hemd, Krawatte und einer Sonnenbrille auf der Nase. Die Sonnenbrille war bereits merkwürdig genug, noch interessanter aber war, dass der Bursche selber telefonierte.
Sofort schaltete Jeltsch sein altes Handy ein, nahm es ans Ohr und im gleichen Moment tönte auch schon die Stimme des Fremden aus dem Hörer des zweiten Mobiltelefons: „Lassen Sie diesen Unfug, klar?“
„Ich ...“ Der Erpresser beobachtete ihn tatsächlich. Er musste sich im Zug aufhalten.
„Weg mit dem Handy!“
„Okay.“ Jeltsch befolgte den Befehl, sein Blick jedoch blieb auf dem Burschen mit Krawatte haften. Er sah etwa so aus, wie sich Jeltsch einen überheblichen Wirtschafts- oder Jurastudenten vorstellte. Jedenfalls jemand, der andere Leute mit Äusserlichkeiten beeindrucken wollte. Ein bisschen zweifelte Jeltsch daran, dass dies sein Erpresser sein sollte, doch einzig die Hoffnung zählte.
„’Wie Mathematiker Mafiosi jagen’? Du bist also Spion und jagst richtige Gangster?“, fragte Nicole mit aufkommender Begeisterung. Bisher hatte sie den Alten immer für ähnlich langweilig wie ein Aquarium ohne Fische gehalten, jetzt sah sie ihn bereits wie James Bond durch Mafiaverstecke schleichen, Bösewichte abknallen und die Welt retten.
Zu Nicoles Enttäuschung winkte ihr Vater jedoch schnell ab. „Wieso nehmen alle diesen Titel wörtlich?“, fragte er kopfschüttelnd. „Sogar die Presseleute schrieben bei der Ankündigung meines Vortrags mit Begeisterung über mathematische Methoden in der Verbrechensbekämpfung! Dabei ist der Titel nur ein kleines Wortspiel: Es gibt viele Witze darüber, wie Mathematiker Löwen jagen oder Elefanten. In der Arbeit erkläre ich meine neuen Ansätze im Bereich der Statistik am Beispiel einer Untersuchung über den Zusammenhang zwischen Wahlverhalten und Mordrate in Sizilien. Also fand ich den Titel witzig und passend. Wahrscheinlich hätte ich ...“
Nicole hörte längst nicht mehr zu. Sie hatte genug verstanden: Ihr Vater war kein James Bond – es sei denn, sie unterschätzte sein Schauspieltalent. Die Emilia-Galotti-Darstellerin im Theater heute Abend hätte das nötige Talent jedenfalls gehabt, so langweilig wie die Aufführung Nicole vorgekommen war.
„Ist es noch weit?“, unterbrach das Mädchen schliesslich ihren Vater, der sich mehr und mehr in sein mathematisches Paradies hineinsteigerte. Er blickte auf die Anzeige und schüttelte den Kopf: „Nein, wir sind bald dort.“
„Wie lange wollen Sie noch warten?“
„Ich habe vier Stationen Zeit.“
„Drei – in der vierten geht die Bombe hoch.“
„Drei. Immerhin drei.“ Jeltsch musste sich festhalten, weil der Zug beschleunigte. Als es vor den Fenstern wieder dunkel wurde, fragte der Unternehmer: „Sind sie ein so ungeduldiger Mensch?“ Der Hoffnungsschimmer hatte in Jeltsch ungeahnte Kräfte geweckt – plötzlich war er zu zynischen Kommentaren fähig, schwitzte kaum mehr und er konnte sich konzentrieren. Beim letzten Halt hatte er die Chance genutzt, einen freien Sitzplatz zu ergattern, ganz in der Nähe des Wirtschaftsstudenten, und bei gelegentlichen Seitenblicken konnte er feststellen, dass der Student noch immer telefonierte und sich dabei sichtlich aufregte. Hoffnung.
Wieder bremste die Bahn, ratterte über die Schwellen, quietschte und rollte schliesslich in die nächste kahle Halle ein. Hier hätte Jeltsch aussteigen müssen, um zum eigenen Hotel zu gelangen.
„Aufschieben bringt nichts“, hörte er den Fremden sprechen. „Früher oder später müssen Sie es tun – es gibt keinen Ausweg, Sie können nur die Zahl der Opfer bestimmen.“
„Wie oft wollen Sie das noch sagen?“, erwiderte Jeltsch, wartete aber keine Antwort ab, sondern starrte in Richtung des Wirtschaftsstudenten. Der war aufgestanden, trat nun an Jeltsch vorbei zur Türe und verliess die Bahn. Zurück blieb eine Tasche, die der junge Mann unter die Sitzbank geschoben und nun vergessen hatte – versehentlich oder vielleicht auch mit Absicht.
„Alles was ich sage, sage ich so oft es sein muss“, erklärte der Erpresser. „Sie haben noch immer nicht getan, was ich von Ihnen verlange.“
„In der Tat.“ Jeltsch stand auf, zwängte sich am Glatzkopf vorbei zum frei gewordenen Sitzplatz des Studenten und nahm die Tasche hervor. Um den Reissverschluss aufzuziehen, klemmte er das Handy zwischen Ohr und Schulter ein. Seine Finger zitterten, das Herz pochte. Die misstrauischen Augen, die ihn von überall her anschauten, nahm er kaum mehr war. Seine Hände tasteten sich vor. Er fühlte Karton, Papier, Buchumschläge. Aber keinen verkabelten Sprengstoff. Wieder Schweiss auf der Stirn, wieder Verzweiflung. Und ein Lachen aus dem Handy: „Dachten Sie, ich sei so dumm?“
Jeltsch antwortete nicht, sondern leerte den gesamten Inhalt der Tasche auf den Boden.
Nichts als Bücher. „Zivilrecht“, „Verfassungsrecht“, „Bundesrecht“. Kein Wirtschaftsstudent, ein Jurist.
„Los, bringen Sie die Sache hinter sich – ich beobachte jede Ihrer Bewegungen durch die Zugüberwachungskamera.“
„Shit“, stöhnte Jeltsch. Im selben Moment wurde er vom Glatzkopf an der Gurgel gepackt und hochgerissen. Das Handy polterte zu Boden.
Nicole konnte ein Kreischen nicht unterdrücken, als sie sah, wie der Skinhead diesen fetten Winzling niederschlug und dazu böse Verwünschungen schrie. Der Vater des Mädchens hielt ihr den Mund zu, während er sich selber hinter den anderen Passagieren zu verstecken versuchte. Ein Held war der Alte nie gewesen. Kein James Bond.
„Was soll der Blödsinn?!“, rief jemand aus dem hinteren Teil des Wagens. Andere Leute versuchten indessen den Skinhead zurückzuhalten, rissen an seinen Armen, packten seinen Hals. Der Winzling kroch über den Boden, blutend und verzweifelt unter Sitzbänke schauend. Überall lagen Blätter und Bücher herum, aber die interessierten ihn nicht. Er suchte etwas anderes.
„Nicole?“ Das Mädchen schaute zu ihrem Vater hoch. „Wir steigen bei der nächsten Station aus. Von dort sind es nur noch fünfhundert Meter bis zum Hotel. Das schaffen wir zu Fuss“
„Hey!“, schrie der Erpresser Jeltsch an, als dieser endlich wieder mit dem Handy am Ohr auf beiden Beinen stand. Er fuhr mit dem Handrücken über die Stirn. Nicht nur Schweiss, auch Blut aus einer Platzwunde an Jeltschs Haaransatz rann über sein Gesicht. Zum Glück hatte sich der Glatzkopf schnell wieder beruhigt und sogar so was wie eine Entschuldigung über die Lippen gebracht. Jeltsch jedoch hatte andere Sorgen.
„Verdammt, schauen Sie doch!“, schrie der Erpresser. „Schauen Sie!“
Im gleichen Moment fragte eine Mädchenstimme: „Entschuldigung, kann ich vorbei?“
„Ja – ja, natürlich“, antwortete Jeltsch reflexartig. Er zog den Bauch ein und das Mädchen drückte sich freundlich lächelnd an ihm vorbei. Jeltsch erblasste. Sie hatte rote Strähnen im Haar und ein bärtiger Mann folgte ihr. Seine Zielpersonen. Die beiden traten zum Ausgang. Und der Zug bremste.
„Ich dachte, sie steigen erst bei der nächsten Station aus!“, flüsterte Jeltsch aufgeregt ins Handy. Die Reaktion blieb kühl: „Tun Sie’s!“
„Aber ...“
„Tun Sie’s, verdammt! Jetzt!“
Jeltschs Finger berührten den Stahl der Pistole. Er fand den Griff, umfasste ihn.
„Entsichern Sie die Pistole, zielen Sie auf das Mädchen, schiessen Sie. Dann der Vater. Beeilen Sie sich!“
Das Herz des Geschäftsmanns drohte seinen Brustkasten zu zersprengen, so heftig pochte es inzwischen. Er konnte kaum mehr atmen, nur wild keuchen ohne wirklich Sauerstoff in die Lungen zu bringen. Von der Stirn strömte das klebrige Blut-Schweissgemisch unablässig den Hals hinunter.
„Ich drücke den Knopf, wenn Sie die Zielpersonen nicht sofort umbringen! Die Bombe explodiert gleich!“, warnte der Erpresser von Neuem. „Los!“, tönte seine Stimme aus dem Hörer. Jeltsch zog die Pistole ein Stück weit aus der Tasche, betrachtete dabei das unschuldige Gesicht des Mädchens, wie sie die Hand ihres Vaters hielt, wie sie mit den Knien das Bremsen des Zugs abfing.
„Na los, schiessen Sie!“
Der Zug fuhr in die Halle ein, an Leuten vorbei. Der Erpresser schrie so laut er konnte: „Schiessen Sie! Schiessen Sie endlich!“
„Nein“, hauchte Jeltsch zur Antwort. „Nein!“ Und plötzlich musste er grinsen. „Nein. Es gibt keine Bombe.“
„Wa...?“ Bruno Jeltsch klappte das Handy zu, liess es zu Boden gleiten und atmete tief durch. Den Griff der Pistole liess er los: „Es gibt keine Bombe.“
Nicole liebte diese endlosen Rolltreppen, die von U-Bahnschächten an die Oberfläche führten. Manchmal konnte man ihr Ziel kaum erkennen, so lange waren sie.
„Pa?“
Der Mann legte ihr zärtlich die Hand auf die Schulter und fragte: „Was ist?“
„Ich – ich habe nur gerade über das Theaterstück von heute Abend nachgedacht. Wegen Emilia und so.“
„Mhm. – Und was hast du gedacht?“
„Na ja, ob du mich auch erstechen würdest, wenn ich es verlange.“
Ein Lächeln zeigte sich in Vaters Gesicht, bevor er den Kopf schüttelte und erklärte: „Nein, sicher nicht!“
„Und wenn du nur so meine Ehre bewahren könntest?“
„Das Leben ist wichtiger als die Ehre.“
„Aber wieso hat Emilia dann ...“
„Das war vor mehr als zweihundert Jahren, da dachten die Leute anders als heute, verstehst du? Aber dein Leben ist mir jedenfalls wichtiger als alles andere. Von mir aus kannst du herumlaufen wie die beiden da vorne“ – er deutete auf zwei Punks mit halbrasiertem, halbgrünvioletthaarigem Schädel – „ich würde dich dennoch lieben.“
Nicole fand, dass Vater seinen Hang zum Kitsch mal wieder etwas allzu offen zur Schau stellte, also spuckte sie den Kaugummi auf die nächste Stufe der Rolltreppe – was ihr gleich eine Kopfnuss einbrachte. Die Verhältnisse waren wieder klargestellt. Der übermächtige Herrscher und das rebellische Mädchen. Dass die beiden so was wie Liebe verband, war bedeutungslos.