Wiederkehr im Sturm
Es fällt mir sehr schwer über die Geschehnisse der jüngsten Vergangenheit zu schreiben. Niemals hätte ich gedacht, dass eines Tages ein solches Ereignis in mein Leben treten und mich beinahe um den Verstand bringen würde. Die Dinge die ich gesehen habe mögen für rationale Gemüter, zu denen ich mich einstweilen selbst gezählt hatte, unglaubwürdig und geradezu lächerlich klingen, aber das wird nichts daran ändern, dass es die blanke, grausame Wahrheit ist, die ich hier niederschreibe.
Mein Name ist Eric Cage und dies ist die Geschichte, die erzählt werden muss, damit ich meiner Seele wenigstens etwas Linderung verschaffen kann.
Der Herbst kam dieses Jahr früher als gewöhnlich und machte sich fleißig daran, die Bäume und Sträucher zu entlauben. Mit ihm kamen auch die kalten Winde von den Bergen herunter, die den Bewohnern der kleinen Stadt Stone Shore den Frost in die Glieder trieben. Selbst redend wurden die Nächte immer länger, was dem sonst so lebendigen Charakter der Küstenstadt abträglich war. Es gab meiner Meinung nach nur wenige Orte, deren Erscheinungsbild derartig abhängig von den Jahreszeiten war. Stone Shore war definitiv einer davon. Die Siedlung war am Nordrand von einem kleinen Wald umrahmt und an der Südseite schlug das Wasser des Ozeans gegen die gezackte Steinküste. Im Sommer war alles grün und gemütlich, doch im Herbst verfiel aller Liebreiz dieser Gegend einer schrecklich bedrückenden Trostlosigkeit. Kaum jemand kam dieser Tage auf die Straße, es sei denn, man hatte etwas wichtiges zu erledigen. Im Großen und Ganzen aber hielt die gesamte Stadt einen verfrühten Winterschlaf.
Zu dieser Zeit bekam ich das Amt eines Hilfspolizisten in der Gemeinde. Meine Wohnung in New York hatte ich aufgegeben und bezog nun eine kleine Mietwohnung in Stone Shore. Wie meine Wenigkeit an diese Stelle gekommen war, soll hier nicht weiter von Belang sein aber wichtig ist, dass dies meine erste Tätigkeit dieser Art war. Euphorischer Tatendrang wirbelte mir durch die Glieder. Allerdings wurde diese Vorfreude vorerst enttäuscht, denn es gab neben einigen Raufereien unter Jugendlichen und einem Taschendiebstahl nichts, dass in dieser Stadt durch einen Ordnungshüter geahndet werden müsste. So verbrachte ich die meiste Zeit im Polizeirevier, wo ich den ganzen Tag, zusammen mit meinen Kollegen Ed und unserem Vorgesetzten Mr. Dean Carver Radio hörte und fernsah. Tage wie dieser wurden bald zur Routine und aus dieser Routine wurde sehr bald Langeweile, welche mir langsam aber sicher die Nerven traktierte. Wenn man durch die Fenster des Reviers blickte, ganz egal durch welches, konnte man schnell den Eindruck gewinnen, dass man der letzte Mensch auf Erden sei. Alles war wie leer gefegt. Jeden Abend, kurz bevor die rote Sonne mit dem glitzernden Ozean am Horizont verschmolz, trat ich den Heimweg an und alles was ich zu sehen bekam, waren Vorgärten, gelb und braun gestrichene Fassaden sowie weiße Gartenzäune aber nur selten Menschen. Zugegeben mir war klar, dass dieser Beruf ganz gewiss nicht so sein würde, wie ich ihn mir anfangs im Geiste ausgemalt hatte aber mit solch einer Fülle an Lethargie hatte ich beim besten Willen nicht gerechnet.
Im Lauf der Tage lernte ich meine Kollegen etwas besser kennen. Ed Fowler war eine junger, einheimischer, etwas schlaksiger Mann, mit kurzen schwarzen Haaren. Er mochte nichts lieber als gesalzene Erdnüsse und Soaps. Außerdem war er nicht in der Lage, ohne seine Brille überhaupt etwas zu erkennen. Dean Carver war etwa doppelt so alt wie Ed und ich. Sein Haar war ergraut und sein Gesicht versteckte die Zeichen der Zeit nicht. Zudem gab sein Bauch die Tatsache zu erkennen, dass er die Schokoladentorte von Mrs. Presston sehr gerne und vor allem regelmäßig aß.
Dorthin war ich also geraten; eine kleine Küstenstadt, in der ein lächerliches Klischee das andere jagte.
Meine Arbeitszeit wurde unaufhörlich von Trivialitäten dominiert, dabei war das einzige was ich wollte, eine Aufgabe. Irgendetwas Nützliches. Ich konnte ja nicht ahnen, was noch alles auf mich zukommen würde. Ed hingegen schien sich an seinem Leben weniger zu stören. An jenem Nachmittag, an dem alles begann, hatte er es sich auf seinem Stuhl bequem gemacht, die Beine auf den Schreibtisch gelegt und Ferngesehen. Ich hingegen genoss eine Tasse schwarzen Kaffee, während ich die Tageszeitung nach Ablenkung durchforstete. Mr. Carver saß in seinem separaten Büro und reinigte eines seiner privaten Gewehre. Plötzlich ging die Eingangstür auf und Joey Stevenson, der hiesige Friedhofsgärtner, trat herein. Dies war der erste Akt eines schrecklichen Ereignisses. Joey war ein kleiner, sehr dünner Mann, der nicht all zuviel von Hygiene hielt. Darüber hinaus war er etwas zurückgeblieben, was man ihm leider auch ansah. Seine Augen schielten ein wenig und er bekam den Mund nie ganz geschlossen, sodass seine gelben Zähne ständig zu sehen waren. Normalerweise redete er auch nie besonders viel aber heute hatte er etwas zu sagen.
>> Ich möchte eine Anzeige machen. <<, murmelte er.
>> Um was handelt es sich? <<, fragte ich.
>> Da war jemand auf dem Friedhof. <<
Ich nahm einen Schluck Kaffee und blickte den Gärtner an.
>> Es ist kein Verbrechen, auf den Friedhof zu gehen. <<
>> Aber man darf da nichts kaputt machen. <<, erwiderte Joey, wobei seine Stimme lauter wurde.
>> Was ist kaputtgegangen? <<
>> Hat wieder jemand Tomaten an deine Laube geworfen? <<, mischte sich Ed ein, ohne sich vom Fernseher abzuwenden. Joey senkte daraufhin verlegen seinen Kopf.
>> Es hat also jemand Schaden angerichtet? <<, sagte ich, worauf der Friedhofsgärtner nickte.
>> In Ordnung, ich werd’ mir das mal ansehen. <<
Zügig trank ich den restlichen Kaffee aus und zog meine Jacke an. Joey lächelte nur.
>> Hey, du willst doch nicht allen ernstes mit diesem Schwachsinnigen mitgehen oder? <<, sagte Ed, >> Die spielen ihm doch andauernd Streiche. <<
Das war die wohl unangenehmste Seite an meinem Kollegen.
>> Ja, ich werd’ mit ihm auf den Friedhof gehen. Alles ist besser, als hier rumzuhocken. <<
>> Bitte, wenn du deine Zeit verschwenden willst. <<
>> Du gehst mit ihnen! <<, sagte Mr. Carver, der sein Büro gerade verlassen hatte, um sich meine Tageszeitung unter den Nagel zu reißen.
>> Warum das denn? <<, protestierte Ed. Die Antwort kam umgehend:
>> Als Strafe natürlich. Ich hab dir schon tausendmal gesagt, dass du die Füße nicht auf den Schreibtisch legen sollst. <<
Es dauerte einige Zeit den Friedhof zu erreichen, denn er lag etwas außerhalb der Siedlung. Von der Stadt aus konnte man ihn nicht erkennen, weil er von vielen unterschiedlichen Bäumen und Sträuchern verdeckt wurde. Es führte auch nur ein regulärer Pfad dort hin, von dem aus man das Meer sehen konnte. Inzwischen stand die Sonne schon recht tief und verwandelte den Ozean in flüssiges Magma. Neben dem kalten Wind erschwerten auch Eds dauernde Beschwerden den Fußmarsch. Der Friedhof wurde von einer hüfthohen Steinmauer umfasst, deren Verwitterung auf immenses Alter hinwies. Wir betraten den Ort der Trauer durch ein kleines Tor, doch am Ziel waren wir noch nicht. Joey führte uns zwischen den Grabsteinen entlang, bis in die hinterste Ecke des Friedhofes. Dort, versteckt hinter einer kleinen Ansammlung hoch gewachsener Büsche, befand sich ein enormer Riss in der Mauer. Wir folgten Joey hindurch und fanden uns auf einem älteren, schon längst aufgegebenen Teil des Friedhofes wieder. Das Gras war hier hüfthoch gewachsen und kleine Ruinen ehemaliger Grabsteine standen überall herum.
>> Also gut! Das reicht jetzt! <<, sagte Ed, >> Was soll das alles? <<
Joey und ich blieben stehen, während mein Kollege ein paar Schritte weiter voraus ging.
>> Ich meine was, sollen wir hier? Das ist der alte Friedhof. Keine Sau interessiert sich dafür. <<
>> Wir müssen uns ansehen, was Joey uns zu zeigen hat. <<, beharrte ich.
>> Es ist dort hinten. <<, sagte der Gärtner und zeigte mit ausgestrecktem Arm in die entsprechende Richtung. Ich ging weiter. Ed dachte nicht daran seine Diskussion einzustellen und lief wieder ein paar Schritte voraus. Offenbar versprach mein Kollege sich mehr Aufmerksamkeit, wenn er in meinen Sichtfeld blieb.
>> Hey Eric. Was soll den hier bitte kaputtgegangen sein? Hier ist doch schon alles im Arsch. Ich verpasse meine ganzen Sendungen und mir ist saukalt. <<
Ich entschloss mich ihn nicht zu beachten.
>> Ist es noch weit Joey? <<, fragte ich.
>> Hier irgendwo ist es. <<, antwortete er.
>> Irgendwo? Was soll das heißen? Bist du dir nicht einmal sicher wo, du uns hinführst? <<, brüllte Ed.
>> Wie wär’s, wenn du endlich mal die Klappe hältst? <<, sagte ich. Mein nörgelnder Kollege ging weiterhin voraus und blickte, während er lief, zu mir zurück.
>> Okay, wie du meinst. Dann laufen wir eben hier draußen rum, mitten in der Pampa. Vielleicht prügeln sich heut noch zwei Eichhörnchen und wir müssen dann den Streit schlich…<<
Ed schrie auf und war plötzlich im Gras verschwunden. Zugegeben, ich war ganz schön erschrocken. Mein Kollege hatte nicht aufgepasst und war in ein von hohem Gras getarntes, tiefes Loch gefallen, das offenbar frisch Ausgehoben worden war.
>> Da ist es. <<, sagte Joey und zeigte auf die Aushebung.
>> Ist kaum zu glauben Ed,<<, sagte ich, >> andere stolpern nur über Fakten aber du fällst direkt hinein. <<
Die Scherze vergingen mir schnell als Joey uns darauf aufmerksam machte, dass es sich bei diesem Loch um ein ausgehobenes Grab handelte. Ein uralter Leichnam war entwendet worden. Die Tatsache, dass Ed vorübergehend dessen Platz eingenommen, hatte beruhigte sein Gemüt nicht gerade. Überall an seinen Sachen hatte sich feuchte Erde abgesetzt, sogar in seinen Haaren. Die Öffnung der Grabes konnte also noch nicht wirklich lange her sein. Hier lag also ein Fall von Grabschändung vor. Ich beschloss kurzerhand die Angelegenheit zu protokollieren und Carver vorzulegen. Nachdem wir zurück im Revier waren, - Joey war nicht mit uns gekommen, da er noch Unkraut zupfen wollte -, machte ich mich sofort daran, meinem Vorgesetzten alles zu berichten. Ed war immer noch stink sauer. Als er das Gebäude betrat, hinterließ er Fußspuren aus Dreck. Zum Glück konnte er sich noch rechtzeitig mäßigen und ließ seine Füße, nachdem er sich wieder vor den Fernseher gesetzt hatte, auf dem Boden. Falls Mr. Carver in irgendeiner Weise schockiert ob dieser Grabschändung war, so verbarg sein faltiges Gesicht das ausgesprochen gut. Er kehrte einen Moment in sich, um zu überlegen. Dann stand er auf und ging hinaus zum Telefon. Nachdem er den Hörer abgenommen und eine Nummer gewählt hatte, sah er verächtlich auf Eds hinterlassene Fußabdrücke. Jemand hatte den Hörer am anderen Ende der Leitung abgenommen. Carver sprach mit Bürgermeister O’Neal und setzte ihn über die jüngsten Ereignisse in Kenntnis. Das Gespräch war nur von kurzer Dauer. Nachdem er den Hörer wieder aufgelegt hatte, wandte Carver sich wieder an Ed und mich.
>> Der Bürgermeister ist empört über diese Tat. Morgen ist die Einweihung der neuen Schulflügels und er will nicht, dass dieser Anlass durch irgendetwas gestört wird. Höchstwahrscheinlich war das nur ein Streich, wer weis. O’Neal möchte, dass jemand heute Nacht auf dem Friedhof patrouilliert. Nur um sicher zu gehen, dass es bis Morgen keine weiteren Zwischenfälle gibt. Ed, dass machst du am besten. <<
>> Was? Wieso ich? <<, protestierte mein Kollege, >> Das ganze war doch Erics Idee. Warum muss ich dann gehen? <<
Carver antwortete, während er sich wieder in sein Büro zurück zog.
>> Als Strafe. Weil ich dir schon tausendmal gesagt hab, dass du dir die Schuhe abtreten sollst, wenn du hier rein kommst! <<
Das Meer hatte die Sonne verschluckt und somit die Dämmerung eingeläutet, als ich mich auf den Heimweg machte. Der Wind war wieder etwas stärker geworden und brachte die kahlen Zweige der Baumwipfel zum Tanzen. Bis auf das Knirschen der Äste und dem leisen flüstern des Windes, gab es kein Geräusch in den Straßen von Stone Shore. Es war so still, dass man sogar die Brandung leise hören konnte. Von meiner kleinen Wohnung aus konnte ich sehen, wie das Meer im Mondlicht glitzerte. Im Grunde verfügte dieser Abend über alle Zutaten, eine angenehme Nacht zu werden. Doch ich sollte mich leider irren. Nur einen Augenblick nachdem ich mich in die Umarmung meines Bettes begeben hatte, fing der Sturm an. Er war so heftig, dass so mancher Ast nachgab und weg brach. In diesem Moment hatte ich Mitleid mit Ed, obwohl man sich sicher seinen konnte, dass er den Friedhof bei diesem Wetter schon längst eigenmächtig verlassen haben dürfte. Nach einiger Zeit schlief ich ein. Noch war es der friedliche Schlaf eines Unwissenden, doch damit sollte es bald vorbei sein. Die Sonne war noch nicht richtig aufgegangen, da klingelte mein Telefon. Es dauerte einen Moment, bis ich die Nachwirkungen des Tiefschlafes abgeschüttelt hatte und den Hörer abnahm. Am anderen Ende war Carver, der mich dazu aufforderte sofort auf dem alten Friedhof zu erscheinen. Danach legte er wieder auf. Ich folgte diesem Befehl so schnell ich konnte, denn die Erregung in seiner Stimme war nicht zu überhören.
Der Sturm hatte deutliche Spuren auf dem kleinen Pfad zum Friedhof hinterlassen. Die hohen Graßhalme waren fast alle nach unten gedrückt und die Kronen vieler Bäume hatten einiges an Substanz eingebüsst. Als ich am Friedhof, ankam erwartete mich Mr. Carver bereits. Ohne viel zu sagen führte er mich auf den Begräbnisplatz. Was ich dort sah konnte ich im ersten Augenblick nicht begreifen. Insgesamt waren fünf weitere Gräber auf dem regulären Friedhof geöffnet worden. Wie war das nur möglich? Es war undenkbar, dass dies das Werk eines Einzeltäters war. Gerade als ich etwas sagen, wollte meinte Carver, dass er mir noch etwas zeigen müsse. Etwas noch viel schrecklicheres. Ich folgte ihm quer über den Friedhof, bis hin zur alten Laube, für die Joey Stevenson verantwortlich war. Sie stand weit außerhalb der Friedhofsmauer und war an vielen Stellen beschädigt. Was ich dort sah, verschlug mir den Atem. Es war Ed, der da lag. Oder besser gesagt dort lag der größte Teil von ihm. Ungefähr die Hälfte von seiner Bauchdecke war weggerissen und enthüllte seine Morphologie. Die Därme waren schon ein enormes Stück aus der Bauhöhle getreten, begleitet von Unmengen Blut, das bereits an der Oberfläche verkrustet war. Carver sah mir an, dass ich diesen Anblick nicht ertragen konnte. Er führte mich ein wenig weg von der Laube und wartete bis ich mich wieder etwas beruhigt hatte. Danach erzählte er mir alles. Heute morgen war Carver extra früher aufgestanden, um nach Ed zu sehen. Als er ihn so fand war es für ihn ein ähnlicher Schock wie für mich. Nach etwas genauerer Untersuchung war er zu dem Schluss gekommen, dass Ed nicht an diesen massiven Bauchverletzungen sondern an einem gebrochenen Genick gestorben war.
>> Wer kann das nur getan haben? <<, murmelte ich leise vor mich hin, ohne darauf eine Antwort zu erwarten. Doch ich bekam eine.
Carver brachte mich zum Polizeirevier, wo ich einen blutverschmierten, völlig verwirrten Joey Stevenson in einer der Zellen vorfand.
>> Er soll das gewesen sein? <<, sagte ich.
>> Ja. Wer sonst? Er ist voller Blut. Außerdem hatte Ed noch einmal mit mir via Funk gesprochen. Er wollte ein besonderes Auge auf Stevenson werfen. <<
Es viel mir schwer zu glauben, dass Joey diese Tat begangen haben sollte. Auch Carvers Theorien wiesen viel zu viele Lücken auf, als dass man sie ernsthaft in Erwägung ziehen sollte. Warum hatte Joey mich und Ed zum ersten geplünderten Grab geführt, wenn er selbst doch der Schuldige war? Diese Frage alleine ließ mich an fast allem Zweifeln, was Carver von sich gab.
>> Ich werd’ jetzt die Spurensicherung rufen. Vielleicht schaffen die es bis morgen hier zu sein. Dann fahr ich raus und sichere den Tatort.<<, sagte mein Vorgesetzter und verschwand in seinem Büro. Niedergeschlagen setzte ich mich an meinen Schreibtisch. Das Flehen und Winseln von Joey bohrte sich geradezu in meinen Schädel und nahm dort ungeahnte Ausmaße an. Nach einer Weile konnte ich nicht anders, als mir die Ohren zu halten. Ich muss dabei das Zeitgefühl verloren haben, denn plötzlich stand Carver wieder vor mir.
>> Die Spurensicherung ist in einer Stunde hier. Ich fahre jetzt los, sichere den Tatort und werd’ danach zum Ortseingang fahren um die Kollegen dort zu erwarten. Du rührst dich hier nicht weg, bis ich wieder da bin , klar? Ich hab’ dir ‘ne Liste mit den Namen der geplünderten Gräber gemacht. Nimm sie und schreib das Protokoll. Und gib unserm Gast etwas zu Trinken. <<
Carver legte mir einen kleinen gelben Zettel vor, auf dem er die Liste geschrieben hatte. Danach machte er sich auf, das Revier zu verlassen.
>> Glauben Sie wirklich, dass er es war? <<, fragte ich bevor Carver hinaus gehen konnte.
>> Ja, das glaube ich. Man weiß einfach nie, was in solchen Verrückten vorgeht. <<
Es dauerte geschlagene acht Stunden bis mein Vorgesetzter zurückkehrte. In dieser Zeit schrieb ich das Protokoll, was aufgrund der wenigen Informationen die ich hatte, nicht besonders lange dauerte. Während ich schrieb, dachte ich oft an Ed. So ein Ende hatte er nicht verdient. Ich war neben der Trauer um ihn auch wütend. Das alles war nur geschehen weil O’Neal seinen neuen Schulflügel ungestört einweihen wollte. Aber was dachte ich da? Wer konnte denn schon ahnen, dass so etwas gesehen würde. Irgendwann hörte Joey tatsächlich auf zu weinen. Allerdings war das wohl seiner Erschöpfung zu verdanken. Ich sah ab und zu nach ihm. Er lag in der Fötusstellung auf der Bank und sein Gesicht war gerötet. Nein, das war kein Mörder, der da vor mir lag. Ich fing an zu grübeln und las mir nebenbei immer wieder mein Protokoll durch. Das Wichtigste hierbei waren meiner Meinung nach die Gräber. Warum sollte jemand sechs Gräber plündern? Nekrophilie war ausgeschlossen, denn die meisten der Ruhestätten waren über zwanzig Jahre alt, eines sogar über hundert. Und warum wurden nur sechs geplündert? Sicher spielte der Zeitfaktor auch eine große Rolle. Man konnte ja nicht innerhalb einer Nacht den gesamten Friedhof umgraben. Das führte mich zu einer weiteren Frage. Wurden die Gräber vielleicht ausgewählt? Wenn ja; nach welchen Kriterien? Das einzige was mir auffiel, als ich Carvers Liste las, war, dass drei der sechs Namen etwas mit einander zutun hatten. Auf dem Zettel stand zweimal der Name O’Neal und einmal Bartlett. Ich wusste, dass Bartlett der Nachname einer Schwägerin von Bürgermeister O’Neal war. Also bargen mindestens drei geplünderte Gräber miteinander verwandte Personen. In den restlichen Gräbern lagen ein Mr. Wright, eine Mrs. Sexton und ein Mr. Randle. Womöglich gehörten all diese Leute zu einer Familie. Es war vielleicht nur eine Vermutung aber wenigstens etwas.
>> Es war der Fluch! Jawohl, der Fluch! <<
Joey war wieder munter und redete leise vor sich her. Ich ging zu ihm und lehnte mich an die Gitterstäbe der Zelle.
>> Von was sprichst du da? <<, fragte ich ihn. Er antwortete zwar aber sein Blick haftete auf dem Boden.
>> Der Fluch, den der Wind in sich trägt. Kennst du die Geschichte denn nicht? <<
>> Nein. <<
>> Jeder hier kennt diese Geschichte. Jeder hier hat sie erzählt bekommen. Sogar ich. Es ist der Fluch der Stadtgründer. Der Fluch, den der Wind in sich trägt. <<
Bevor ich noch etwas sagen konnte, kam Mr. Carver, begleitet von zwei Beamten der Spurensicherung ins Revier.
>> Eric, du kannst jetzt gehen. <<, sagte mein Vorgesetzter, >> Du hast für heute genug gesehen. Spann einen Tag aus. Ich kümmere mich um den Rest. <<
Ich wusste ganz genau, dass Carver keine Widerworte zuließ und fügte mich. Da war sowieso noch etwas, was ich erledigen wollte.
Mein erster Versuch, dieses Rätsel zu lösen, scheiterte leider kläglich. Ich hatte beabsichtigt Bürgermeister O’Neal einen Besuch abzustatten, um ihn bezüglich seiner Verwandtschaft zu befragen, doch es war vergebens. In seinem Haus war niemand anzutreffen. Der Tag war inzwischen schon weit vorangeschritten. Die Sonne nahm bereits wieder ihren Abstieg zum Ozean in Angriff, als mir der rettende Einfall kam. James Brody, der Stadtchronist. Er würde ganz bestimmt etwas über die Familien, in dieser Stadt wissen. Es dauerte eine ganze Weile, bis mein klopfen und klingeln erhört wurde. Brody öffnete mir und sah mich grimmig an.
>> Was kann ich denn für Sie tun junger Mann? <<, fragte er mit verschlafener Stimme.
>> Ich brauche unbedingt ein paar Auskünfte es ist dringend. <<
>> Und Sie sind sich sicher, dass das nicht warten kann? <<
>> Absolut sicher. <<
Grummelnd ließ mich der Stadtchronist eintreten. Brody war ein Mann Ende fünfzig. Er war dünn, hatte eine leicht gebückte Haltung und trug eine Lesebrille. Obwohl er mindestes genauso alt war wie Mr. Carver, waren seine mittelangen Haare schwarz geblieben. Er trug einen Morgenmantel und braune Hausschuhe. Momentan war er sichtlich nicht bester Laune, aber er nannte sehr wohl die Aura eines Sophisten sein Eigen. Ich folgte ihm in sein Arbeitszimmer, welches einen enormen Schatz an Büchern und Schriftrollen bot. Des Weiteren schienen alle Möbel altenglischer Herkunft zu sein. Ich betrat hier einen muffigen Raum, dessen traditionelle Ausstattung jeden Zyniker sofort zu einer Satire anstimmen würde. Brody fing unvermittelt an zu stöhnen und rieb sich dabei den Bauch.
>> Geht es Ihnen nicht gut? <<, fragte ich.
>> Haben Sie schon mal die Gemüsesuppe meiner Frau gegessen? <<
>> Nein. <<
>> Ist das beste Abführmittel diesseits des Äquators. Sollten Sie mal probieren. <<, sagte der Chronist und setzte ein kleines Lächeln auf.
>> Also, um was geht es? <<
>> Ich habe hier sechs Namen und ich suche jemanden, der mir sagen kann, ob diese Personen miteinander Verwandt sind. <<
>> Zeigen Sie mal her. <<
Ich händigte ihm die Liste aus.
>> O’Neal, O’Neal, Wright, Sexton, Bartlett, Randle. Dazu brauch ich noch nicht einmal in eines der Bücher zusehen. Die gehören alle zu einer Sippe. Die haben Stone Shore vor zweihundert Jahren gegründet. <<
>> Sind Sie sich da sicher? <<
>> Ja, absolut. Von denen lebt allerdings nur noch einer. <<
>> Bürgermeister O’Neal!? <<
>> Ganz recht. <<
Diese Erkenntnis durchzuckte meinen Körper wie ein Stromschlag. Ich konnte es kaum erwarten Carver davon zu berichten. Ich verabschiedete mich höflich und war gerade im Begriff zu gehen, als mir plötzlich die Worte wieder in den Sinn kamen, die Joey zu mir gesagt hatte. Der Fluch der Stadtgründer. Warum ich dem Chronisten die folgende Frage stellte, weiß ich nicht mehr so genau, aber ich bin unendlich froh, dass ich es getan habe.
>> Da wäre doch noch eine Kleinigkeit. Wissen Sie etwas über eine Fluch, der auf der Stadt liegen soll? <<
Ohne ein weiters Wort zu sagen, ging Brody zu einem alten Schrank, öffnete eine Schublade und kam mit einem kleinen Buch wieder zurück. Er setzte sich an einen Schreibtisch und bedeutete mir mit einer Handbewegung näher zu kommen. Daraufhin schlug er das Buch auf. Ich sah nun ein altes Bild der ersten Siedler.
>> Das sind die Leute, die Stone Shore gegründet haben. <<, sagte Brody und blätterte um.
>> Und das ist Jonathan Edward O’Neal. Der erste Bürgermeister. Wir haben ’ne richtige Dynastie hier. <<
Dieses Bild zeigte einen Mann mit aristokratischen Gesichtszügen und einem weißen Vollbart. Auffällig war noch, dass er ein seltsames Amulett trug, welches einfach nicht in das Bild passen wollte.
>> Der Fluch betrifft diesen Mann. Jonathan Edward O’Neal führte vor etwa zweihundert Jahren die ersten Siedler hier her. Den Überlieferungen zufolge war er ein Mensch, der an okkulte Mächte glaubte. Als die Siedler über den Bergkamm nördlich der Stadt, wanderten zog ein gewaltiger Sturm auf. Das Leben aller Menschen unter O’Neals Obhut war bedroht. Also geschah folgendes: O’Neal nahm sich einen seiner Bediensteten bei Seite und vollführte ein dunkles Ritual. Er tötete den jungen Mann. Es war quasi eine Opfergabe, damit der Sturm verschwindet. O’Neal war damit erfolgreich. Sie ließen den Toten in den Bergen zurück, kamen hierher und gründeten Stone Shore. Aber es gab einen kleinen Haken. Der Geist des jungen Mannes könnte, laut dem Ritual, zurückkehren und Genugtuung fordern. Also baute O’Neal ein Denkmal, was eigentlich kein Denkmal war, sondern ein Schrein, der den Geist des Geopferten davon abhalten, sollte seine Rache an der Familie O’Neal zu nehmen. All das geschah fast heimlich. Nur wenige der Siedler hatten damals etwas davon mitbekommen. Deswegen ist es auch nur eine Legende und keine Historie. Tja, wenn das alles stimmt, kann der Geist ja jetzt kommen.<<
>> Was meinen Sie damit? <<
>> Das Denkmal, welches den Geist abhalten sollte, wurde vorgestern abgerissen. Dort steht jetzt der neue Schulflügel und dieser Felsbrocken stand direkt vor einem Notausgang. Ist ihnen das noch nicht zu Ohren gekommen? Dem jetzigen Bürgermeister bedeuten historische Werte wohl nicht all zu viel. <<
Nachdem ich das gehört hatte, musste ich unbedingt den Bürgermeister finden. Zum Glück konnte mir Brody sagen, wo er war. Heute war Versammlung in der Stadthalle, dort würde er zweifelsohne sein.
Ich rannte so schnell ich nur konnte. Die Nacht hatte inzwischen ihr dunkles Tuch über die Stadt gehängt und der Wind nahm auch wieder immens zu. Endlich erreichte ich die Stadthalle. Die Versammlung war gerade zu Ende und alle Anwesenden machten sich bereits auf dem Heimweg. Als ich das große, hölzerne, im viktorianischem Stil erbaute Haus betrat, waren bloß noch zwei Menschen darin. Mr. Dean Carver und Bürgermeister O’Neal. Ansonsten befanden sich in der Halle nur noch leere Stühle. Die beiden Männer standen vorn am Rednerpult und unterhielten sich. Ganz offenbar berichtete Carver dem Bürgermeister von den Fortschritten bezüglich den Gräbern und Joey Stevenson. Als ich am Pult ankam, musste ich erst einmal Luft holen bevor ich in der Lage war, etwas von mir zu geben.
>> Herr Bürgermeister! <<, keuchte ich, >> Ich muss Sie etwas fragen. <<
Bei der Gelegenheit bemerkte ich auch O’Neals Ähnlichkeit mit seinem Vorfahren, dem Stadtgründer.
>> Nur zu, mein Junge. <<, sagte er.
>> Als Sie den neuen Schulflügel bauen ließen, gab es da Proteste? <<
>> Proteste? Nein, nicht dass ich wüsste. Warum denn? <<
>> Ich glaube, dass der Mörder, der hier sein Unwesen treibt, die Absicht hat Sie anzugreifen. <<
>> Was erzählst du denn da, Eric? <<, platzte Carver hervor.
>> Ich glaube, dass der oder die Mörder Anhänger der Legende über den Fluch der Stadtgründer sind. In allen Gräbern, die geplündert worden sind, lagen Verwandte von ihnen, Herr Bürgermeister. <<
>> Junge, das wissen wir doch schon. <<, sagte Carver.
>> Und wie genau kommen Sie auf den Gedanken, dass diese Übeltäter Anhänger dieser lächerlichen Legende sind? <<, fragte der Bürgermeister. Bis jetzt bemerkte noch keiner von uns, dass der Sturm draußen immer heftiger wurde.
>> Weil diese Verbrechen erst begonnen haben als, dass Denkmal vor dem neuen Schulflügel abgerissen wurde. Deswegen denke ich, Ed muss diese Typen dabei erwischt haben, wie sie die Gräber öffneten. Darum haben sie ihn umgebracht. <<
Bevor einer der Anwesenden noch etwas sagen konnte, geschah das Unfassbare. Der Sturm heulte mit all seiner Kraft auf und begann an dem Gebäude zu rütteln. Das Dach fing an sich in kleinen Schritten aufzulösen und Bretter vielen vom Dachstuhl auf die Stühle. Ich ging näher ans Fenster und warf einen Blick hinaus. Was ich dort sah, ließ mich an meiner geistigen Gesundheit zweifeln. Das gesamte Gebäude befand sich im Auge eines monströsen Tornados, nur das hier keine Windstille herrschte. Die Windsäule riss alle Trümmer vom Haus empor, bis sie in entfernter Höhe nicht mehr zu sehen waren. Da wurde mir klar, auch wenn es gegen jedwede Rationalität war, dass ich mich in einer Sache geirrt hatte. Die Verbrechen wurden nicht von Anhängern der Legende begangen, sondern von der Legende selbst. Mit dem Abriss des Denkmal war dem Fluch nun der Weg zu seiner Rache geebnet worden.
>> Ist das wahr? Ist das der Geist? <<, schrie der Bürgermeister, dessen Stimme alle Mühe hatte, sich gegen den tosenden Lärm des Sturms durchzusetzen.
>> Seien Sie nicht albern! Das sind doch alles nur Kindermärchen! <<, rief Carver.
Da heulte der Sturm noch einmal kräftig auf. Es war fast so als hätte er eine Stimme, die Carver widersprechen wollte. Plötzlich sprang die Doppeltür der Halle aus den Angeln und Wind drang herein. Was nun folgte, war die absolute Negation der Realität. Für mich, der Höhepunkt allen Wahnsinns. Der Wind nahm eine leicht milchige Farbe an und formte sich langsam zu einer menschlichen Erscheinung, die nun durch die Halle auf den Bürgermeister zuging. Carver zückte seine Dienstwaffe und stellte sich der transparenten Gestallt entgegen. Er feuerte zwei Mal, doch die Kugeln zeigten keine Wirkung. Carver starb schnell, als die Erscheinung durch ihn hindurch trat. Sein Körper wurde blitzschnell in Stücke gerissen. Schlimmer noch als bei Ed. Arme und Beine rissen fast zeitgleich ab und vielen zu Boden. Anschließend riss der Torso in der Mitte vertikal durch und Carvers Eingeweide spritzten und klatschten auf die Stühle nieder. Der vordere Teil der Halle war nun blutrot gefärbt.
>> Was glaubst, du wer du bist? <<, brüllte O’Neal, dessen Angst offenbar auf unerklärliche Weise in Wut umgeschlagen war. Die transparente Gestallt ließ daraufhin einen Windstoß durch die Halle fahren, der die Stühle im Raum umherfliegen ließ. Einer davon traf mich am Kopf, worauf ich zu Boden ging. Viele sah ich nun nicht mehr. Das letzte, an das ich mich erinnern kann, ist wie Bürgermeister O’Neal ein Amulett in der Hand hielt und es der Escheinung entgegenstreckte. Danach wurde alles dunkel. Kein Wind, kein Geschrei nur Dunkelheit und Stille.
Als ich meine Augen wieder öffnete war, alles vorbei. Die Hälfte der Stadthalle war hinweggefegt worden. Trümmer des Gebäudes lagen überall in der Stadt verstreut. Vom Bürgermeister fehlte jede Spur. Die Morgenröte stand am Himmel und alles war wieder friedlich. Offenbar hatte der gestrige Sturm die Einwohner von Stone Shore aus ihrem verfrühten Winterschlaf gerissen, denn viele von ihnen eilten zur Stadthalle um mir zu helfen. Die meisten von ihnen übergaben sich beim Anblick von Carvers Überresten. Mir ging es nicht anders. Antworten wollte von mir keiner, denn jeder hatte den Sturm gesehen und das genügte den Leuten als Erklärung. Später setzte ich mich erfolgreich dafür ein, dass Joey Stevenson aus der Haft entlassen wurde. Das war das Mindeste, was ich tun konnte.
Die Leiche von O’Neal sowie die sterblichen Überreste seiner Verwandten wurden einige Wochen später auf einer Anhöhe in den Bergen gefunden. Einige munkeln, dass sie genau dort lagen wo der Stadtgründer sein grausames Ritual vollführt hatte.