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Wiedersehen
Sie schob sich, mit zwei Beschern bewaffnet, durch die Menge. Der Rauch brannte in ihren Lungen, sie musste husten.
Eigentlich mochte sie keine Discotheken, sie verabscheute sie regelrecht. Aber heute ließ sie sich überreden, sie hatte
ihre Freundin immerhin lange nicht gesehen. Irgendjemand rempelte sie an, es nervte sie, wie alles hier.
"Hey, hey, warte doch!" Hörte sie eine Stimme hinter ihr, egal, war sicher nicht an sie gerichtet, nur weg von hier,
raus hier, nach draußen, wo ihre Freundin schon wartete und die frische, kühle Nachtluft Erlösung bringen würde.
Plötzlich diese Hand auf ihrer Schulter. Sie erschauderte. Viel zu schnell drehte sich um und sah direkt in seine Augen.
Es lief ihr eiskalt den Rücken hinunter, ihre Finger zitterten, hoffentlich würde sie das Wasser nicht verschütten, war gerade
ihr einzigster Gedanke, zu anderen war sie nicht mehr fähig. Diese braunen Augen, sie hatten sich nicht verändert.
Noch immer schwamm diese Traurigkeit in ihnen, leise, still, aber sie hatte sich eingebrannt in ihr, in den letzten zwei Jahren.
Sie musste schlucken, nur zögerlich formten ihre Lippen Worte. "Äh.. hi.. was machst du hier?" Das Zittern in ihrer Stimme
verriet sie. Er musste lächeln, antwortete aber nicht auf ihre Frage, sondern sah sie unverwandt an. Sein Blick ging ihr durch und durch.
Seine Augen müssten blau sein, dachte sie, ein dunkles Blau, wie das Meer, eine stürmische See, vor der man Angst bekommt.
Angst vor dem Ertrinken.
Wieviele Minuten vergingen, ohne dass sie ein Wort sprachen, sondern so da standen und sich ansahen? Oder waren es doch nur Sekunden?
Sie spürte es, in ihren Gelenken, ihren Knochen, überall, wie der Raum um sie herum verschwamm, sich auflöste und nur sie beide übrig ließ.
Sie kannte dieses Gefühl, immerhin war sie monatelang davor weggelaufen. Aus Angst, es könnte wieder passieren oder aus Angst, es würde
niemals aufhören? Sie wusste es nicht. Wortlos ging sie an ihm vorbei, aufrecht und kühl, obwohl sie sich anders fühlte.
Ihre Knie fühlten sich an, als würden sie bei jedem Schritt zusammen knicken.
Ihre Freundin war betrunken, sie liefen ein Stück durch die Dunkelheit, es tat ihr gut, sie sog die kalte Luft tief in ihre Lungen,
so, als könnte sie die Begegnung von eben einfach aus sich heraus atmen. Aber so einfach war es leider nicht. In ihr brodelte es,
da stürmte ein Sturm, der ihre sicheren Gefühle, ihre Vorstellungen, die sie sich so lange hatte erkämpfen müssen, einfach umknickte,
als wären es Grashalme im Wind. Ihr Innerstes stürzte zusammen, wie ein Kartenhaus. Sie hatte Lust, zu weinen.
Ihre Freundin, Lena, hielt sich stöhnend an einer Straßenlaterne fest, ihr ging es wirklich schlecht. "Lena" sagte sie jetzt,
ihre Stimme fühlte sich bleischwer an. Lena antwortete nicht, war zu sehr mit ihrem Magen beschäftigt, der sich heftig gegen den
Alkohol wehrte. Sie versuchte es noch einmal. "Lena.." Lena richtete sich auf, sah sie fragend an, ihre Augen milchig und trübe.
"Er ist hier." Zuerst wusste Lena nicht, wovon sie sprach, dann aber zeichnete sich ein wissendes Lächeln auf ihrem Gesicht ab.
"Schön" antwortete sie, und noch einmal: "Schön." Dazu nickte sie. Dann stöhnte Lena wieder auf, übergab sich direkt an der Straßenlaterne,
ihr wurde ebenfalls schlecht, der penetrante Geruch brannte in ihrer Nase. "Hol mir n Wasser" presste Lena hervor.
Sie beeilte sich.
Als sie wiederkam war Lena aber verschwunden. Wahrscheinlich nach Hause gefahren, stellte sie mutlos fest. Und wie würde sie jetzt nach Hause kommen?
Ihr Geld für ein Taxi würde nicht reichen, soviel wusste sie. Da ihr die Kälte in die Knochen kroch und sie steif werden ließ, ging sie wieder rein.
Hoffend, sie würde jemanden finden, den sie kannte und der ihr helfen konnte.
Mit suchendem Blick lief sie in der Disco hin und her, bis sie sich an einen Tisch niederließ, sich ein Bier bestellte und sich dazu eine Zigarette anzündete.
Da sie in ihren Gedanken versunken war, bemerkte sie nicht, wie er sich ihr gegenüber setzte und sie erwartungsvoll ansah.
"Lange nicht gesehen" murmelte er schließlich in ihre Richtung, ohne sie anzusehen, sie erschrak. "Ja, hm." War das einzigste, was ihr dazu einfiel.
Sie sah ihn an, betrachtete seine pausbäckigen Wangen, die ihm einen weichen Gesichtsausdruck verliehen, dann seine Hände. Sie musste unwillkührlich lächeln. Er hatte Kinderhände, klein und zierlich, und meistens auch ziemlich tollpatschig. Irgendetwas in ihr zuckte zusammen. Sie rauchte noch eine
Zigarette, denn die Gefühle von früher überrollten sie plötzlich, als würde sie direkt in die Vergangenheit gerissen, die sie doch hinter sich gelassen hatte.
Abgeschlossen. Der Sommer. Er und Sie. Bilder stachen vor ihr inneres Auge, sie musste schlucken. Die Beziehung war chaotisch gewesen und meistens auch sehr schmerzhaft. Warum? Sie spürte wieder diese Hilflosigkeit, die sie beide verbunden hatte. Diese Hilflosigkeit, etwas ändern zu wollen, es aber nicht zu können. Worte, die gesagt werden wollten und mussten, es aber nie aus dem Mund schafften. Sie hatten sich geliebt, ja, aber das war vorbei.
Sich zu lieben, es aber nicht leben zu können, waren zwei verschiedene Dinge. Sie hatte sich damals gesagt, zwei Jahre sind genug, irgendwann muss auch Schluss damit sein, sie fing an, ihm aus dem Weg zu gehen, wollte nicht den Mann wiedersehen, von dem sie manchmal glauben musste,
so etwas würde kein zweites mal passieren. Sie schüttelte den Kopf, als sie ihre Zigarette im überfüllten Aschenbecher ausdrückte.
Verdammt, was war denn nur mit ihr los? Es war eine Jugendliebe gewesen, nichts weiter, was wusste sie schon wirklich von der Liebe?
Nichts! Mit einundzwanzig bildet man sich gerne ein, Bescheid zu wissen.
Er holte sie aus ihrer Träumerei. "Möchtest du was trinken?" Sie nickte. Cola mit Schuss. Eigentlich trank sie nicht gerne Alkohol, ab und zu mal ein Glas auf einer Party, das wars aber auch schon. Jetzt aber hatte sie Lust, sich in die neblige Wirkung des Alkohols fallen zu lassen, sich von innen damit
aufzuwärmen. Der Alkohol schoss ihr schnell ins Blut, sie war es ja nicht so gewöhnt. Sie fingen an, sich zu unterhalten. Hemmungen fielen,
wie Mauern einstürzen konnten, er wusste noch immer, wie er sie zum Lachen bringen konnte. Irgendwann gingen sie tanzen.
Sein Atem an ihrem Hals, an ihrem Ohr, sie musste lächeln. Sie ließ sich in den Tanz fallen, der Raum schien zu schweben, ihr war,
als würde sich alles in bunten Farben tauchen, sie wollte an nichts denken, nicht an gestern, nicht an morgen, nur das Jetzt und Hier war gerade
wichtig.
Seine Lippen schmeckten genauso wie früher. Süßlich und ein bisschen feucht. Er drückte sie an sich, so, als wolle er sie noch einmal loslassen,
als müssten sie sich festhalten, was ja auch irgendwie stimmte. Es war wieder da. Dieses Gefühl für ihn, vielleicht hatte es auch nie aufgehört,
vielleicht hatte sie es nur irgendwo in sich eingeschlossen und den Schlüssel weggeworfen.
Danach schob sie sich verlegen eine Haarsträhne aus dem Gesicht, er lächelte vorsichtig. "Soll ich dich nach Hause fahren?" Sie spürte seinen
flüsternden Atem in ihrem Ohr, sie bekam Gänsehaut, konnte nur zur Antwort nicken. Jedes Wort fiel ihr schwer. Wie früher.
Es war kalt draußen, sie spürte es nicht, irgendwas wärmte sie von innen. Vor ihrer Haustür küsste er sie noch einmal, sah sie lange danach an.
Ein Schweigen verband sie gerade, kein unangenehmes, sondern so ein wissendes. Seine Augen bekamen wieder diesen traurigen Zug,
der ihr schon so oft das Herz zusammen krampfen ließ. "Machs gut" sagte sie, schloss die Tür auf und ließ sie drinnen wieder krachend ins Schloss fallen.
Mit dem Rücken drückte sie sich gegen die Haustür, ihr Atem ging nur schwerfällig, sie hörte den Motor aufjaulen und das Auto danach wegfahren.
"Eine Jugendliebe.." flüsterte sie in den Raum, die Stille ließ es wie einen Schrei auf sie wirken.
Sie ging ins Bett, rollte sich in ihre Bettdecke, sein Geruch klebte noch an ihrer Haut.
Wie lange würde es dauern, bis sie das Kartenhaus wieder aufgebaut hatte?