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Wiege in der Tiefe

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01.06.2005
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Wiege in der Tiefe

Geboren wurde Zern in den Gedärmen der Stadt, tief im dunklen schweren Dunst, den sie ununterbrochen ausschwitzt. Seine Wiege war ein Nest aus Zeitungen, zusammengeklebt vom Speichel seiner Mutter, hier begann er schreiend sein Leben, bevor sie ihn erschöpft mit Lumpen bedeckte, die sie in den Kanälen gesammelt hatte.
»Er ist zu schwach«, sagte der Oheim und strich über das Fell seines Kopfes, kämmte den Grind um die Ohren heraus. Es war wichtig, hier unten stets freie Ohren zu bewahren, denn es krochen Dinge durch das Dunkel, schuppige Panzer, die nass aus den Kloaken tauchten, glimmender Schleim, in dessen Inneren die Skelette von Ratten zerfielen.
Das stetige Rauschen spülte ihnen den Auswurf herab, wertvolle, gefährliche, giftige, köstliche Abfälle.
Zerns Mutter legte sich neben den schnell atmenden Säugling, um ihn warm zu halten. »Er wird stärker. Die Stadt ist eine gute Lehrerin.«

Er sah nie Tageslicht, bis er mit vierundzwanzig Zyklen mündig wurde. Der Oheim war schon alt, daher nahm er Zern mit an die Oberfläche.
Sie folgten einem rutschigen Kanal, der sie in einem Hof ausspie. Es war mitten im Zyklus, hell, doch kein Sonnenstrahl drang auf das Pflaster.
»Wer lebt hier?«, fragte Zern.
»Menschen.«
»Wie wir?«
»Größer, kein Fell.«
Sie stiegen höher, erkletterten ein bleiernes Fallrohr. Grellrote Soki-Echsen flohen vor ihnen in Mauernischen. Irgendwo gurrten Tauben.
Zern hatte sich nie träumen lassen, dass die Welt so hoch war. Tief, ja, es ging immer noch weiter hinab, aber dass es hier oben einen so großen Hohlraum gab ...
Schwindel befiel ihn, als die rissigen Mauern zurückwichen, immer mehr Licht, Luft um sie war.
Und dann erreichten sie den Dachfirst.
Violetter Dampf lag an dem Tag wie eine Lumpendecke auf der Stadt, erstickte jedes Gehen zu einem Trotten, jedes Lachen zu einem Husten. Doch Zern hatte noch nie so viel Raum gesehen.
Er blickte sich um. »Was ist das alles?«
»Das«, sagte der Oheim, »ist die Hölle.«
Dann atmete er zum letzten mal aus.

 

Hi!

Deine Geschichte ist ein wenig sehr kurz geraten, was eigentlich schade ist, da der Einstieg recht gut ist.

Aber nach dem guten ersten Abschnitt folgt ein bestenfalls mittelmäßiger zweiter (und letzter) mit einem (entschuldige) irgendwie dämlichen Abschluss. Wozu nimmt der Alte Zern mit an die Oberfläche? Nur damit dieser ihm beim Sterben zusehen kann? Vielleicht ein bisschen zu wenig.

Meiner bescheidenen Meinung nach lässt sich aus dem Anfang noch einiges entwickeln - eine längere und aufregendere Geschichte. Der zweite vermittelt zu plötzlich etwas Philosophisch-religiöses, was nicht recht passen will. Darf an sich ruhig sein, gefällt mir hier aber nicht.

Auch auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen: Wenn du an den ersten Abschnitt anknüpfst und mehr von dem Leben unterhalb der Stadt erzählst, wird die Geschichte lebendiger. Ein Ausflug an die Oberfläche kann auch gerne vorkommen.

So, genug rumgezetert. ;)

Beste Grüße

Nothlia

 

Hallo Naut,

ich kann mich Nothlia größtenteils anschließen. In der Geschichte steckt irgendwei noch mehr, was man daraus hervor holen könnte. Ob du nun den ersten Ansatz fortführst oder den philosophischen Gedanken im zweiten Abschnitt angehst, finde ich hierbei eigentlich gar nicht so wichtig.

Das Ende finde ich auch zu abrupt. Und auch irgendwie völlig aus dem Zusammenhang gerissen. Jedenfalls empfand ich das so beim Lesen. :confused:

Persönlich denke ich, dass hinter der Geschichte irgendwas stecken soll, dass aber in dieser Fassung noch nicht so rüberkommt. Aber da kann ich mich natürlich irren. ;)

Die Bilder der Welt, wie du sie aufgebaut hast, fand ich aber sehr gelungen und auch gut beschrieben.

Grüße,

Sternenschmetterling

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Naut!

Für mich ist Deine Geschichte nicht zu kurz, vielmehr regt sie zum Nachdenken an. Wo die "Wiege" eines Menschen/Lebewesen steht, da ist es "normal", damit kennt man sich aus, da findet man sich zurecht bzw. paßt sich den Lebensbedingungen an. - Bedrohlich erscheint immer nur das Fremde, egal, von welcher Warte aus man es betrachtet.

dass es hier oben einen so großen Hohlraum gab ...
Auch die Wahrnehmung orientiert sich am bisherigen geistigen Horizont, der eben aus Hohlräumen und damit engeren Grenzen besteht, als der freie Himmel über einem.

Ach ja, zu Oheim: Ich denke, es war ihm wichtig, daß Zern das sieht. Wie ein Geheimnis, das er ihm noch mitgeben will, bevor er stirbt.

Wieder mal ein gut gewürzter kleiner Happen von Dir. :)

Liebe Grüße,
Susi :)

 

Tach Naut,

eine faszinierende Grundkonstellation, die du da entwirfst, ich würde wirklich mehr über diese unterirdischen Wesen erfahren.
Ich bin ja für kurze Geschichten sehr empfänglich (labern kann jeder), aber in diesem Fall ist die Handlung viel zu reduziert. Eigentlich ist es gar keine wirkliche Handlung, sondern nur ein kurzer Eindruck. Sprachlich finde ich das Ganze übrigens schon recht ansprechend, besonders die Beschreibungen am Anfang.

Insgesamt: Interessant, aber doch zu dünn.

Lieben Gruß,

Specktäitor

 

Hallo Ihr Lieben,

ich denke, es ist an der Zeit, meine dubiose Motivation zu dieser Geschichte aufzuklären: Ich habe sie zu einem Wettbewerb geschrieben, bei dem die Beschränkung auf 2000 Zeichen(!) lag. Zuerst dachte ich an einen Tippfehler ("Zeichen" statt "Wörter"), aber es war so gemeint. Ich habe also versucht, eine Fantasy-Geschichte mit nur 2000 Zeichen zu erzählen.

Ehrlich gesagt, bin ich mit dem Ergebnis auch nur so halb zufrieden: Das Wichtigste steht wohl drin (und hier deckt sich meine eigene Interpretation voll mit Susis :) ), aber am Schluss will man doch mehr erfahren, länger eintauchen (das ist es ja, was an Fantasy fasziniert: die Submersion in einer verfremdeten Welt). Bei Flash-Fiction wie dieser bleiben die Charaktere Schattenrisse, die Motive flackern wie Wetterleuchten.
Interessant: Nothlia las einen religiösen Aspekt heraus, den ich gar nicht finden konnte. Auch hier öffnet vielleicht die zu kurze Behandlung die Möglichkeit für zu viele, beliebige Interpretationen.

Ich hoffe, Ihr seid nicht allzu sauer über diese kleine Blitz-Geschichte. Wenn ich Zeit & Muße finde, greife ich die Idee noch einmal auf, dann darf der Oheim auch von früher erzählen, als die Soki-Echsen noch fett und zutraulich, und die Panzergründel blutrünstig aber wenige waren.

Viele Grüße,
Naut

 

Hallo Naut,

ohne dich zur Weiterarbeit drängen zu wollen, kann ich mich den meisten anderen nur anschließen: für mich ist das auch mehr der Anfang einer Geschichte als eine abgeschlossene Fabel. Da sie aber flüssig geschrieben und für mich in diesem Genre (kannte noch nicht ma den Ausdruck "Flash-Fiction") unbedarfte Leserin originelle Ideen enthält, bin ich gespannt auf die Erweiterung:

Ich hoffe, Ihr seid nicht allzu sauer über diese kleine Blitz-Geschichte. Wenn ich Zeit & Muße finde, greife ich die Idee noch einmal auf, dann darf der Oheim auch von früher erzählen, als die Soki-Echsen noch fett und zutraulich, und die Panzergründel blutrünstig aber wenige waren.
Gruß, Elisha

 

Hi Naut,
ehrlich gesagt hatte ich beim Lesen deiner Geschichte Ratten in einer postapokalyptischen Großstadt vor Augen und wollte dich schon fragen, was der Text hier in Fantasy zu suchen hat. Aber nachdem ich deine Erklärung dazu gelesen habe, habe ich wenigstens verstanden, warum du ihn hier gepostet hast, wenn auch nicht, was du mir damit sagen willst.
So wirklich fantastisch finde ich es nicht, eher SciFi. Und eine richtige, vollständige Geschichte ist es auch nicht. Da musst du noch mal ran!

gruß
vita
:bounce:

 

Auch ohne viel zu schwafeln. Mir hat sie gefallen. War kurz und voller netter Ideen. Aber falls du gern was längeres draus machen willst... bitte;)...

Hey, der Wettbewerb hatte nicht zufällig "Stadt" im Namen;)...?

Grüße

Thomas

 

Hey Naut,

Ich hatte ja vor langer, langer Zeit mal vor, "Richtig dreckige Urban Fantasy" als Monatsthema vorzuschlagen (gibt es das nicht mehr?), von daher freue ich mich doppelt über deine Geschichte. :)

Mir ist sie auch zu kurz, aber unter den gegebenen Umständen ist sie doch ganz gut in sich abgeschlossen. Als echte Kurzgeschichte aber irgendwie unbefriedigend, man will einfach mehr.

Die Sprache ist für mich aber das Beste an der Geschichte. Mir gefällt, wie du nicht alltägliche Wörter wie "Grind" einsetzt, um eine ganz bestimmte Atmosphäre zu schaffen. Das zeigt, dass lange Beschreibungen nicht immer nötig sind, sondern dass es eher auf die Wortwahl ankommt. Und ich mag es einfach, wenn ein Autor da experimentierfreudig ist.

Schön, macht aber Lust auf mehr.

Gruß,
Megries

 

Hi Elisha, ja, das Grundgerüst ist da. Könnte aber wirklich noch etwas Ausfüllung vertragen.

Ach vita! Du hast völlig Recht, was die Unvollständigkeit der Geschichte betrifft, und die Rückmeldungen hier motivieren mich, mehr daraus zu machen. Aber die Frage, was denn "wahre" Fantasy sei, will ich eigentlich nicht diskutieren. :)

Danke auch Tommy (ja, genau die Ausschreibung) & Megries. Es scheint wirklich Konsens zu sein, mehr daraus zu machen.

Danke Euch,
Naut

 

Hallo Naut!
Starke Bilder! Erinnern mich an "Das Parfume" oder an "Wassermusik"!
"Der Oheim war schon alt, daher nahm er Zern mit an die Oberfläche." Alter als Begründung verstehe ich nicht. Schön finde ich die Umkehrung. Ein gängis Bild ist doch, dass der Tiefgang ins Bewusstsein holt. Deine Prot. gehen in die Höhe, wodurch sich ihr Horizont erweitert, ".... (weil) es hier oben einen so großen Hohraum gab". Diese lichte Weite nennt der Oheim "Hölle", in Anbetracht dessen, dass wir oder einige von uns Menschen in der Einschränkung den Himmel suchen?
Zu kurz finde ich die Geschichte auch -
Grüße
krissy

 

Danke Krissy!

Diese lichte Weite nennt der Oheim "Hölle", in Anbetracht dessen, dass wir oder einige von uns Menschen in der Einschränkung den Himmel suchen?
Ja, das ist der Gedanke: Die Unterweltler hier leben ja in ihren engen Räumen, und obwohl diese uns wie die Hölle erscheinen müssen, sind sie daran gewöhnt. Hölle ist immer das andere.

Viele Grüße,
Naut

 

Ich denke vieles wurde bereits über deine Geschichte gesagt und das will ich hier nicht wiederholen.

Ich muss allerdings wirklich zugeben, mir gefällt deine wirklich sehr kurze Geschichte, irgendwie faszinierend und anders.

grüsse

 

Ich wiederhole mich trotzdem: Danke, Christoph! Ich freu mich über jeden Leser, besonders, wenn ihm die Geschichte gefällt.

Grüße,
Naut

 

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