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Wilde Erdbeeren - revisited
Wilde Erdbeeren
Eine Glasschale mit wilden Erdbeeren auf dem Küchentisch. An einigen Stellen schimmert noch eine feine Schicht weißen Zuckers auf den Früchten. Saft hatte sich auf dem Boden der Schale gesammelt. Fruchtfliegen sirren darüber. Auf dem Fußboden liegt ein alter Mann. Tot, mit einer unendlichen Trauer auf dem Gesicht.
Er hatte nicht länger warten wollen. Jeden Tag hatte er in seinem alten Lehnstuhl gesessen, gelesen, sich von Mahlzeit zu Mahlzeit gehangelt. Diese Mahlzeiten waren die einzigen Fixpunkte in seinem Tagesablauf. Morgens zum Bäcker, zwei Brötchen. Zeitung lesen. Ab halb zwölf das Mittagessen vorbereiten.
Er kochte noch selbst. Ein wenig Gemüse. Kartoffeln. Nur selten Fleisch. In seiner Kindheit gab es Fleisch nur am Sonntag. Er sah keinen Grund, dies zu ändern.
Mittagsschlaf. Warten. Immer den Telefonhörer in der Nähe, um ja den sehnlich erwarteten Anruf nicht zu verpassen. Der kaum, der viel zu selten kam.
„Hier Lydia.“
„Hallo, mein Schatz.“
Stille. Sie hatten sich nichts zu erzählen. Hatten sich auseinander gelebt. Selbst mit dem Hörer in der Hand, mit seiner Tochter am anderen Ende der Leitung, wartete er noch. Auf ein nettes Wort, auf ein paar Details, mit denen sie ihren Alltag teilen würde.
„Wie geht’s?“
„Danke, und dir?“
Er versuchte, sie in seine Welt mitzunehmen. Erzählte von seinem Nachbar, bei dem eingebrochen worden war. Erzählte von einem Freund, dessen Todesnachricht er am Morgen im Briefkasten gefunden hatte. Lydia war einsilbig geblieben, immer.
Er konnte sich nicht erinnern, wann er sie verloren hatte. Aber es musste lange her sein. Vielleicht schon damals, als sie noch ein Kind war. Eines Tages hatte sie ihm nach der Schule aufgelöst von einer Freundin erzählt, die sich umbringen wollte. Natürlich hatte er die Eltern des Mädchens angerufen. Diese hatten ihre Tochter ins Gebet genommen und diese wiederum ihre enge Freundschaft zu Lydia radikal abgebrochen. Über Jahre hinweg hatte Lydia nicht mehr von sich oder ihren Freundinnen berichtet.
An diesem Morgen nun, nachdem er gefrühstückt und ein wenig Zeitung gelesen hatte, beschloss er, nicht mehr zu warten. Er holte ein kleines Körbchen aus dem Keller und ging in den nahen Wald, Erdbeeren suchen.
Er erinnerte sich gut daran, hier vor vielen Jahren Erdbeersträucher gefunden zu haben. Damals, als Lydia und Johannes noch klein waren, gingen sie zusammen in diesen Wald, saßen stundenlang auf dem Waldboden, aßen Erdbeeren und träumten von großen Abenteuern. Von Fahrten auf dem großen Meer, von Burgen mit langen Geheimgängen, von einem Hof voller Tiere und einer gemeinsamen Sprache zwischen Mensch und Tier.
All die Stellen, an denen er früher Erdbeeren gefunden hatte, waren heute vermoost. Er suchte weiter, geriet immer tiefer in den Wald, vergaß das Mittagessen.
Er erinnerte sich an den Tag, als Johannes seine erste Anstellung bekam und das Haus verließ, um in der Stadt zu wohnen. An den Tag, als Lydia ihren ersten Liebhaber fand. Den ersten Mann, der sie heiraten wollte.
Vor der Scheidung hatte sie häufiger angerufen. Nicht um ihn, sondern um seine Frau zu sprechen. Aber wenigstens sprach sie damals wieder von sich.
Schweiß lief ihm über das Gesicht in die Augen. Lange schon war er nicht mehr so weit gelaufen. Er setzte sich auf eine alte, umgestürzte Eiche und sah sich um. Er konnte sich nicht daran erinnern, jemals in dieser Ecke des Waldes gewesen zu sein. Der große Feldstein am Wegrand, die leicht ansteigende Krümmung des Weges kamen ihm unbekannt vor.
Obwohl Johannes und Lydia oft in den Wald gingen, um dort zu spielen, hatte er sich nie um sie Sorgen gemacht. Anders als Martha. Die hatte oft Angst gehabt, die beiden könnten sich verlaufen. Oder würden überfallen. So wie sie, damals, auf der Flucht.
Er ging weiter, sich grob an der Sonne orientierend, die mittlerweile schon weit im Westen stand. Einem Wildwechsel folgend kam er schließlich zu einer kleinen Ansiedlung. Hier, am Rand des Waldes, fand er einige verwilderte Erdbeersträucher, die noch ihre Früchte trugen.
Während er sich auf das weiche Moos setzte, spürte er einen leichten Schmerz, der sich von den Unterarmen aus in Richtung Schulter bewegte. Nach ein paar Minuten ging es wieder.
„Ich werde alt“, dachte er. „Wirklich alt.“
Er probierte eine der kleinen Früchte. Süß waren sie und sehr intensiv im Geschmack, so wie er sie von früher kannte. Er entspannte sich ein wenig, dachte wieder zurück an die verschiedenen Male, als er mit den Kindern zum Beerensammeln in den Wald gegangen war. An Geschichten von Trollen und Erdgeistern, die er ihnen bei diesen Gelegenheiten erzählt hatte. Und an spätere Versuche, an diese Tradition anzuknüpfen, als die beiden schon älter waren, Teenager, mitten in ihrer Pubertät. Er beschloss, für die Kaffeezeit eine Portion Erdbeeren mit nach Hause zu nehmen, sie zu zuckern und gemütlich zu verspeisen.
Doch musste er noch eine geraume Zeit durch den Wald irren, bis er endlich eine Stelle fand, die er von früheren Gängen kannte. So wurde es spät, bis er endlich zurück nach Hause kam. In der Hand sein Körbchen, der zur Hälfte mit Erdbeeren gefüllt war. Er hatte wesentlich mehr gepflückt, doch die meisten Beeren waren direkt in seinen Mund verschwunden.
Als er in den verschiedenen Taschen seiner Jacke den Schlüssel für die Haustür suchte, begann drinnen das Telefon zu klingeln. Er stellte den Korb ab, um beide Hände zur Suche nutzen zu können, fand den Schlüssel schließlich in der Innentasche der Weste, schloss eilig auf, ließ den Korb draußen stehen. Er nahm den Hörer auf, hörte aber nur noch das Freizeichen.
Erschöpft setzte er sich in seinen Sessel. Die Haustür stand noch immer offen. Ein Luftzug fuhr durch die Tageszeitung auf seinem Wohnzimmertisch und blätterte sie auseinander.
Beklemmende Schmerzen machten sich in seiner Brust breit. Ein unbestimmtes Gefühl von Trauer durchfuhr ihn. Er wartete einen Moment, bis der Schmerz sich etwas gelegt hatte, und holte den Korb mit den Erdbeeren ins Haus. Nachdenklich wusch er sie und befreite sie vom Grün. Aus dem alten Hängeschrank nahm er die Zuckerdose und streute eine ordentliche Portion auf die Früchte. Er würden sie eine Weile ziehen lassen, bevor er sie äße.
Sein Blick ging zum Telefon. Die Leuchtdiode des Anrufbeantworters zeigte keine eingegangenen Nachrichten. Ihm wurde übel. Vielleicht hätte er doch nicht so viele Erdbeeren essen sollen. Kalter Schweiß lief ihm über die Stirn. Vielleicht sollte er den Arzt anrufen. Der Telefonhörer lag grau auf seiner Gabel. Auf dem Tisch leuchteten rot die Erdbeeren. Seine Beine gaben nach.