Will-o'-the-wisp
Joel
Ist sie nicht wunderschön? Das lange blonde Haar. Wenn sie geht, dann schwingt es von links nach rechts. Links. Rechts. Links. Rechts. Und immer wieder blitzen ihre fantastischen Hüften darunter hervor. Ihr Gesicht, es ist so zart wie Schnee in tiefschwarzer Nacht. Ihre Wangen sind so rund, so makellos. Und dann ihre Lippen. So rot wie Blut. Blut. Zu gerne würde ich ihr Blut sehen, es in meinem Mund zergehen lassen und alle ihre Bakterien und Blutkörperchen in mir aufnehmen. Wie ein Vampir. Wäre ich doch ein Vampir.
Ihre Stirn ist rund, vollkommen und rein. Ich glaube, ihre Stirn ist das einzige an ihr, das unschuldig ist. Woher ich das zu wissen glaube? Ich weiss alles über sie. Sie macht keinen Schritt ohne dass ich davon Bescheid weiss, ohne dass ich ihn registriert habe, ohne dass ich sie und ihre Bewegung begiere.
Ihr Kinn ist neckisch, frech. Und dann ihre Brüste. So rund und fest und klein und doch perfekt. Ihr Bauch ist flach, geziert von sanften Muskeln. Schwungvoll geht er in ihre Hüften über. Habe ich schon erwähnt, dass man ihre Hüfte nur ab und zu sieht? Links. Hüfte. Rechts. Es ist wie ein Spiel. Jeder ihrer Schritte scheint geplant zu sein. Ihre langen Beine tun genau das, was sie von ihnen will. Links. Hüfte. Rechts.
Aber was mich an ihr am meisten fasziniert sind ihre Augen. Sind sie braun, grün oder blau? Ich weiss es nicht. Aber niemals zuvor habe ich solche Augen gesehen. Niemals wieder werde ich solche sehen. Verführerisch, eiskalt und irgendwie warm. Ihre gesamte Iris ist ein Widerspruch. Ein Widerspruch der sich in ihren Augen einigt. In ihren Augen verstecken sich schwarze Geheimnisse und mörderische Gedanken. Und hinter ihnen verbirgt sich der Engel, der unschuldig lächelt, wenn er ihre Gedanken liest. Dieser Engel ist ihre Seele, so schwarz wie weiss, verdorben und doch so rein. Diesen Engel will ich besitzen, ich will ihn sehen, ihn in mir aufnehmen.
Was würde ich nicht alles hergeben, um mich in diesen Augen betrachten zu können? Leben, Tod und Wiedergeburt.
Sie kennt mich nicht. Sie weiss nicht wer ich bin, wie ich heisse oder wie ich aussehe. Sie weiss nicht einmal, dass ich existiere. Ich bin ihr Schatten, ihr Schutzengel, ich bin derjenige, den sie irgendwann brauchen wird. Sie ist mein. Lia.
Lia
Schlaflose Nächte, Stress und jetzt auch noch das. Ich glaube nicht, dass ich das schaffen werde.
Ich will über Schmerzen reden. Über innere wie auch äussere. Der Unterschied des Fühlens ist zweifellos gross, aber es gibt noch einen viel wesentlicheren. Denn was äusserlich an Schmerzen vorhanden ist, kann durch innere Kraft überwunden werden. Manchmal wird starke Kraft benötigt, doch oft ist ein psychischer Anstoss nötig, um eine, wenn auch narbengezeichnete, Heilung zu erlangen. Doch inneren, tiefen Schmerz kann man mit Muskeln weder bekämpfen noch verhindern. Narben, die tief unter der Haut, mitten auf der Seele liegen und ihre Reinheit verunstalten, sieht zwar keiner, doch sie erinnern immer und immer wieder an beigefügtes Leid. Seelische Wunden ruhen nie, sie können jederzeit wieder aufgerissen werden und wieder von neuem schmerzen. Wo liegt das Geheimnis der inneren Wundheilung? Gibt es so was überhaupt? Gerne würde ich die Antwort wissen, denn ich kann, in Selbstmitleid getränkt, von mir behaupten, dass meine Seele blutet. Ich hasse mich für meine Gefühle und Schmerzen, dabei trage ich noch nicht mal die Schuld für mein seelisches Unbehagen. Ich will niemandem die Schuld für irgendetwas geben, ich will nur manchen klar machen, dass sie Verantwortung zu tragen haben. Ich bin ein sensibler Mensch, reagiere schnell und oft falsch auf gewisse Aussagen. Ist das denen, die mir wichtig sind, nicht klar? Ich brauche Liebe, Romantik und schöne Worte. Ich will nicht das hören, was niemand zu hören wünscht. Das kann doch keine unmögliche Forderung sein! Hört denn keiner den Schrei nach Respekt und Anerkennung?
Ich bin kein komplizierter Mensch, ich habe nur meine Ansprüche und die stehen alle im Bereich des Möglichen. Wo liegt denn bitteschön das Problem? Ich liebe ihn. Obwohl ich mir sicher bin, dass ich einen besseren Umgang verdient habe. Könnte er nicht einfach mal nett sein? Mal so zur Abwechslung. Könnte er sich nicht einfach mal verkneifen, von schönen Frauen zu schwärmen und von nächtlichen Abenteuern mit Blondinen auf dem Spielplatz zu erzählen? Ist ihm denn überhaupt nicht klar, dass er mich damit zutiefst verletzt und mir zu verstehen gibt, dass nur grosse Brüste jegliche zwischenmenschliche Bedeutung haben?
Nein, Lia, so schlecht darfst du nicht über ihn denken. Ich weiss, dass er mich auch liebt. Und er weiss bestimmt, was er an mir hat. Er will mich nie verlieren, aber warum, verdammt noch mal, lässt er mich das nicht leiblich erfahren? Hat er Angst vor Gesichtsverlust oder ist er einfach zu ignorant, um die wirklichen Bedürfnisse einer Frau zu erkennen? Wir sind nun schon so lange zusammen, es besteht wirklich überhaupt kein Grund, sich in irgendeiner Weise vor mir zu schämen. Ich will ihm alles verzeihen was er tut, ich will ihn so akzeptieren können, wie er ist. Es wäre nur einfacher, seine dekadente Art zu akzeptieren, wenn er sich auf ein paar Liebenswürdigkeiten herablassen würde. Ich sehe sein offensichtliches Problem darin nicht und ich hoffe, ich hoffe so sehr, dass er irgendwann auf meine Wünsche eingeht. Aber wie soll ich ihm das klar machen? Am Ende jeden Streites, den wir haben, bin ich die Schuldige. Er steckt nie etwas ein, ich dafür umso mehr. So habe ich gelernt, alles in mich hineinzufressen und ich kann damit leben.
Ich könnte nicht mehr ohne ihn leben, auf gar keinen Fall, ich brauche ihn. Er ist meine zweite Hälfte (die schlechtere, wohlgemerkt) und ich liebe ihn mit all seinen Fehlern und seiner unausstehlichen Ignoranz, denn irgendwo verbirgt sich ein Funken Menschlichkeit und wenn ich es vermag, diese über die schlechten Seiten zu stellen, so zittert mein ganzer Körper vor Liebe. Doch so schön es klingt, ist es doch eher eine Seltenheit, eine Rarität, die ich für teures Geld ersteigern würde, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Meine Liebe ist tief, wie ein dickes Band das allen Kräften widersteht. Egal was er sagt, immer übersetzt mir diese starke Liebe seine Worte so, dass ich das Gute darin entdecke. Und falls nichts Gutes zu finden ist, so schmerzt sie mich, sie bestraft mich für seine Untaten und ich habe daran zu leiden. Noch immer suche ich den wahnwitzigen Sinn dieser Liebe und noch immer habe ich ihn nicht gefunden.
So gern würde ich mit ihm darüber sprechen, aber ich kann nicht, ich habe Angst vor dieser Konversation und habe das Gefühl, mich schämen zu müssen.
Aber ich liebe ihn. Mehr als es mir lieb ist. Und ich bin stolz auf meine Gefühle, denn so stark wie sie sind, sind sie mein Schutzschild für die kleine, zerbrechliche Seele, die sich dahinter verbirgt. Ohne meine Gefühle wäre sie nackt, hilflos und der Meute ausgeliefert.
Ich muss einen Schlussstrich ziehen.
Joel
Mein Name ist Joel. Ich bin 1,85 m gross, 19 Jahre alt und sehr schlank. Ja, ich bin nahezu mager.
Meine schulterlangen Haare sind schwarz, verstrubbelt und ungekämmt, an manchen Stellen sogar schon verfilzt.
Ich trage die meiste Zeit über schwarze Kleidung, manche nennen mich Gruftie, andere schauen einfach nur verlegen weg. Ich weiss, was andere Menschen über mich denken.
Meine dunklen Augen sind sanft, doch längst ist jegliches Leuchten einer starren Ausdruckslosigkeit gewichen. Bemalte Glaskugeln, würden Menschen denken, die keine Ahnung haben.
Keine Gefühle.
Meine Nase ist von winzigen Sommersprossen umgeben, welche, wie ich von einigen wenigen zu hören bekam, mir einen Hauch Wärme verleihen, und ich hasse sie dafür. Sie sind nicht warm. Sie sind grotesk.
Normalerweise verhalte ich mich unauffällig und still. Ich hänge meinen düsteren Gedanken nach und beschwöre bewusst Erinnerungen herauf, deren ausgelösten Schmerz ich dann geniesse.
Ich bin ein komplizierter Mensch, ein verbitterter Krüppel. Egal.
Die Menschen denken ich sei unberührbar und introvertiert. Mich umgibt etwas Geheimnisvolles, ja, aber was lässt sie daraus schliessen, dass ich kontaktunfähig bin? Niemand kennt mich wirklich, niemand will mich kennen lernen.
Ich bin einsam.
Vielleicht sollte man noch wissen, dass ich ein geschwächtes Immunsystem habe. Nein, nicht HIV. Einfach ein Schwächling. Ich bin anfällig auf Krankheiten. Auf schlimme Krankheiten? Hoffentlich. Denn ich will bemitleidet werden, ich will Aufmerksamkeit.
Ich will Liebe.
Ich glaube nicht an einen Gott. Ich glaube an etwas, das uns das Gute auf dieser Welt gibt, aber ich glaube nicht an Gott. Gutes auf dieser Welt. Das stimmt mich nachdenklich. Gibt es überhaupt irgendetwas Gutes auf dieser Welt? Wenn ja, gehöre ich dazu? Bin ich schlecht?
Ich fühle mich so merkwürdig an. Ich schwitze, und doch ist meine Haut von Hühnerhaut überzogen. Vielleicht bin ich krank. Das wäre schön.
Manche denken, ich würde ihnen etwas antun. Sehe ich so aus? Das weiss ich nicht.
Ich habe manchmal auch Angst vor mir. Das gefällt mir.
Die Menschen denken, ich sei blutrünstig und gefährlich. Ja, einer dieser verdorbenen Jugendlichen, die Stunden lang vor ihrem Computer Primarschüler niedermetzeln und Hassorgien veranstalten. Nein.
Ich bin kein Jugendlicher.
Ich bin ein Süchtiger. Sie heisst Lia. Ich glaube, ich habe sie schon mal erwähnt… Nein, ich bin nicht verliebt. Ich weiss gar nicht, wie sich das anfühlt. Ich will sie einfach haben. Sie zu meinem Eigentum zählen können. Sie ist eine Trophäe. Polieren und in einem kleinen Räumlein ausstellen sollte man sie. Irgendwann gehört sie mir.
Mir entgeht nichts von all den tausend Sachen, die sie tut. Es geht ihr nicht gut, ich spüre das, ich sehe das, ich rieche es. Ihr Lächeln ist blass, fast so blass wie ihre Haut, die sie unter dem Make-up zu verstecken versucht. Und ihre Augen. Sie lachen nicht mit, wenn sich ihr Gesicht zu einer gezwungenen Fratze verzieht. Ich weiss, was ihr Kummer bereitet. Sein Name ist Michael und er ist der schlimmste Feind meiner Existenz. Menschen seiner Sorte sollte man ausrotten, dahinsiechen lassen. Er hat ihr Schmerzen zugefügt. Seine Art ist es, die mich stört. Er hat die Trophäe beschädigt.
Lia
Es ist das Beste für alle. Das Beste für mich. Wer mich wohl vermissen wird? Meine Mutter, mein Vater, aber Michael? Nein, er wird froh sein, endlich wieder frei zu sein. Ich tue ihm nur einen Gefallen. Mir gefällt der Gedanke, dass das Letzte, was ich tue, ihm zu Gunsten kommt. Ich liebe ihn so sehr. Und doch wird er mir nie geben können, was ich verlange und brauche. Dieses Wissen macht mich kaputt. Ich will niemanden anderen, ich will nur ihn. Ich hoffe, er weiss das. Für ihn würde ich alles tun. Ich glaube, das hier ist Beweis genug. Ich höre ihn flüstern, warum kann er mich nicht schreien hören? Ich bin ihm verfallen und meine starke Liebe treibt mich bis in den Tod. Das ist der Weg, denn ich gehen muss.
Ich meine, was ist das Leben schon? Hat es überhaupt einen tieferen Sinn, einen weitgehenden Wert? Oder ist jede Seele nur ein Licht, ein Licht in einem Meer von Milliarden von Lichtern? Ein Licht, das irgendwann ausgeht, ausgeht und nie wieder angeht? Muss man im Leben etwas bedeuten, um ein heller Stern zu sein? Gibt es Lichter ohne Sinn? Lichter, die nicht leuchten, um zu erhellen? Lichter, die vergessen sind, seit sie brennen, die untergehen, ohne auszulöschen? Ich glaube, ich bin ein solches Licht. Wertlos.
Ich habe es mir gut überlegt. Sehr gut. Und ich werde meine Entscheidung nicht ändern. Dieser Sprung in die Tiefe ist der Sprung in die Freiheit. Dieser Sprung wird meine Probleme nicht lösen, er wird sie beenden.
Meine Mutter hat bestimmt schon bemerkt, dass ich nicht zuhause bin. Wahrscheinlich hat sie mich schon zu erreichen versucht.
Ich habe keinen Abschiedsbrief geschrieben, ich glaube nicht, dass ich erklären muss, was sie für schrecklich hält. Sie wird es so oder so nie verstehen können.
Ich würde zu gerne Michaels Gesicht sehen, wenn er davon erfährt. Wird er sich Gedanken darüber machen? Oder lässt es ihn kalt? Nein, das denke ich nicht. Wahrscheinlich wird er ein paar Tage etwas traurig sein und sich dann mit einer anderen vertrösten.
Ich bin nervös und doch entschlossen, es zu tun. Augen zu und durch, dieser Spruch scheint mir ein wenig paradox in meiner Situation. Schliesslich ist damit gemeint, dass die Augen wieder geöffnet werden.
Es ist seltsam, aber dies ist mein letzter Moment auf dieser Erde. Es gibt soviel, was mir entgeht. Ich war nie in Amerika, habe noch nie alleine Ferien gemacht. Mir wird ganz anders, wenn ich daran denke, dass ich einfach nicht so bin wie alle anderen. Sie werden alle die Schule abschliessen, vielleicht studieren und dann ihr eigenes Geld verdienen. Und ich gebe einfach auf. Ist es das wirklich wert? Ja. Und ich sollte es jetzt lieber tun, bevor ich mich anders entscheide.
Jetzt oder nie. Augen zu und durch.
Joel
Ich bin ihr Schutzengel, der den sie irgendwann brauchen wird, habe ich es nicht gesagt? Der Zeitpunkt ist gekommen, an dem ich Schritt für Schritt alle meine Träume verwirklichen kann.
Es war knapp. Sie setzte schon zum Sprung an. Ihre Arme hielt sie vom Körper gestreckt, eine symbolische Suizidgeste. Sie sah aus wie ein Engel. Doch Engel ohne Flügel fliegen nicht. Ich musste sie retten. Mit ihr wäre meine Aufgabe auf dieser Welt verloren gegangen.
Sie schläft. Ich glaube, sie wird mir noch dankbar sein, für das, was ich für sie getan habe.
Ich spiele mit ihrem wunderschönen Haar, schneide mir eine Strähne ab und lege diese sorgfältig in eine Schatulle.
Mit einem scharfen Messer schneide ich ihr ein kleines Stückchen Haut aus dem Körper. Ich spüre die tiefe, seelische Befriedigung, die mir durch ihre Anwesenheit gegeben wird. Beinahe könnte ich lächeln. So lange habe ich auf diesen Moment gewartet. Sie hat mir alle Türen geöffnet. Ich bin ihr Retter, sie ist mir noch einiges schuldig. Aber das werde ich ihr später erklären. Jetzt soll sie sich erstmals ausruhen. Ich könnte sie stundenlang ansehen.
Sie atmet so sanft. Ich schalte mein Aufnahmegerät ein, und zeichne ihre Atemgeräusche auf. Mit meiner Kamera mache ich Fotos von ihr. Aus allen Perspektiven. Ich muss alles, was mit ihr zu tun hat, festhalten. Ich würde es mir nie verzeihen, wenn ich auch nur eine Nanosekunde von diesem Augeblick vergessen würde.
Mit einer Spritze, die ich vor langer Zeit in einer Apotheke gekauft habe, nehme ich ihr etwas Blut ab. Es ist ganz hell und es scheint mir das reinste Blut der Welt zu sein.
Meine Sammlung wird langsam komplett.
Mit einer Pinzette zupfe ich eine ihrer langen Wimpern aus dem herrlichen Augenlid und lege sie vorsichtig in eine kleine Dose, die ich zu den anderen Sachen, die ich ihr entnommen habe, stelle.
Ich kann nicht widerstehen. Vorsichtig beuge ich mich über sie und langsam berühren meine Lippen die ihren. Mein Kopf scheint zu explodieren. Ein Schauder läuft mir den Rücken hinunter.
Sie öffnet langsam die Augen. Ich habe sie wach geküsst. Ich bin ihr Prinz, sie ist mein Dornrösschen. Bald werden wir uns für immer vereinigen. Für immer.
Schnell stehe ich auf, gehe zur Tür und tue das, was mir mein Glück auf Dauer bewahren wird. Ich drehe den Schlüssel der Kellertür zu und lasse ihn tief in meine Hosentasche fallen. Sie ist mein und ich werde sie nie mehr verlieren. Das lass ich nicht zu. Lange habe ich gewartet und jetzt geniesse ich mein Glück in vollen Zügen.
Sie setzt sich langsam auf und sieht sich um. Sie versteht nicht. Noch nicht. Wo sie sei, fragt sie. In Sicherheit, mein Engel, in Sicherheit. Sie blinzelt, schaut sich um. Schlaf weiter, schlaf schön. Ob sie im Himmel sei. Ich lache. Nein, mein Engel, es gibt keinen Himmel.
Lia
Einzelne Erinnerungsfetzen toben in meinem Kopf herum. Ich stand an der Brücke, bereit, es zu tun. Die Arme von mir gestreckt und im Einklang mit der Seele. Ich wollte mich gerade fallen lassen und allem ein Ende setzen, als mich jemand von hinten packte und zu Boden riss. Vor Schreck wurde mir ganz schwindlig und ich muss wohl das Bewusstsein verloren haben, denn an weiteres kann ich mich nicht erinnern.
Ich kann hören wie er mit sanfter Stimme auf mich einredet. Ich weiss nicht wie er aussieht, alles ist verschwommen. Das Zimmer, in dem ich mich befinde, schimmert in einem rötlichen Licht.
Schlaf jetzt ein, mein Engel, höre ich ihn sagen.
Plötzlich brennt die Wut in mir. Er hat mich daran gehindert, er hat mich am Leben erhalten und schreibt mir jetzt auch noch vor, was ich zu tun habe. Mit einem Mal bin ich hellwach, fahre in die Höhe und beginne auf ihn einzuschlagen. Er wehrt sich nicht, einen kurzen Augenblick lang habe ich sogar das Gefühl, dass es ihm gefällt. Mit den Fäusten bearbeite ich seine Brust, ich schreie, ich weine. Ich schlage ihn ins Gesicht, zerkratze es und verfluche ihn. Ich beginne, ihn zu beissen, schmecke den eisigen Geschmack seines Blutes auf meiner Zunge. Er schreit nicht, er weicht mir nicht aus, er lässt es einfach zu. Ich spüre die Tränen, die meine Wangen hinunter laufen und schlage weiter auf ihn ein. Ein Hieb in die linke Seite seines Oberkörpers, einer in die rechte. Plötzlich sackt alles, was mich aufrecht hielt, in sich zusammen. Ich spüre, wie meine Kraft schwindet, ich verliere die Kontrolle über meinen Körper. Die Gefühle in mir fühlen sich plötzlich nicht mehr echt an, ich habe das Gefühl, durch Wände gehen zu können. Ich bin leer. Ein Stich wie der eines Messers durchzuckt mich und die Angst und der Schmerz überkommen mich wie eine gewaltige Welle. Ich höre auf, ihn zu schlagen, falle in seine Arme und weine in seine Schulter hinein. Er drückt mich sanft an sich und plötzlich fühle ich mich so wohl wie noch nie. Ich verliere jegliches Zeitgefühl und spüre nur noch die Tränen, die meine Augen verlassen und seine Wärme. Ich weiss nicht wer er ist, wo ich bin und was er vorhat. Ich weiss nur, dass ich hier bleiben will.
Er flüstert sanfte Worte in meine Ohren und streichelt meinen Rücken. Wie er heisst, frage ich ihn. Joel, mein Engel, aber das ist jetzt nicht wichtig. Joel. Ich kenne niemanden, der so heisst. Wer bist du? Er antwortet nicht. Ich warte noch lange darauf, dass er etwas sagt, doch er scheint nicht zu beabsichtigen, dies zu tun.
Lange stehen wir so da. Dann tritt er einen Schritt zurück, sieht mich an und ich spüre, wie sein Blick mich durchbohrt. Er drückt mich sanft auf das Bett zurück, legt eine Decke über mich und setzt sich an den Bettrand. Lange Zeit verharren wir so. Ich denke nicht und ich glaube, er tat es auch nicht.
Ich kenne dich schon lange, Lia, sagt er schliesslich. Woher kennt er meinen Namen? Ich betrachte ihn. Irgendein Geheimnis umgibt ihn. Ich weiss nur, dass ich ihm dankbar bin, dass ich hier sein darf. Ich schliesse die Augen und falle in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
Joel
Sie ist so weit. Sie ist bereit für mich und alles, was ich mit ihr vorhabe. Sie mag mich. Vielleicht bin ich doch nicht so ein abstossender Mensch. Ich blute. Sie hat mich gebissen, gekratzt und geschlagen. Jetzt haben sich unsere Körpersäfte vereinigt, jetzt sind wir eins, jetzt gehört sie mir und ich ihr. Es fehlt noch der letzte Schritt. Ich habe alles perfekt geplant, es kann nichts schief gehen. Sie wünscht sich den Tod. Ich sollte ihren Wunsch berücksichtigen.
Ich gehe zu meinem Schrank, öffne ihn und stehe vor meinem Altar. Ein Altar für Lia. Hunderte von Bildern, Kassetten, eben alles, was ich von ihr habe, was ich gesammelt habe, was ich besitze. Es fehlt nur noch etwas. Sie.
Ich gehe zurück zu ihrem Bett, sie blinzelt. Ob ich Lösegeld für sie fordere, fragt sie. Nein, mein Engel, ich will viel mehr. Ihr Gesicht gefriert.
Lia
Ich habe Angst, grosse Angst. Wovor? Vor der Ungewissheit, die mich jeden Moment packt, wenn er mich ansieht, wenn er mit mir spricht. Was will er nur?
Joel
Ich sehe die Angst in ihren Augen und ich weiss, dass ich sie beenden muss. Ich bin meinem Ziel so unglaublich nahe. Komm, mein Engel, du brauchst dich nicht zu fürchten, komm zu mir.
Lia
Die Angst packt mich wie eine eiserne Hand am Herzen. Ich spüre die Wogen der Panik und versuche sie zu unterdrücken. Ich muss ruhig bleiben, ich muss ruhig bleiben. Seine Stimme ist säuselnd, beinahe spöttisch. Was soll ich tun?
Joel
Du wirst mir nicht entkommen. Komm zu mir, mein Engel.
Lia
Ich muss hier weg. Ich renne zur Tür. Sie ist verschlossen. Ich höre seine Schritte hinter mir, gleich ist er da. Was willst du?
Joel
Nur dich, mein Engel. Du brauchst dich nicht zu fürchten. Ich werde dich befreien.
Warum ziert sie sich jetzt? Sie will es doch auch! Langsam werde ich ungeduldig.
Lia
Ich muss mich wehren. Ich muss ihn ausser Gefecht setzen, ihn töten. Ein Buch! Ich nehme es und will es sogleich wieder fallenlassen Ein kalter Schock packt mich, ich spüre, wie sich sämtliche meiner Haare sträuben. Auf dem Umschlag sind Bilder von mir. Bilder, auf denen ich nackt bin. Bilder auf denen ich mit meinen Freundinnen rede. Bilder auf denen ich Michael küsse. Aber Michaels Gesicht wurde mit einem anderen überklebt. Joel. Ich fasse mich und schlage mit dem Buch zu.
Joel
Dröhnende Schmerzen. Mir wird schwarz vor Augen. Doch ich lass mich nicht aufhalten. Mein Engel, du hast mich wütend gemacht. Jetzt muss ich dich bestrafen. Ich reisse ihr das Buch aus den Händen und schlage sie ins Gesicht. Mach mich nicht wütend, mein Engel.
Lia
Ich spüre das Blut, das aus einer Platzwunde oberhalb meines Auges läuft. Wie konnte ich mich nur so von ihm täuschen lassen? Krampfhaft versuche ich aufzustehen. Ich habe Angst. Mein Körper zittert, meine Haut ist kalt und aus meinen Augen laufen kalte Tränen. Ich will schreien aber ich kann nur wimmern. Ich halte die Hände über den Kopf und mein Körper wippt ständig hin und zurück. Tu mir nichts. Bitte, bitte. Tu mir nichts. Bitte.
Joel
Sie liegt vor mir und bettelt. Bettle um dein Leben, mein Engel. Tu es für mich.
Ich packe sie am Handgelenk, drehe sie auf den Rücken und sehe ihr in die Augen. Die Angst hat jegliche Schönheit vernichtet. Ich nehme sanft ihren dünnen Hals in meine Hände und drücke mit den Daumen auf ihren Kehlkopf. Ganz sanft.
Lia
Ich ringe nach Luft, reisse die Augen auf und versuche, mich aus seinem Griff zu winden.
Joel
Ein bisschen fester drücken. Ich will deine Angst sehen. Deine Angst ist das einzige, was ich noch nicht besitze, mein Engel. Noch ein bisschen mehr Druck.
Lia
Ich habe keine Kraft mehr um zu weinen, mich zu wehren, ich spüre lediglich die Angst, wie sie an meiner Seele zerrt, wie sie meine letzten Minuten in Anspruch nimmt. Ich höre mich schreien, sehe mich am Boden liegen, wehrlos, ausgeliefert. Dann ist es vorbei.
Joel
Sie hört auf sich zu bewegen. Ich lasse von ihrem Hals ab und streiche ihr über das blonde Haar. Mein Engel. Ich hebe sie hoch und trage sie zum Altar. Das Bett, das ich extra für sie hierhin gebracht habe, wartet schon auf ihren toten Körper. Ich lege sie vor den Altar, zwischen die Kissen und küsse sie ein letztes Mal. Dann stehe ich auf, hole meine Waffe und knie mich vor sie. Den Lauf an die Schläfe gedrückt und den Blick auf sie gerichtet lächle ich das erste Mal in meinem Leben. Jetzt werden wir für immer zusammen sein, mein Engel.
Ich drücke ab.