Wimpern
Seine Geduld beim Nachdenken hat mich schon immer fasziniert. Ich erinnere mich noch gut an den Abend, an dem wir uns kennenlernten. Müde schlurfte er in die Kneipe, in der ich die Arbeit zu vergessen pflegte, und ließ sich auf den Barhocker neben mir sinken. Mir fielen, glaube ich, sofort die klaren Augen auf, aus denen er nachdenklich in die Welt hinausblickte. Ich selbst habe keine solchen klaren Augen und ich übersah damals völlig, dass er den Platz neben mir nur zufällig gewählt hatte. Ich sprach ihn an, fragte ihn, ob seine Arbeit für den Tag erledigt sei. Normalerweise erwarte ich bei solchen Fragen ein eher abwesend klingendes „Ja, wurde auch Zeit“ oder ähnliche Floskeln. Er jedoch richtete sich ein wenig auf, drehte langsam den Kopf und sah mir interessiert in die Augen.
„Ich habe nicht gearbeitet“ sagte er. Er sagte das so, als müsste mich das sehr wundern.
„Aha!“ erwiderte ich unbeholfen. Er drehte sich auf dem Hocker zu mir und wir begannen zu erzählen. Zunächst über Themen, die auch mir vertraut waren: Arbeit, Geld, Frauen. Wir unterhielten uns sehr lange und seine Themen wurden immer komplexer und vielschichtiger. Normalerweise überforderten mich tiefsinnige Gespräche zu später Stunde, aber mit ihm unterhielt ich mich stundenlang.
Plötzlich zuckte er zusammen und fuhr mit der Hand an sein Gesicht.
„Ich habe etwas im Auge“ sagte er und ließ mich nachschauen, was es war. Es war eine Wimper, die ihm beim Lidschlag ins Auge gefallen war und nun dort haftete. Er versuchte sie hinauszureiben. Als ihm das nicht gelingen wollte, versuchte ich, sie vorsichtig zu entfernen indem ich sie mit dem Zeigefinger antupfte in der Hoffnung, sie würde daran hängen bleiben. Doch die Wimper blieb wo sie war.
„Die verschwindet von selbst, durch den Tränenkanal“ sagte er schließlich und ignorierte von da an das unangenehme Gefühl, das die Wimper in seinem Auge verursachte.
Und er erzählte mir von der Wimper.
„Diese kleine Wimper“, begann er, „ist reine Bedeutungslosigkeit. Solange sie noch lang und geschwungen auf meinem Lid ist, ist sie lebendig mit allen Wimpern. Doch sobald sie sich löst, verschwindet sie in der Nichtigkeit. Sie fällt in ein Nichts und ist auf ewig vergessen. Diese kleine Wimper“, und er zeigte auf sein Auge, „hatte ihre einzige Bedeutung in dem Moment, als sie mich im Auge zu quälen begann. Und auch dieser Augenblick ist vorbei. Sie wird verschwinden, ohne dass ihr noch ein einziger Gedanke gedacht wird. Ich werde es nicht einmal mehr bemerken, wenn sie nicht mehr da ist. Sie ist ohne Leben, ohne Sinn. Sie ist nicht nur unfähig, irgendetwas zu gewinnen, ihr fehlt sogar die Chance, zu verlieren.
Für mich ist sie die Existenzlosigkeit schlechthin.“
Ich muß zugeben, dass ich nicht ganz verstand, was er da erzählte, aber ich bewunderte die Konsequenz, mit der er das Wesen einer einzigen Wimper ergründete. Er sprach sehr lange von dieser Wimper, und ab und zu blinzelte er etwas heftiger. Als wir uns verabschiedeten, war die Wimper aus seinem Auge verschwunden.
Das war der erste Abend, den ich mit ihm verbrachte, und es folgten bis heute unzählige Abende, an denen er mir die Welt erklärte. Er dachte über alles nach, für ihn war alles interessant. Manchmal saßen wir auch nur still beisammen und ich wusste, er erkundete die Stille.
Einer dieser stillen Abende war der, an dem er erfuhr, das es Krebs war. Wir sprachen kein Wort. Aber wir dachten beide sehr viel.
Die Behandlung trübte seine Augen und lähmte seinen Geist. Ich wusste, dass er litt, als er seine Haare verlor, obwohl er darüber nie sprach.
Als ich an sein Bett trat, füllten sich seine trüben Augen mit Tränen, er nahm meine Hand und hörte auf zu sein.
Sein Leben war das Bedeutendste von allen.
Ich schloss ihm die Augen und eine kleine Wimper verfing sich an meinem Zeigefinger.