Was ist neu

Wimpern

THF

Mitglied
Beitritt
21.08.2001
Beiträge
11

Wimpern

Seine Geduld beim Nachdenken hat mich schon immer fasziniert. Ich erinnere mich noch gut an den Abend, an dem wir uns kennenlernten. Müde schlurfte er in die Kneipe, in der ich die Arbeit zu vergessen pflegte, und ließ sich auf den Barhocker neben mir sinken. Mir fielen, glaube ich, sofort die klaren Augen auf, aus denen er nachdenklich in die Welt hinausblickte. Ich selbst habe keine solchen klaren Augen und ich übersah damals völlig, dass er den Platz neben mir nur zufällig gewählt hatte. Ich sprach ihn an, fragte ihn, ob seine Arbeit für den Tag erledigt sei. Normalerweise erwarte ich bei solchen Fragen ein eher abwesend klingendes „Ja, wurde auch Zeit“ oder ähnliche Floskeln. Er jedoch richtete sich ein wenig auf, drehte langsam den Kopf und sah mir interessiert in die Augen.
„Ich habe nicht gearbeitet“ sagte er. Er sagte das so, als müsste mich das sehr wundern.
„Aha!“ erwiderte ich unbeholfen. Er drehte sich auf dem Hocker zu mir und wir begannen zu erzählen. Zunächst über Themen, die auch mir vertraut waren: Arbeit, Geld, Frauen. Wir unterhielten uns sehr lange und seine Themen wurden immer komplexer und vielschichtiger. Normalerweise überforderten mich tiefsinnige Gespräche zu später Stunde, aber mit ihm unterhielt ich mich stundenlang.
Plötzlich zuckte er zusammen und fuhr mit der Hand an sein Gesicht.
„Ich habe etwas im Auge“ sagte er und ließ mich nachschauen, was es war. Es war eine Wimper, die ihm beim Lidschlag ins Auge gefallen war und nun dort haftete. Er versuchte sie hinauszureiben. Als ihm das nicht gelingen wollte, versuchte ich, sie vorsichtig zu entfernen indem ich sie mit dem Zeigefinger antupfte in der Hoffnung, sie würde daran hängen bleiben. Doch die Wimper blieb wo sie war.
„Die verschwindet von selbst, durch den Tränenkanal“ sagte er schließlich und ignorierte von da an das unangenehme Gefühl, das die Wimper in seinem Auge verursachte.
Und er erzählte mir von der Wimper.
„Diese kleine Wimper“, begann er, „ist reine Bedeutungslosigkeit. Solange sie noch lang und geschwungen auf meinem Lid ist, ist sie lebendig mit allen Wimpern. Doch sobald sie sich löst, verschwindet sie in der Nichtigkeit. Sie fällt in ein Nichts und ist auf ewig vergessen. Diese kleine Wimper“, und er zeigte auf sein Auge, „hatte ihre einzige Bedeutung in dem Moment, als sie mich im Auge zu quälen begann. Und auch dieser Augenblick ist vorbei. Sie wird verschwinden, ohne dass ihr noch ein einziger Gedanke gedacht wird. Ich werde es nicht einmal mehr bemerken, wenn sie nicht mehr da ist. Sie ist ohne Leben, ohne Sinn. Sie ist nicht nur unfähig, irgendetwas zu gewinnen, ihr fehlt sogar die Chance, zu verlieren.
Für mich ist sie die Existenzlosigkeit schlechthin.“
Ich muß zugeben, dass ich nicht ganz verstand, was er da erzählte, aber ich bewunderte die Konsequenz, mit der er das Wesen einer einzigen Wimper ergründete. Er sprach sehr lange von dieser Wimper, und ab und zu blinzelte er etwas heftiger. Als wir uns verabschiedeten, war die Wimper aus seinem Auge verschwunden.
Das war der erste Abend, den ich mit ihm verbrachte, und es folgten bis heute unzählige Abende, an denen er mir die Welt erklärte. Er dachte über alles nach, für ihn war alles interessant. Manchmal saßen wir auch nur still beisammen und ich wusste, er erkundete die Stille.
Einer dieser stillen Abende war der, an dem er erfuhr, das es Krebs war. Wir sprachen kein Wort. Aber wir dachten beide sehr viel.
Die Behandlung trübte seine Augen und lähmte seinen Geist. Ich wusste, dass er litt, als er seine Haare verlor, obwohl er darüber nie sprach.
Als ich an sein Bett trat, füllten sich seine trüben Augen mit Tränen, er nahm meine Hand und hörte auf zu sein.
Sein Leben war das Bedeutendste von allen.
Ich schloss ihm die Augen und eine kleine Wimper verfing sich an meinem Zeigefinger.

 

Lieber THF, du musst zugeben :ein etwas seltsamer Name, aber ist ja nur ein Pseudonym, nehme ich an. Also, der Inhalt deiner Geschichte gefällt mir gut. Du beschreibst ohne viele Schnörkel, worum es geht, wodurch das Wesen einer Männerfreundschaft gut zum Tragen kommt, soweit ich das beurteilen kann, wobei das nicht negativ aufgefasst werden soll. Allerdings finde ich persönlich das Ende zu dramatisch. Ich weiß nicht, sehr viele Geschichten, die ich hier gelsen habe, handeln vom Tod. Andererseits ist es genau meine Art zu schreiben, ich weiß nicht, warum gerade der Tod so großen Anklang beim Schreiben findet. Wie auch immer, das ist nur meine Meinung. Vielleicht befinde ich mich gerade auch in einem Weg-mit-den-Geschichten-vom-Tod-Tief oder so. Ansonsten gefällt mir deine Geschichte, realistisch durch den einfachen Schreibstil(positiv!). Ich hoffe, bald mehr von dir lesen zu können. Machs gut lyrik

 

Auch diese Geschichte gefällt mir sehr gut! Sie sagt einiges aus und stimmt wirklich nachdenklich.
Ich denke, selbst mir altem Banause hat sie was auf den Weg mitgegeben... ;)
Eine Wimper. Bedeutungslosigkeit.
Ein Leben. Genauso bedeutungslos?
Darüber läßt sich philosophieren.

Griasle
stephy

 

Ja, diese Geschichte erklärt den Ablauf der Philosophie sehr gut.

„Ja, wurde auch Zeit“
Genau, eine heutzutage eher gewöhnliche und nichtssagende Floskel. Es ist nichts besonders, Wörter wie Bitte, Danke, etc. verlieren irgendwie an Bedeutung je öfter sie benutzt werden, ohne noch einen Gedanken für uns selbst daran zu verlieren. Manchmal sollten wir jedoch etwas verlieren um neues zu gewinnen.

...Er sagte das so, als müsste mich das sehr wundern.
Wundern, das ist der Anfang aller Philosophie. Es ist eine Aufforderung und eine Frage danach, ob jemand bereit ist zuzuhören.

...seine Themen wurden immer komplexer und vielschichtiger.
Dann ist es sinnvoll sich langsam den essenziellen Fragen anzunähern und nicht gleich mit dem "Philosophen ins Haus zu Fallen", wie "Was ist der Sinn des Lebens".

...solchen klaren Augen [...]„Ich habe etwas im Auge“
Dies zeigt dann wunderbar, wie auffallend solche Kleinigkeiten sind.

Solange sie noch lang und geschwungen auf meinem Lid ist, ist sie lebendig mit allen Wimpern. ...
Ja, die Wimper ist hier metaphorisch für den Menschen selbst. Solange er lebt, scheint er von keiner Besonderheit geprägt zu sein. Die Wimper fällt nur auf solange sie im Auge und damit eigentlich schon ihr Schicksal besiegelt ist.

Er dachte über alles nach, für ihn war alles interessant. Manchmal saßen wir auch nur still beisammen und ich wusste, er erkundete die Stille.
Selbst in den Momenten, die für uns die letzten sein können, spiegelt sogar die Stille eine unbereifliche Faszination wieder. Sehr mitfühlsam umschrieben.

Ich schloss ihm die Augen und eine kleine Wimper verfing sich an meinem Zeigefinger.
Dieser Satz hat etwas unsterbliches in sich, die Erinnerung an die Unterhaltungen, diese ganz besondere letzte Zeit, die erzählt von seiner Seele.

In dieser Geschichte sind zwar nicht gerade innovative philosophische Ideen vertreten, aber dennoch lapidar und verständnisvoll erzählt.

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom