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Windland
Es war einmal ein kleiner Müller, dessen Mühle neben einem großen Haus stand, in dem ein reicher und mächtiger Mann wohnte. In einem kleinen Gärtchen, das der Müller neben seinem Haus hatte, lebte ein Reh und an dem kleinen Teich hatte ein Schwan sein Heim. Die Mühle des Müllers war schon alt und knatterte sehr laut, wenn der Wind die Flügel drehte. Davon erwachte der Reiche immer aus seinem Mittagsschlaf und oft auch in aller Frühe. An einem der letzten Sommertage, an dem schon der Herbstwind über die Felder wehte und die Windmühlenflügel laut knatterten, kam der reiche Mann zum Müller und sagte: „Deine Mühle ist zu laut, du musst den Wind abstellen!“
Der Müller brach also auf, denn er musste tun, was ihm der reiche und mächtige Mann sagte. Er hatte einmal sagen gehört, dass der Wind im Windland wohnte und hoffte, ihn dort abstellen zu können. Das Windland, so sagten die Leute, erreiche man, in dem man einfach geradeaus ginge. Man dürfe niemals abbiegen, keinen Umweg machen, sonst verfehle man den rechten Weg. So ging der Müller los. Sein Reh und sein Schwan begleiteten ihn.
Recht bald gelangten sie an einen großen Rübenacker, der unüberwindlich war für den kleinen Müller. Unschlüssig fragte der Müller: „Wie komme ich bloß über den großen Rübenacker?“ Da meinte das Reh: „Steig auf meinen Rücken! Der Schwan aber soll sich an meinem Schwanz festhalten, dann bringe ich euch über den Acker.“ Sie taten, was das Reh sagte, und mühelos überwanden sie den Acker.
Kurz darauf gelangten sie an einen großen See. Doch der Müller konnte nicht schwimmen. Ratlos murmelte er: „Wie komme ich nur über den großen See?“ Da antwortete der Schwan: „Steig auf meinen Rücken, nimm das Reh auf deinen Arm, dann bringe ich euch hinüber!“ Wiederum konnte der Müller das Hindernis mit Hilfe seiner Tiere überwinden.
Zuletzt erreichten sie eine mächtige Burg, die Windburg im Windland. Am Tor standen zwei Wächter. Der Müller erklärte ihnen: „Wir müssen dringend zum Wind. Wo wohnt der Wind?“ - „Wer bist du, dass du den Wind sprechen willst?“, fragte ihn einer der Wächter. „Nicht jedem ist es erlaubt, mit dem Wind zu sprechen.“ -
„Ich bin einer seiner Diener“, sagte der Müller. „Ich besitze eine Windmühle.“ -
„Dann sei es dir erlaubt. Aber wer sind die beiden dort?“, fragte der Wächter.
„Sie sind meine Freunde und haben mir geholfen, hierher zu gelangen“, sagte der Müller.
„Dann sei es ihnen auch erlaubt“, sagte der Wächter und öffnete das Tor. „Geh nur hinein, in den großen Saal dort hinten, dort sitzt unser König, der König der Winde.“
So betraten der kleine Müller, sein Reh und sein Schwan den großen Saal in der Burg des Windes. Dort saß ganz hinten an einem großen weiten Fenster, von dem aus man über das ganze Land blicken konnte, auf einer kleinen Säule ein großer Adler, größer als jeder Vogel, den der Müller je gesehen hatte. Seine Schwingen schlugen kräftig und ein gewaltiger Luftstrom fegte durch den Saal, so dass der Müller und seine Tiere sich kaum auf ihren Beinen halten konnte. Der Müller nahm all seinen Mut zusammen und sprach: „Bist du der Wind?“ - „Ja, ich bin der Wind, so wie du es meinst. Ich bin der König der Winde und von hier aus, sende ich meine ergebenen Diener, die Winde aller Zeiten und Welten aus. Das laue Lüftchen ebenso wie den Wirbelsturm, die steife Brise und den Taifun. Aber wer seid ihr und was wollt ihr?“, sprach der mächtige Adler und seine Worte hallten in dem weiten Saal.
„Ich bin der kleine Müller. Meine Windmühle steht weit weg von hier, hinter dem See und noch hinter dem Rübenacker. Und die beiden hier, das Reh und der Schwan, sind meine Freunde“, antwortete ihm der Müller. „Wir haben eine Bitte.“
„So sprecht“, ertönte die Stimme des Windkönigs. „Ihr seid meine Knechte bei den Menschen, ihr Windmüller und was ihr begehrt, will ich erfüllen, so ich kann.“
Der Müller zitterte trotz der großzügigen Ankündigung des Königs, denn er wusste um die Ungeheuerlichkeit seines Vorhabens, aber er fürchtete den Zorn des reichen und mächtigen Mannes und so bat er: „Bitte, mein König, höre auf zu wehen, schicke deine Winde nicht mehr zu uns, zu meiner Mühle.“
„Ich soll aufhören zu wehen?“, donnerte der König der Winde durch die Halle. „Wer hat diesen Wunsch? Doch nicht du?“
„Nein, der reiche und mächtige Mann. Ihn stört der Lärm“, antwortete der Müller verängstigt.
„Wer ist dieser Mann?“, fragte der Adler.
„Der reichste und mächtigste Mann unserer Gegend“, sagte der Müller.
„So, so“, sprach der König der Winde. „Und bist du der einzige Müller in eurer Gegend?“
„Ja, der bin ich“, entgegnete der Müller.
„Nun gut“, sagte der Windkönig und es hörte sich ein klein wenig so an, als ob er lachte. „Dann werde ich aufhören zu wehen, wenn der reiche und mächtige Mann das so möchte. Keiner meiner Winde wird mehr deine Mühle bewegen. Geh nun wieder heim und sei unbesorgt.“ Der Müller dankte dem König, verließ mit seinen Tieren die Windburg und begab sich auf den Heimweg. Sie überquerten den See, den Rübenacker und gelangten wieder zur Mühle. Die Flügel drehten sich nicht. Es war windstill.
Am nächsten Tag kamen die ersten Bauern mit ihren Getreideernten zur Mühle. Doch der Müller musste sie wieder heim schicken. Denn ohne den Wind bewegte sich die Mühlenflügel nicht und das Mahlwerk tat keine noch so kleine Bewegung. Der Müller konnte nun in seiner Mühle kein Mehl mehr mahlen, denn die Windmühlenflügel drehten sich nicht mehr. So konnte er kein Mehl zum Bäcker bringen, diesen konnte kein Brot und keinen Kuchen mehr backen, und die Leute konnten kein Brot und der reiche und mächtige Mann konnte keinen Kuchen mehr essen. Die ganze Gegend litt großen Hunger. Auch der reiche und mächtige Mann litt. Zwar konnte er sich aus anderen Gegenden Brot bringen lassen, aber die Müller und Bäcker von weit her ließen sich ihr Mehl und ihr Brot teuer bezahlen, so dass die Schätze des reichen und mächtigen Mannes weniger und weniger wurden.
Da bat der reiche Mann den Müller, wieder ins Windland zu wandern, um den Wind zu bitten, seine Winde wieder zu schicken. Und so machte sich der Müller erneut mit seinen Tieren auf und wanderte ins Windland, immer geradeaus, über Rübenacker und See. Wieder betrat er die Burg des Windes und wieder sprach er mit dem mächtigen König und bat ihn nun, zurückzukehren und seine Winde wieder zur Mühle zu schicken. Der König aber lachte laut und sprach: „So seid ihr doch zur Vernunft gekommen. Geh nur zurück. Noch heute werde ich euch einen kräftigen Wind schicken.“
Als der Müller und seine Tiere heimkehrten, sahen sie, dass der Wind sein Wort gehalten halte. Die Mühlenflügel drehten sich munter im Wind und sie knatterten laut. Fröhlich ging der Müller ans Mahlen und schon bald konnte er schönstes weiße Mehl in Säcke füllen und zum Bäcker bringen.
Der Wind wehte nun wieder täglich über die Felder und die Flügel der Windmühle knatterten. Und der reiche und mächtige Mann hatte nie mehr etwas dagegen einzuwenden.