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Wings of Mary
Wings of Mary
Es war ein Tag im Mai. Ein Tag wie diese, die den Sommer durch Hitze und Schwüle ankündigen, die Menschen auf die Straßen und öffentliche Orte gezogen werden, gleich Motten, nun nicht mehr als Staub, als die ersten Atombomben auf Leipzig fielen.
Manch einer bemerkte es gar nicht, verglühte in Sekundenbruchteilen im nuklearen Glutkegel des großen Befreiers und der MDR schweigt nun für immer.
Die erste Detonation fand direkt im Zentrum statt, es war keine besonders große Bombe, dennoch völlig ausreichend, um die gesamte Innenstadt in ein Szenario der Apokalypse zu verwandeln. Geschmolzener Stahl, Beton und Glass verwandelten die einst historischen Bauten in eine perverse Kopie Dalis und einsame Schreie der nun Gereinigten zogen ihre Bahnen durch die Trümmer der Südstadt.
„VATER!!“
„OH MUTTER!!“
„Warum habt ihr uns verlassen? Waren wir euch nicht gut genug, ward ihr es etwa, die den schwarzen Vogel habt beschworen??
Waren wir euch nicht dienlich? Auf eurer Suche nach Vollkommenheit, Fülle und Leben? Ist dies der Lohn, den ihr uns schenkt? Für eure Selbstsucht, irdisch Streben?“
Doch der Äther schwieg.
„Ein Mensch ist ein Mensch und ein Gott nicht mehr als ein hohles Ideal, Kinder der Trümmer, warum wolltet ihr nicht lernen?“
Und schon rollten die Sicherheitswagen und Panzerfahrzeuge an, darin Menschen, bewaffnet mit Schutzanzügen und Geigerzählern, bereit den nun radioaktiven Boden für die verstrahlten und teils zerschmolzenen Zellansammlungen, einst stolze Sachsen und belesene Buchtouristen, ohne weiteres zu betreten.
Denn sie wussten ja, ihr Knochenmark war sicher, geschützt durch eine 2mm dicke „Polydextrose-schicht“, der „Umweltfilter“ verstand es vorzüglich, die Pestpartikel der Uranschwangeren Außenlage ihres Anzuges in frisches Atemmaterial, dem Schwarzwald ähnlich, zu deklinieren und so gingen sie denn, bereit alles menschenmögliche zu bewegen, um den Opfern der Katastrophe Linderung und Hilfe zu bringen.
Zusätzlich zum Geigerzähler war natürlich jeder dieser Herren im Besitz eines Navigationssystems, mehrerer Plastiksäcke, einer Dose Farbe, einer Lautsprecheranlage und einem Bolzenschussgerät.
Ihre Aufgabe bestand also darin, die Überlebenden ausfindig zu machen. Der Kommandierende gab das Signal, die Lautsprecher, auf Gürtelhöhe der Anzüge, wurden eingeschaltet und der stille Zug dieser anonymen Helfer bewegte sich in Ringform auf den Stadtkern zu.
Noch immer streichelte die radioaktive Asche den grauen, aufgerissen Boden und die Trümmer, die Leichen und die Autowracks.
„Hehe, guck dir den an! Wenn’s von denen noch mehr gibt und wir nen paar Jahre warten könnte dass hier das zweite Pompeji werden.“
„Jau, manche von den Typen sehen echt aus wie in Gips gegossen…“
Barnes grinste.
„Wozu eigentlich die Lautsprecher, immer derselbe Scheiß, als ob es hier noch irgendwas zum zusammentreiben geben würde.“
„Naja, ist alles Politik und Bürokratie, erinnerst du dich noch an die Geschichte in Wuppertal?
Da war es doch ähnlich, die Schweine schmissen drei volle Big Boys auf die Stadt, alles war zerstört und es gab dennoch nen paar arme Seelen, die sich in irgendeinem Keller außerhalb des Einschlagskerns aufgehalten hatten und irgendwie überleben konnten. Nur Gott weiß wie…
Die fanden damals auch mehrere Penner, die sich in der Kanalisation aufhielten und überlebten. Man kann eben nie wissen, krepieren tun sie so oder so, aber unsere Aufgabe besteht nun mal darin, das scheinbar Rationale zu verifizieren: keine Überlebende.
Artikel 67 der Notstandsverordnung bei eingrenzbaren radioaktiven Einschlägen der Stufe 2 in Wohngebieten, verfasst und abgesegnet vom Ministerium für innere Sicherheit.“
„Aber…“
„Kein aber, ob es dir nun schmeckt oder nicht, jeder Schädel ein Bolzen.“
„Naja, mir stinkt’s trotzdem, diese Tropfen sind zum kotzen, meine Ohren brennen wie Feuer.
Da kann man echt froh sein, wenn’s einen sofort zerreißt, hab gehört das sich das quasi bis ins Hirn durchfrisst, da bleibt nicht mehr viel vom Gehörgang übrig, Amboss, Steigbügel, alles futsch, dass einzige was man wohl nach machen kann ist rennen, einfach rennen, gesehen hab ich’s aber auch noch nie, nur mal die Jungs von der Inneren reden hören, Marbo war auch dabei.“
„Hör mir auf mit Marbo, hab gehört, dass der in seiner Freizeit mit den Probematerialien spielt, dem sollte man mal ordentlich eine aufs Maul hauen.“
Und so gingen sie, einer wie der andere. Versuchend, den Schrecken und Kummer, die Bedrückung und Ohnmacht vergessen zu machen, die Gedanken an ein kühles Syntho-Bier oder die nächste Rafting Tour in der OR2 zu klammern, suchend, fluchend und schwitzend, scherzend wie einst die Pioniere der Tiefsee und bereit ihren Dienst für den mageren Lohn von zwei Kupschicks zu erfüllen.
Der Mantel aus Asche drückte auf sie hernieder wie zwei Atmosphären, das freundliche Antlitz der Sonne abgeschirmt und vertrieben wie durch ein Fliegengitter und die Lautsprecher brummten sanft, fast schon zärtlich, den Takt dieses Tages: DubaDubDubbiDu.
„Heh, hier ist keiner, alle tot, umso besser, da vorne kommt Stevens, das war’s dann wohl.“
„Ja, sieht ganz so aus, dann komm ich ja doch noch zu meiner Süßen heut Abend, die wird sich freuen. Mann hat die nen Tiez gemacht, die hasst diesen Job fast noch mehr als ich.“
„Glaub ich, aber…
WAS IST DAS??? ZUM TEUFEL!!“
Und der Äther sprach, gab schließlich Antwort:
Mary, ein 75 Megatonnen Engel eröffnete seine majestätischen Samtschwingen, seine gesamte Pracht und Fürsorge in einer finalen Explosion.
Artikel 67 der Notstandsverordnung bei eingrenzbaren radioaktiven Einschlägen der Stufe 2 in Wohngebieten, verfasst und abgesegnet vom Ministerium für innere Sicherheit: Keine Überlebenden.
Der Funktionalismus hatte ein weiteres mal gewonnen.