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Winterhafen

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28.02.2008
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Winterhafen

Am Abend des dreizehnten Dezember stapfte Marie in schweren Winterstiefeln über die schwarzen Holzbohlen. Der Schnee blieb hier nicht liegen, weil die Luft in der Nähe des Wassers stets ein paar Grad wärmer ist, als sonstwo. Sie betrat ihre etwas heruntergekommene Hütte und freute sich über das Feuer im Kamin. In der Stadtmitte, wo Alles weiß war, hatte sie sich gewundert, ob sie vielleicht taub geworden war. Dort war kein Laut, kein Leben, kein Verkehr, alles war erstarrt im Frost.
Der Schnee war wie ein seidenes Tuch, doch schienen diese seidenen Fäden stark genug zu sein, den Verkehrsarmen der Stadt das Blut abzuschnüren. Jedenfalls kam es ihr so vor, denn außer der Kassiererin und einem einsamen Spaziergänger hatte sie keine Menschenseele getroffen. Auf dem Fußweg zurück in das Hafenviertel war der Lärm des Lebens zurückgekehrt und die rauhe See war wie ein Wegweiser, wo Zuhause ist, wo es sich zu leben lohnt.

Nun prasselte das offene Feuer, hin und wieder zerbarst sogar ein Holzscheit und die Funken stoben auseinander. Die Hafenarbeiter entluden ein rostiges, altes Frachtschiff. Marie konnte aus ihrem Sessel heraus beobachten, wie sie mit einem Kran Kisten unbekannten Inhalts auf Lastwagen hieften. Da das Wasser auf dem Herd zu kochen begann, stand sie auf, um Gemüse für eine Suppe zu schneiden, bei so einem Wetter gibt es nichts Besseres.
Verborgen in einer der Kisten, in der Kiste, die gerade am Kran schaukelte, befand sich ein Flüchtling aus einem afrikanischen Land, welches Marie nicht kannte. Der Mann hatte bereits vier Tage lang keine Nahrung zu sich genommen. Er hatte seine Frau und Kinder in der Heimat zurückgelassen, nun lag er gekrümmt und schwach in der Ecke der Frachtkiste und nährte sich von einer kleinen Portion Hoffnung auf ein reicheres, überhaupt besseres Leben; ein Leben zumindest.

Während Marie ihren Suppentopf von der Platte schob, befestigten rauhe Männer die Ladung auf einem Lastwagen. Einige Minuten später schaltete sie das Fernsehen ein. Sie schöpfte sich einen Teller Suppe und betrachtete gemütlich auf ihrem Sofa sitzend eine Dokumentation über die Kultur und die Landschaft eines afrikanischen Landes, welches sie nicht kannte.
Ein Arbeiter rieb sich am Lenkrad sitzend die kalten Hände, dann bließ der Auspuff Dieselrauch in die Winterhafennacht und hintendrin starb ein Mann an Unterernährung, den hier keiner kannte.

 

Hallo tobiii,

Gegenüberstellungen sind natürlich ein gängiges Stilmittel für Sozialkritik. Entsprechend gibt es dazu nichts zu sagen. Deine Protagonistin ist ganz stimmig beschrieben, auch wenn ich persönlich immer finde, diese Gegeüberstellung ist kontraproduktiv. Sie hat immer so einen frommen Vorwurf sich hier nicht zu beklagen, dabei bleibt soziale Ungerechtigkeit in diesem Land auch dann soziale Ungerechtigkeit, wenn es anderen Menschen anderswo noch schlechter geht. Gut, Marie beklagt sich gar nicht, es geht ihr gut mit dem vielleicht Wenigen, das sie hat (besonders reich wird sie ja nicht geschildert), sie ist interessiert, von dem Mann im Container kann sie nichts wissen, was wirft ihr die Gegenüberstellung also vor?
Sie kann etwas vom Elend der dritten Welt wissen, vielleicht setzt sie sich sogar an anderen Tagen ein? Kurz: In der Reduzierung der Figuren auf eine Momentaufnahme liegt immer auch ein Stück Polemik, die für mich am Kern der Sache vorbei geht. Ein schlechtes Gewissen dafür, dass man lebt, nützt niemandem etwas. Für die Faktoren, die zur Flucht des Mannes führen, muss man mehr in die Tiefe gehen, auch wenn sie natürlich etwas mit dem Reichtum der Industrienationen zu tun haben, aber eben nicht mit Marie, die vielleicht wie der Mann in der Kiste gern selbst etwas mehr von diesem Reichtum profitieren würde, wenn auch nur, um sich möglicherweise einen Knochen in die Suppe zu tun.
Einige Details:

Sie betrat ihre etwas heruntergekommene Hütte und freute sich über das Feuer im Kamin.
Lange kann sie dann nicht in der Stadtmitte gewesen sein.
Dort war kein Laut, kein Leben, kein Verkehr, alles war erstarrt im Frost.
Tempus: Sie hatte sich gewundert, also muss der Perfekt für die Schilderungen der Stadtmitte aufrecht erhalten werden (Gilt für den ganzen übrigen Absatz).
Da das Wasser auf dem Herd zu kochen begann, stand sie auf, um Gemüse für eine Suppe zu schneiden, bei so einem Wetter gibt es nichts Besseres.
eine Gemüsesuppe bei der Kälte ist zwar wirklich etwas Gutes, aber ich kenne die Zubereitung normalerweise so, dass man das grob geschnittene Gemüse zunächst in etwas Fett andünstet und dann das Wasser darauf gießt.
Verborgen in einer der Kisten
Davor würde ich eine Leerzeile machen.
Er hatte seine Frau und Kinder in der Heimat zurückgelassen
und hier, auch wenn es beide Male "seine" heißt, trotzdem vor Kinder auch das besitzanzeigende Fürwort schreiben, denn das erste steht im Genitiv femininum singular, das zweite im Genitiv neutrum plural. Zu einem zusammengezogen liest sich das deshalb sehr komisch.
Ein Arbeiter rieb sich am Lenkrad sitzend die kalten Hände, dann bließ der Auspuff Dieselrauch in die Winterhafennacht und hintendrin starb ein Mann an Unterernährung, den hier keiner kannte
würde ich fürs Timing umstellen: ... und hinten drin starb ein Mann, den hier keiner kannte, an Unterernährung.

Lieben Gruß
sim

 

Hallo sim,

erstmal vielen Dank fürs Lesen und Kommentieren der Geschichte!
Zu den Details:

Tempus: Sie hatte sich gewundert, also muss der Perfekt für die Schilderungen der Stadtmitte aufrecht erhalten werden (Gilt für den ganzen übrigen Absatz).
"hatte" ist doch Plusquamperfekt, oder? Wüsste nicht, was der Perfekt in meiner Geschichte verloren hat ;) Nein, ernsthaft, könntest du mir sagen, wie man beispielsweise den Satz "Dort war kein Laut, kein Leben, kein Verkehr, alles war erstarrt im Frost." hier korrekterweise formulieren sollte? Für mich klingt das so mehr oder weniger richtig, zumindest krieg ich es gerade nicht anders hin..
eine Gemüsesuppe bei der Kälte ist zwar wirklich etwas Gutes, aber ich kenne die Zubereitung normalerweise so, dass man das grob geschnittene Gemüse zunächst in etwas Fett andünstet und dann das Wasser darauf gießt.
Da hast du natürlich recht..

Zu deiner Kritik:

In der Reduzierung der Figuren auf eine Momentaufnahme liegt immer auch ein Stück Polemik, die für mich am Kern der Sache vorbei geht.
Ich glaube du hast recht, wenn "der Kern der Sache" offene Gesellschaftskritik wäre.(also beispielsweise Kritik an einer der Figuren, die dann symbolisch für eine Gruppe von Menschen steht) Dies war aber eigentlich nicht meine Intention. Ich wollte nicht, dass die Handlung meiner Geschichte schon einen kritischen Gedanken darstellt("vordenkt"), sondern vielmehr, dass sie dem Leser einfach mit einem Bild, wie mit einer Erfahrung, etwas zeigt, worüber sie oder er nachdenken kann.
[...], was wirft ihr die Gegenüberstellung also vor? [...] Ein schlechtes Gewissen dafür, dass man lebt, nützt niemandem etwas.
Stimmt, ich will ja der Protagonistin auch überhaupt keinen Vorwurf machen. Ihre Armut gehört ebenso zu dem "Bild".
diese Gegeüberstellung ist kontraproduktiv. Sie hat immer so einen frommen Vorwurf sich hier nicht zu beklagen
Ich verstehe ehrlich gesagt nicht, was du damit sagen willst. Ich würde deine Kritik allerdings gerne besser verstehen, vielleicht kannst du das noch einmal erklären.

Diese Geschichte ist so etwas wie eine Momentaufnahme, der Schwerpunkt liegt definitiv nicht auf der Handlung. Genau auf solche Texte beziehe ich mich in meinem Post "KGs ohne Handlung" in der Arbeitsgruppe Autoren.. Dort warte ich immer noch gespannt auf Meinungen ;)

Liebe Grüße
Tobias

 

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