Winterhafen
Am Abend des dreizehnten Dezember stapfte Marie in schweren Winterstiefeln über die schwarzen Holzbohlen. Der Schnee blieb hier nicht liegen, weil die Luft in der Nähe des Wassers stets ein paar Grad wärmer ist, als sonstwo. Sie betrat ihre etwas heruntergekommene Hütte und freute sich über das Feuer im Kamin. In der Stadtmitte, wo Alles weiß war, hatte sie sich gewundert, ob sie vielleicht taub geworden war. Dort war kein Laut, kein Leben, kein Verkehr, alles war erstarrt im Frost.
Der Schnee war wie ein seidenes Tuch, doch schienen diese seidenen Fäden stark genug zu sein, den Verkehrsarmen der Stadt das Blut abzuschnüren. Jedenfalls kam es ihr so vor, denn außer der Kassiererin und einem einsamen Spaziergänger hatte sie keine Menschenseele getroffen. Auf dem Fußweg zurück in das Hafenviertel war der Lärm des Lebens zurückgekehrt und die rauhe See war wie ein Wegweiser, wo Zuhause ist, wo es sich zu leben lohnt.
Nun prasselte das offene Feuer, hin und wieder zerbarst sogar ein Holzscheit und die Funken stoben auseinander. Die Hafenarbeiter entluden ein rostiges, altes Frachtschiff. Marie konnte aus ihrem Sessel heraus beobachten, wie sie mit einem Kran Kisten unbekannten Inhalts auf Lastwagen hieften. Da das Wasser auf dem Herd zu kochen begann, stand sie auf, um Gemüse für eine Suppe zu schneiden, bei so einem Wetter gibt es nichts Besseres.
Verborgen in einer der Kisten, in der Kiste, die gerade am Kran schaukelte, befand sich ein Flüchtling aus einem afrikanischen Land, welches Marie nicht kannte. Der Mann hatte bereits vier Tage lang keine Nahrung zu sich genommen. Er hatte seine Frau und Kinder in der Heimat zurückgelassen, nun lag er gekrümmt und schwach in der Ecke der Frachtkiste und nährte sich von einer kleinen Portion Hoffnung auf ein reicheres, überhaupt besseres Leben; ein Leben zumindest.
Während Marie ihren Suppentopf von der Platte schob, befestigten rauhe Männer die Ladung auf einem Lastwagen. Einige Minuten später schaltete sie das Fernsehen ein. Sie schöpfte sich einen Teller Suppe und betrachtete gemütlich auf ihrem Sofa sitzend eine Dokumentation über die Kultur und die Landschaft eines afrikanischen Landes, welches sie nicht kannte.
Ein Arbeiter rieb sich am Lenkrad sitzend die kalten Hände, dann bließ der Auspuff Dieselrauch in die Winterhafennacht und hintendrin starb ein Mann an Unterernährung, den hier keiner kannte.