Wintersnow oder Niemand und der Schlangenhappen
Das Außenthermometer beim Uhrengeschäft zeigt minus ein Grad an. Mühsam stapfe ich durch den dichten Schnee, meine neuen Schuhe knirschen leise mit jedem Schritt.
Mein Hals ist dick eingewickelt in einen dunkelbraunen Schal, der heute wieder einmal als altmodisch verlacht wurde. Ganz so, als würde ihnen nichts besseres mehr einfallen.
Und trotzdem bekomme ich jedes Mal wieder einen kleinen Stich, so leicht und fein wie der Stich eines Kaktus, man bemerkt es kaum, und doch bleiben die winzigen Nadeln im Fleisch hängen.
Der Bus ist spät; ich reibe meine Hände aneinander, während ich an der Haltestellte warte. Es ist nicht so sehr die Kälte, die mich stört, sondern vielmehr das große, viereckige Gebäude hinter mir, dieser hässliche, in selleriegrün gestrichene Klotz, dessen Anblick alleine Widerwillen in mir hervorruft.
Schlimmstenfalls muss ich es noch vier Jahre dort aushalten. Meine vollgestopfte Schultasche zieht mich nach hinten, als ich einen Schritt nach vorne mache, wie um mich daran zu erinnern, dass vier Jahre immerhin 1460 Tage, 35 040 Stunden 2 102 400 Minuten und...ach, ist doch auch egal, ich verbringe ja nicht den ganzen Tag in der Schule, somit ist die ganze Kopfrechnerei, die ich durchgeführt habe, während ich im eisigen Wind auf meinen Bus warte, sowieso hinfällig.
Es ist furchtbar kalt, und da mein Bus nun schon fast zehn Minuten verspätet ist, beschließe ich, zur nächsten Haltestelle drei Ecken weiter zu laufen, um zu sehen, ob ich dort mehr Glück habe.
Eine Frau ruft mir nach; ich schalte komplett ab. Natürlich hat mir diese Frau sicher keine Bemerkung über meine hässliche blasse Haut oder meine altmodische Kleidung nachgerufen, wahrscheinlich wollte sie mir bloß sagen, dass mein Taschentuch aus der Manteltasche gefallen ist oder das Außenfach meiner Schultasche offensteht, doch ich kann nicht hinhören. Es ist bereits zu tief in mir drin.
Mein Gesicht fühlt sich komplett taub an, als ich an der drei Blocks entfernten Kreuzung ankomme. Nur noch wenige Meter bin ich von der Bushaltestelle entfernt, und dort sehe ich auch schon den Bus stehen, doch da fällt mein Blick auf die kleine, erleuchtete Tierhandlung an der Ecke. Ich weiß nicht, was mich dazu verleitet, den möglichst schnellen Transport nachhause aufzugeben, doch genau das tue ich.
Es klingelt leise, als ich eintrete. Fast abwesend sage ich der Verkäuferin, dass ich mich nur ein wenig umsehen will. Was genau mache ich eigentlich hier? Ich habe keine Haustiere, nur unsere Nachbarin hat einen riesigen Schäferhund, der wohl gleich alt ist wie ich und mich immer erfreut begrüßt, wenn ich ihm im Treppenhaus begegne.
Natürlich, ich bin hier, um diese Tiere anzusehen, sie einfach nur anzusehen, die Meerschweine, Kaninchen und Hamster, wie sie in ihren geräumigen Käfigen sitzen mit ihrem flauschigen Fell und sich die Pfoten putzen und Heu knabbern, ganz so als gäbe es nichts auf der Welt, das ihnen Sorgen bereiten müsste.
Ich habe keine Ahnung, wie lange ich bereits hier bin und die Käfige mit ihren Bewohnern anstarre, als mein Blick plötzlich auf ein eckiges Blatt Papier mit der sachlichen, mitleidlosen Aufschrift fällt.
„Futtermaus, 20 Schilling“, steht dort angeschrieben. Wie mit kaltem Wasser übergossen schaue ich in den zugehörigen Käfig, und da, in der Ecke, lugt ein kleines Mäuschen unter einem Heuberg heraus. Es hat glattes, schwarzes Fell, und seine Barthaare zucken, als es mich durch das Käfigglas hindurch neugierig ansieht.
Ich weiß nicht, was es ist, das mich bei diesem Anblick so furchtbar traurig macht. Natürlich brauchen auch Schlangen Futter, um zu überleben. Das ist die Nahrungskette, daran ist nichts zu ändern.
Doch nein, irgendetwas in mir findet den Gedanken unerträglich, dass dieses fellige kleine Etwas nur auf die Welt gekommen, nur von der Mutter gesäugt und von den Angestellten in diesen mit Heu ausgepolsterten Käfig untergebracht worden sein sollte, damit ein gleichgültiger Mensch „Futtermaus, 20 Schilling“ auf seine Behausung schreibt, wie ein bereits feststehendes Gerichtsurteil, dass diese Maus komplett unwissend in diesem Käfig sitzen sollte, obwohl sein Ende bereits feststand, dass ihr Leben nicht mehr als 20 Schilling wert sein sollte.
Irgendwie bin ich durcheinander, von dieser einen von vielen kleinen Ungerechtigkeiten, von dem miesen Schultag, von allem.
Ich realisiere kaum, was die Verkäuferin zu mir sagt, als ich an der Kassa stehe und ihr einen Schein reiche.
Der Bus steht wieder an der Haltestelle, als ich aus dem angenehm warmen Geschäft ins Freie trete. Es beginnt bereits, dunkel zu werden. Dicke Schneeflocken tanzen vor meiner Nase herum. Vorsichtig klettere ich in den komplett leeren Bus und setze mich in die hinterste Reihe. Die kleine braune Schachtel ruht in meinem Schoß, und ich halte sie zusätzlich mit beiden Händen fest, wie einen kostbaren Schatz, den ich um keinen Preis verlieren möchte.
Ich weiß gar nicht so recht, was ich da getan habe und warum. Ich habe nicht mal einen Käfig daheim.
Vorsichtig, ganz vorsichtig hebe ich den Deckel leicht an. Zwei schwarze Augen sehen zu mir hinauf.
Der Bus biegt in meine Straße ein und hält. Ich steige aus, mein braunes Paket dicht an mich gedrückt; sein kleiner Inwohner macht sich durch Schaben bemerkbar. Ich lächle.