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Winterspaziergang
Sanft gleitet der Neuschnee zu Boden. Ohne Eile, ohne festes Ziel bedeckt er den Sandweg, die Wiese, bleibt an den kahlen Bäumen kleben. Ein morscher Ast bricht, als die Last zu groß wird. Das dumpfe Knacken verhallt schnell. Dann ist die Welt wieder still.
Ein alter Mann in einem grauen Mantel steht in der Nähe der Straße und atmet kleine Wolken. Er nennt sich Morti, auch wenn das nicht sein richtiger Name ist, denn der Klang gefällt ihm.
Morti, alter Junge.
Der Schnee knirscht unter seinen Absätzen und Morti lächelt. Langsam überquert er die weiße Ebene, die vor wenigen Stunden noch eine Wiese war. Im Sommer spielen hier die Kinder Fußball und die Erwachsenen sonnen sich. Jetzt ist der Park verlassen. Der Mond scheint hell, der Schnee scheint zu glühen.
Morti schlägt den Kragen seines Mantels hoch.
Es ist kein besonders kalter Winter, nicht verglichen mit denen nach dem Krieg, als alles in Schutt und Asche lag und sie nie genug zum Anziehen hatten. Trotzdem friert Morti, spürt, wie sich die Kälte wie ein nasses Handtuch um seine Knochen legt. Er fragt sich, ob es wirklich am Winter liegt. Vielleicht wird er auch einfach nur alt.
Der kleine See ist schon lange zugefroren. Das Wasser ist nicht tief, aber das Eis ist tückisch. Letzte Woche sind zwei Kinder eingebrochen. Sie wollten rüber fahren zur anderen Seite. Dort wo die Weiden stehen, mit Ästen wie lange, dünne Finger, dort wo der Kanal mündete. Und das Eis etwas dünner ist.
Die Leute schrieen aufgeregt durcheinander und liefen am Ufer auf und ab, Mütter hielten ihre Kinder schützend im Arm, erdrückten sie fast, ein Mann sprang sogar ins Wasser. Auch die Feuerwehr kam schnell.
Eins konnten sie retten. Das andere geriet in Panik und unter das Eis. Sie holten es erst viel später raus. Zwei Taucher brachten es an Land. Blau gefroren und steif. Die dünnen Ärmchen vor der Brust verschränkt.
Die Natur ist unerreichbar, denkt Morti, als er weitergeht.
Seitdem kommt niemand mehr zum Schlittschuhfahren her. Vielleicht im nächsten Winter wieder.
Damals nach dem Krieg, als der eine große vorbei war und der andere, der in dem nicht geschossen wurde, gerade begonnen hatte, da war Morti auch einmal Schlittschuhlaufen. Es war seine beste Zeit, damals während des Krieges, in dem nicht geschossen wurde. Seine Arbeit wurde respektiert, er bekam Geld, viel Geld, Anerkennung und schöne Mädchen. Morti wusste, dass niemand den wahren Wert seiner Werke erkannte. Sie sahen es als professionelle Arbeit, er als Kunst. Trotzdem fühlte er sich wohl, verstanden. Unter seinesgleichen.
Morti erinnert sich gerne daran, manchmal träumt er auch davon. Dann wacht er von seinen eigenen Schreien auf. Schweißgebadet, das Gesicht zu einer grinsenden Fratze verzogen, voller Energie. Bereit, es der ganzen Welt noch einmal zu zeigen.
Ja, es war wirklich eine gute Zeit.
Und jetzt?
Jetzt ist er alt und für alte Männer wie ihn gibt es keine Arbeit mehr. Keine Anerkennung, keinen Respekt.
Auf der anderen Seite des Sees geht ein Mann mit seinem Hund Gassi. Sein Gang ist unsicher, schwankend. Der Hund verschwindet im Gebüsch und der Mann brüllt ihm hinterher.
Morti bleibt stehen und betrachtet die gedrungene Gestalt und die hängenden Schultern. Für einen Moment spürt er das Kribbeln. Wie es von seinen Händen bis in die kurzen Haarspitzen wandert.
Ein leichter Wind weht vom Eis herüber und treibt dicke Schneeflocken in Mortis Gesicht, einige bleiben kleben. Sie schmilzen nicht sofort, die Kühle tut gut.
Es ist besser so, denkt Morti und kneift die Augen zusammen. Er mag den Park, die Gegend, die Stadt. Er will nicht schon wieder weg müssen. Vielleicht ist er wirklich zu alt.
Langsam umrundet er den See, bleibt immer wieder stehen, sieht zurück, wie in der Ferne seine Spuren nach und nach verschwinden. Als wäre er nie da gewesen.
Er kommt an dem Holzsteg vorbei, auf dem im Sommer die jungen Leute sitzen und sich unterhalten, lachen, trinken. Jung sind.
An einem Abend saß Morti bei ihnen, etwas abseits auf einer Bank. Er hörte ihre Stimmen, lauschte ihren Gesprächen. Sie nahmen keine Notiz von dem hageren alten Mann mit den wasserblauen Augen, und Morti fühlte sich wohl. Lebendig. Dann kam wieder das Kribbeln und er stand schnell auf und ging, ohne sich umzusehen.
Plötzlich erblickt Morti den Betrunkenen. Er steht direkt vor ihm, immer noch bei dem Gebüsch und ruft seinen Hund. Nicht einmal zwanzig Meter entfernt. Verwirrt schaut Morti zur anderen Seite des Sees, wo er eben noch gestanden hat. Er kann sich nicht daran erinnern, wie er hierher gekommen ist. Dann spürt er wieder das Kribbeln und alles andere tritt in den Hintergrund.
Morti muss keine Entscheidung fällen. Er hat nie eine Wahl gehabt.
Seine alten Muskeln spannen sich, Regeln und Taktiken längst vergangener Tage rasen durch seinen Kopf.
"Entschuldigen Sie, junger Mann."
Morti humpelt, wie es alte Menschen tun. Und während seine linke Hand in der Luft rumfuchtelt, umschließt seine rechte den kalten Stahl unter dem Mantel.
Der Betrunkene dreht sich um. Sein Gesicht ist vom Alkohol gerötet.
"Was denn?"
Morti humpelt etwas schneller. Nicht zu schnell. Noch zehn Meter.
"Vielleicht können Sie mir helfen. Ich glaube, ich habe mich verlaufen."
Morti lächelt, wie es alte Menschen tun, die sich verlaufen haben.
"Es sieht hier ja auch alles gleich aus."
Noch fünf.
"Wo woll'n Sie denn hin?"
Noch vier.
"Zur U-Bahnstation. Sie müsste doch irgendwo in dieser Richtung sein, oder?"
Morti zeigt hinter den Mann. Noch drei. Der Kopf des Betrunkenen dreht sich. Unendlich langsam. Morti sieht den unregelmäßigen Bartwuchs, das schwammige Fleisch zwischen Hals und Kinn. Zwei.
"Nee, die nächste Station ist..." Eins.
Der Schnitt ist glatt und präzise.
Ein einzelner Tropfen fällt von der Klinge zu Boden, färbt den Schnee.
Morti tritt zurück. Für eine lange Sekunde passiert nichts. Dann geht der Betrunkene röchelnd auf die Knie, presst die Hände an den Hals. Blut spritzt im Rhythmus seiner letzten Herzschläge zwischen den wulstigen Fingern hindurch.
Es ist schnell vorbei.
Der Hund kommt zurück und schnüffelt an seinem toten Herrchen. Schließlich legt er sich neben ihn.
Morti steht einfach nur da, betrachtet sein Werk, saugt jede Einzelheit auf, ergötzt sich daran, wie ein Maler an seinem fertigen Gemälde.
Die Augenblicke verstreichen schnell. Die Zeit ist zu kurz.
Morti seufzt. Damals war es anders. Als seine Arbeit noch geschätzt wurde.
Auf dem Nachhauseweg geht er die Dinge durch, die er jetzt zu erledigen hat. Was er hier lässt, was er mitnimmt.
Schade, denkt Morti, er hat den Park wirklich gemocht. Und auch die Gegend und die Stadt.