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Winterspaziergang

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08.06.2004
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Winterspaziergang

Sanft gleitet der Neuschnee zu Boden. Ohne Eile, ohne festes Ziel bedeckt er den Sandweg, die Wiese, bleibt an den kahlen Bäumen kleben. Ein morscher Ast bricht, als die Last zu groß wird. Das dumpfe Knacken verhallt schnell. Dann ist die Welt wieder still.
Ein alter Mann in einem grauen Mantel steht in der Nähe der Straße und atmet kleine Wolken. Er nennt sich Morti, auch wenn das nicht sein richtiger Name ist, denn der Klang gefällt ihm.
Morti, alter Junge.
Der Schnee knirscht unter seinen Absätzen und Morti lächelt. Langsam überquert er die weiße Ebene, die vor wenigen Stunden noch eine Wiese war. Im Sommer spielen hier die Kinder Fußball und die Erwachsenen sonnen sich. Jetzt ist der Park verlassen. Der Mond scheint hell, der Schnee scheint zu glühen.
Morti schlägt den Kragen seines Mantels hoch.
Es ist kein besonders kalter Winter, nicht verglichen mit denen nach dem Krieg, als alles in Schutt und Asche lag und sie nie genug zum Anziehen hatten. Trotzdem friert Morti, spürt, wie sich die Kälte wie ein nasses Handtuch um seine Knochen legt. Er fragt sich, ob es wirklich am Winter liegt. Vielleicht wird er auch einfach nur alt.
Der kleine See ist schon lange zugefroren. Das Wasser ist nicht tief, aber das Eis ist tückisch. Letzte Woche sind zwei Kinder eingebrochen. Sie wollten rüber fahren zur anderen Seite. Dort wo die Weiden stehen, mit Ästen wie lange, dünne Finger, dort wo der Kanal mündete. Und das Eis etwas dünner ist.
Die Leute schrieen aufgeregt durcheinander und liefen am Ufer auf und ab, Mütter hielten ihre Kinder schützend im Arm, erdrückten sie fast, ein Mann sprang sogar ins Wasser. Auch die Feuerwehr kam schnell.
Eins konnten sie retten. Das andere geriet in Panik und unter das Eis. Sie holten es erst viel später raus. Zwei Taucher brachten es an Land. Blau gefroren und steif. Die dünnen Ärmchen vor der Brust verschränkt.
Die Natur ist unerreichbar, denkt Morti, als er weitergeht.
Seitdem kommt niemand mehr zum Schlittschuhfahren her. Vielleicht im nächsten Winter wieder.
Damals nach dem Krieg, als der eine große vorbei war und der andere, der in dem nicht geschossen wurde, gerade begonnen hatte, da war Morti auch einmal Schlittschuhlaufen. Es war seine beste Zeit, damals während des Krieges, in dem nicht geschossen wurde. Seine Arbeit wurde respektiert, er bekam Geld, viel Geld, Anerkennung und schöne Mädchen. Morti wusste, dass niemand den wahren Wert seiner Werke erkannte. Sie sahen es als professionelle Arbeit, er als Kunst. Trotzdem fühlte er sich wohl, verstanden. Unter seinesgleichen.
Morti erinnert sich gerne daran, manchmal träumt er auch davon. Dann wacht er von seinen eigenen Schreien auf. Schweißgebadet, das Gesicht zu einer grinsenden Fratze verzogen, voller Energie. Bereit, es der ganzen Welt noch einmal zu zeigen.
Ja, es war wirklich eine gute Zeit.
Und jetzt?
Jetzt ist er alt und für alte Männer wie ihn gibt es keine Arbeit mehr. Keine Anerkennung, keinen Respekt.
Auf der anderen Seite des Sees geht ein Mann mit seinem Hund Gassi. Sein Gang ist unsicher, schwankend. Der Hund verschwindet im Gebüsch und der Mann brüllt ihm hinterher.
Morti bleibt stehen und betrachtet die gedrungene Gestalt und die hängenden Schultern. Für einen Moment spürt er das Kribbeln. Wie es von seinen Händen bis in die kurzen Haarspitzen wandert.
Ein leichter Wind weht vom Eis herüber und treibt dicke Schneeflocken in Mortis Gesicht, einige bleiben kleben. Sie schmilzen nicht sofort, die Kühle tut gut.
Es ist besser so, denkt Morti und kneift die Augen zusammen. Er mag den Park, die Gegend, die Stadt. Er will nicht schon wieder weg müssen. Vielleicht ist er wirklich zu alt.
Langsam umrundet er den See, bleibt immer wieder stehen, sieht zurück, wie in der Ferne seine Spuren nach und nach verschwinden. Als wäre er nie da gewesen.
Er kommt an dem Holzsteg vorbei, auf dem im Sommer die jungen Leute sitzen und sich unterhalten, lachen, trinken. Jung sind.
An einem Abend saß Morti bei ihnen, etwas abseits auf einer Bank. Er hörte ihre Stimmen, lauschte ihren Gesprächen. Sie nahmen keine Notiz von dem hageren alten Mann mit den wasserblauen Augen, und Morti fühlte sich wohl. Lebendig. Dann kam wieder das Kribbeln und er stand schnell auf und ging, ohne sich umzusehen.
Plötzlich erblickt Morti den Betrunkenen. Er steht direkt vor ihm, immer noch bei dem Gebüsch und ruft seinen Hund. Nicht einmal zwanzig Meter entfernt. Verwirrt schaut Morti zur anderen Seite des Sees, wo er eben noch gestanden hat. Er kann sich nicht daran erinnern, wie er hierher gekommen ist. Dann spürt er wieder das Kribbeln und alles andere tritt in den Hintergrund.
Morti muss keine Entscheidung fällen. Er hat nie eine Wahl gehabt.
Seine alten Muskeln spannen sich, Regeln und Taktiken längst vergangener Tage rasen durch seinen Kopf.
"Entschuldigen Sie, junger Mann."
Morti humpelt, wie es alte Menschen tun. Und während seine linke Hand in der Luft rumfuchtelt, umschließt seine rechte den kalten Stahl unter dem Mantel.
Der Betrunkene dreht sich um. Sein Gesicht ist vom Alkohol gerötet.
"Was denn?"
Morti humpelt etwas schneller. Nicht zu schnell. Noch zehn Meter.
"Vielleicht können Sie mir helfen. Ich glaube, ich habe mich verlaufen."
Morti lächelt, wie es alte Menschen tun, die sich verlaufen haben.
"Es sieht hier ja auch alles gleich aus."
Noch fünf.
"Wo woll'n Sie denn hin?"
Noch vier.
"Zur U-Bahnstation. Sie müsste doch irgendwo in dieser Richtung sein, oder?"
Morti zeigt hinter den Mann. Noch drei. Der Kopf des Betrunkenen dreht sich. Unendlich langsam. Morti sieht den unregelmäßigen Bartwuchs, das schwammige Fleisch zwischen Hals und Kinn. Zwei.
"Nee, die nächste Station ist..." Eins.
Der Schnitt ist glatt und präzise.
Ein einzelner Tropfen fällt von der Klinge zu Boden, färbt den Schnee.
Morti tritt zurück. Für eine lange Sekunde passiert nichts. Dann geht der Betrunkene röchelnd auf die Knie, presst die Hände an den Hals. Blut spritzt im Rhythmus seiner letzten Herzschläge zwischen den wulstigen Fingern hindurch.
Es ist schnell vorbei.
Der Hund kommt zurück und schnüffelt an seinem toten Herrchen. Schließlich legt er sich neben ihn.
Morti steht einfach nur da, betrachtet sein Werk, saugt jede Einzelheit auf, ergötzt sich daran, wie ein Maler an seinem fertigen Gemälde.
Die Augenblicke verstreichen schnell. Die Zeit ist zu kurz.
Morti seufzt. Damals war es anders. Als seine Arbeit noch geschätzt wurde.
Auf dem Nachhauseweg geht er die Dinge durch, die er jetzt zu erledigen hat. Was er hier lässt, was er mitnimmt.
Schade, denkt Morti, er hat den Park wirklich gemocht. Und auch die Gegend und die Stadt.

 

Hi Donnie,


am Anfang baust wieder die für dich typische Atmosphäre auf, man könnte fast sagen, das zeichnet deine Geschichten aus. Der Schnee, der sanft herabfällt, die Stille, die nur von einem abbrechenden Ast unterbrochen wird. Sehr schön.

Hier jedoch:

Sanft gleitet der Neuschnee zu Boden. Ohne Eile, ohne festes Ziel bedeckt er den Sandweg, die Wiese, bleibt an den kahlen Bäumen kleben.
würde ich statt kleben haften schreiben. Klingt ein wenig sanfter, was auch besser zum schneien passt. ;)

Der Schnee knirscht unter seinen schweren Absätzen und Morti lächelt.
Warum sind seine Absätze schwer? Später beschreibst du den Prot als hager und weckst mit dem schwer also falsche Assoziationen.
Damals während des Krieges, in dem nicht geschossen wurde, war es anders. Als seine Arbeit noch geschätzt wurde.
kommt mir in dem kurzen Text zu oft vor.
Hier kannst dus streichen. Damals war es anders.
Gefiele mir besser.
Die Wiederholungen wirken meist recht aufdringlich.


Ansonsten: Gewohnt gute Geschichte, flüssig zu lesen, ruhiger Stil, natürlich ahnte ich schon, welche "Kunst" der Prot ausübt (obwohl ich nicht ganz dahinter komme, was er denn nach dem Krieg gemacht hat. :Pfeif: )
Zwar keine Geschichte, die sich mir für immer ins Hirn meiselt, jedoch gut zu gefallen wusste sie in jedem Fall.

Liebe Grüße,
Tamira

 

Moin Tam!

Vielen Dank für deine Kritik.
Die schweren Absätze sind raus. Du hast Recht, sie vermitteln ein falsches Bild. Auch das letzte "während des Krieges" habe ich gestrichen. War überflüssig.

Was der Prot während des Krieges, in dem nicht geschossen wurde, gemacht hat? Ich dachte an Geheimdienstaktivitäten, die wohl zur Zeit des Ost-West-Konfliktes ihre Blütezeit hatten. Der historische Bezug soll allerdings nur angedeutet werden, deshalb hielt sich meine Recherche diesbezüglich auch in Grenzen.

am Anfang baust wieder die für dich typische Atmosphäre auf, man könnte fast sagen, das zeichnet deine Geschichten aus.
Vielen Dank. Irgendwie liegen mir Anfänge. Ich muss es jetzt nur noch schaffen, das Niveau bis zum Ende zu halten. Na ja, ich arbeite daran.

Freut mich auf jeden Fall, das dir die Geschichte gefallen hat.

Moin groper!

Entschuldige bitte die identischen Titel. Ich habe deine Geschichte nicht gesehen, als ich meine gepostet habe. Vielleicht lasse ich sie ja auch noch verschieben.
Ich glaube, Horror würde ebenfalls nicht passen. Nach Seltsam? Vielleicht, ich lasse mir das noch einmal durch den Kopf gehen.

Meiner Meinung nach lächeln alte Menschen, die sich verlaufen haben, sehr wohl. Nämlich unsicher und entschuldigend.

Auch dir vielen Dank für deinen Beitrag. Schade, dass dir meine Geschichte anscheinend nicht so gut gefallen hat.

J

 

Moin groper!

Über den Grad der Verzweiflung alter Menschen, die sich verlaufen haben, und den dazu passenden Gesichtsausdruck kann man sich streiten.
Muss man aber nicht.

Für mich als Autor ist auch deine Kritik am "sinnlosen" Mord viel wichtiger, zumal ich selbst nicht sicher bin, wie homogen die Geschichte wirklich ist. Dafür fehlt mir heute noch der Abstand.

Ob kalte Krieger immer pazifistische Krieger waren oder ob es nicht doch die eine oder andere Liquidierung gab, weiß ich nicht genau. Ein Historiker kann dazu bestimmt mehr erzählen. Als Grundgerüst reicht mir jedoch die Möglichkeit, die Vorstellung. Nenn es literarische Freiheit (auch wenn sich schon zu häufig dahinter versteckt wurde).

Das alles entkräftet natürlich nicht deine Kritik bezüglich des Endes über die ich noch einmal nachdenken werde.

Danke dafür.

J

 

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