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"Wir sehen uns wieder"
„Wir sehen uns wieder“
Ein lautes Rumpeln weckt mich aus dem Schlaf und als ich erschrocken die Augen öffne, erwarte ich einen Einbrecher vor mir zu sehen.
Stattdessen erblicke ich … den Tod!
Er sieht genauso aus wie auf Gemälden dargestellt: Ein Skelett, das in einen zerfetzten schwarzen Umhang gehüllt ist und in der Hand eine riesige Sense hält.
„Ich sollte nicht so viel trinken“, denke ich und schließe die Augen. „Der letzte Wodka war eindeutig zu viel.“
Ich warte, dass diese, zugegebenermaßen sehr echt wirkende, Sinnestäuschung sich in Luft auflöst.
Der modrige Geruch, der von der Gestalt ausgeht, kann jedoch kaum meiner Fantasie entspringen.
Ich setze mich auf, reibe mir den Schlaf aus den Augen und zwicke mich in den Oberarm. Die Erscheinung verwindet nicht.
Mein Herz hämmert in meiner Brust und ein Schrei steckt in meiner Kehle fest.
„Ich bin gekommen, dich zu holen“, sagt der Tod. Seine Stimme klingt, wie tausend Gabeln, die über einen Teller gescharrt werden.
Sie verursacht mir eine Gänsehaut.
„Du musst dich irren“, presse ich schließlich heraus.
„Ich habe mich noch nie geirrt“, poltert der Tod los und ich kann diesen Lärm nur ertragen, indem ich mir die Ohren fest zuhalte.
„Hör mal, ich bin noch nicht einmal dreißig Jahre alt. Bisher habe ich immer gesund gelebt. Ich rauche nicht, treibe regelmäßig Sport, ernähre mich richtig und trinke nicht“, erkläre ich. „Jedenfalls nicht oft“, füge ich vorsichtshalber hinzu. Ich schätze der Tod mag es nicht, angelogen zu werden.
Der Tod beginnt in seinem Umhang herumzunesteln und als er daraus einen Computerausdruck hervorzaubert, glaube ich meinen Augen nicht zu trauen.
„Sophia Sanders?“, liest er stockend vor.
Ich nicke.
„Wusste ich doch, dass ich mich nicht irre“, höhnt der Tod.
„Das kannst du doch nicht machen“, schreie ich.
„Ich hab das nicht zu entscheiden“, sagt der Tod und lässt seine Sense durch die Luft sausen.
„Und jetzt Schluss mit dem Gerede. Ich hab es eilig.“
Ich springe auf. „Das ist nicht fair. Ich mache alles, was du möchtest, aber tu mir das nicht an. Ich möchte doch noch so viel erleben.“
„Alles?“, fragt der Tod mich.
„Natürlich“
Der Tod hält inne und kratzt sich an seinem Totenschädel.
„Ich wüsste etwas, das du mir geben kannst.“
Ich winke ab. „Ich weiß schon, du möchtest meine Seele. In Filmen konnte ich nie verstehen, warum die Menschen ihre Seelen verkaufen, aber jetzt ist mir das egal.“
„Deine Seele?“, faucht der Tod.
„Ja, wenn du möchtest…“
„Ich glaube, du verwechselst mich da mit jemandem.“
Ich versuche scharf nachzudenken, doch angesichts dieser absurden Situation gelingt es mir nicht.
„Ich hätte gerne deine Sinne“, fordert er schließlich.
„Meine Sinne?“
„Drücke ich mich undeutlich aus?“
Ich schüttle eilfertig den Kopf. Ich schätze der Tod ist einer von denen, die man lieber nicht verärgern sollte.
„Warum meine Sinne?“, kann ich mir dennoch nicht verkneifen zu fragen.
Der Tod zögert mit seiner Antwort. „Ich möchte herausfinden, warum die Menschen so an ihrem Leben hängen. Vermutlich liegt es an ihren Sinnen. Ich habe schon einiges darüber gelesen.“
„Aber du siehst und hörst doch?“
Der Tod winkt ungeduldig ab. „Es ist anders. Ich sehe und höre nicht wie die Menschen.“ Er denkt einen Augenblick nach, ehe er weiter spricht: „Ich könnte dir… ähm… fünf Tage geben. An jedem dieser Tage, gibst du mir einen deiner Sinne.“
„Fünf Tage? Ist das nicht ein bisschen wenig? Du könntest mir dafür wenigstens noch einen Wunsch erfüllen.“
Ich glaube ich bin die erste, die den Tod um einen Wunsch bittet. Vermutlich könnte er ihn nicht einmal dann erfüllen, wenn er wollte.
„Was möchtest du?“, fragt er mich.
„Ich… ich bin schon immer auf der Suche nach meiner großen Liebe. Kannst du mir helfen, sie zu finden?“
Der Tod schüttelt den Kopf: „Große Liebe? Ich habe schon davon gehört, doch ich weiß nicht, was die Menschen wirklich damit meinen. Möchtest du dir nichts Spannenderes wünschen?“
Ich schüttle den Kopf.
„Wie du möchtest. Ist schließlich deine Entscheidung. Du wirst also deiner großen Liebe begegnen. Erwarte aber bitte nicht, dass er einfach so in dein Zimmer spaziert. Du musst schon selbst etwas dafür tun.“
Ich komme mir verarscht vor. Was soll denn das für ein Wunsch sein, wenn es am Ende doch in meiner Hand liegt?
„Das ist unmöglich“, widerspreche ich schließlich. „Ich suche schon jahrelang nach meiner großen Liebe. Wäre es so einfach, hätte ich sie längst gefunden. Und du möchtest mir allen Ernstes nicht mehr als lumpige fünf Tage geben?“
„Wenn ich sage, du begegnest deiner großen Liebe, dann meine ich das auch so.“
„Ich denke über dein Angebot nach.“
„Was gibt es da nachzudenken? Bist du wahnsinnig?“
„Ich möchte einfach darüber nachdenken. Schließlich verschenkt man nicht jeden Tag seine Sinne.“
„Ich frage nur einmal, nun ja, normalerweise gar nicht. Ich bin doch kein Versicherungsvertreter“, poltert der Tod wieder los.
„Okay, okay“, versuche ich ihn zu beschwichtigen. Was hab ich schon zu verlieren? Fünf Tage sind besser als nichts.
Der Tod reibt sich die Hände. Ich schätze, dass er erfreut ist. „Ich wusste doch, dass du vernünftig bist. Welchen deiner Sinne möchtest du mir als erstes geben?“
„Meinen Geschmackssinn“, antworte ich spontan. Ich glaube, dass ich auf den am leichtesten verzichten kann.
„In Ordnung. Leg dich schlafen. Morgen früh, wenn du aufwachst, wirst du nichts mehr schmecken.“
„Und meiner großen Liebe begegnen?“, hake ich nach.
„Morgen oder an einem anderen Tag“, faucht der Tod mich an.
„In Ordnung“, antworte ich kleinlaut, obwohl gar nichts in Ordnung ist.
„Gut, wir sprechen uns wieder.“
Wenige Sekunden später, ist nur noch der modrige Geruch übrig und ich kann nicht glauben, dass alles wirklich passiert ist.
Tag 1
Ich wache auf, als die ersten Sonnenstrahlen meine Nase kitzeln.
Sofort kommt mir wieder dieser seltsame Traum in den Sinn. Irgendetwas über den Tod und meine Sinne.
Ich grinse in mein Zimmer hinein und freue mich schon auf das Gesicht meiner Freundin, wenn ich ihr von diesem absurden Traum erzähle.
Immer noch lächelnd stehe ich auf und laufe ich ins Bad, um mich zu duschen.
Plötzlich schreie ich auf. Wo bleibt der schlechte Geschmack im Mund?
Ich steige aus der Dusche. Das Wasser perlt von mir ab und bildet eine Pfütze am Boden. Ich renne klatschnass in die Küche und hole mir eine Chilischote aus dem Kühlschrank. Ohne zu zögern, beiße ich hinein und schmecke nichts. Es ist nicht dieses Nichts, mit dem man den Geschmack mancher Lebensmittel bezeichnet, sondern wirklich nichts.
Ich schütte mir eine Priese Salz auf die Zunge, stopfe mir einen Schokoriegel in den Mund und trinke einen Schluck Essig. Nichts!
Panik steigt in mir auf. Das war kein verrückter Traum. Habe ich heute Nacht tatsächlich mit dem Tod gesprochen?
Der Gedanke ist so absurd, dass ich mich erst einmal auf einen Stuhl fallen lasse.
Je länger ich darüber nachdenke, desto wahrscheinlicher kommt es mir vor.
Aber wenn es stimmt, dann habe ich nur noch fünf Tage.
Ich würde mich am liebsten in meinem Bett verkriechen, mir die Decke über den Kopf ziehen und weinen… doch ich muss mich schließlich auf die Suche begeben.
Der Tod sitzt vor einem Hamburger.
Die aufregendste Situation, die ihm seit vielen, vielen, vielen Jahren widerfährt.
Endlich wird er erfahren wie die Dinge, die Menschen essen, schmecken.
Er versucht den Moment des Hineinbeißens noch eine Weile hinauszögern, doch er hält es nur wenige Sekunden aus. Er stopft sich den Burger auf einmal in den Mund und spuckt ihn kurz darauf wieder in den Teller zurück.
„Scheußlich“, ruft er. „Igitt, das schmeckt wirklich scheußlich.“
Eine Stunde später sitze ich immer noch in der Küche und weiß nicht wo ich mit der Suche beginnen soll.
„So lange du hier blöd herumsitzt, wird das nie etwas“, höre ich plötzlich die Stimme des Todes. „Beweg deinen Hintern und mach, dass du aus dieser Wohnung herauskommst.“
Ich zucke zusammen und drehe mich um. Niemand zu sehen.
Trotzdem – er hat Recht.
Ich beschließe zunächst in ein Café zu gehen. Dort entscheide ich mich für heiße Schokolade und eine Stück Torte. Ich schmecke zwar nichts, aber ich kann kaum hier sitzen, ohne etwas zu bestellen.
Immer wieder werfe ich einen Blick zur Türe, damit ich jeden Mann, der das Café betritt, in Augenschein nehmen kann.
Der erste ist viel zu alt, der nächste zu jung. Der dritte kommt aus diversen anderen Gründen erst recht nicht in Frage.
„Du wolltest deine große Liebe, du hast keine Ansprüche an sein Aussehen gestellt“, zischt der Tod.
Ich stöhne: „Muss ich etwa alles extra erwähnen? Ich dachte du kennst meine Vorstellung.“
Die Leute starren zu mir herüber und mir wird bewusst, dass ich laut gesprochen habe. Peinlich berührt starre ich in meine Tasse und rühre mein Getränk so hastig um, dass die Hälfte herausschwappt.
Resigniert trete ich wenig später den Weg nach Hause an. Ein totaler Reinfall. Genauso wie in all den Jahren vorher.
Wütend trete ich gegen eine Mülltonne und halte mir den Fuß vor Schmerzen.
„Welchen Sinn gibst du morgen ab“, mischt sich die Stimme des Todes wieder in meine Gedanken.
„Gar keinen“, fauche ich. „Das wird sowieso nichts.“
„Abmachung ist Abmachung“, beharrt er stur. „Ich verspreche dir, dass du ihn finden wirst.“
„Meinen Geruchssinn“, entschließe ich mich. Der Tod ist kein besonders guter Verhandlungspartner.
Tag 2
Der Wecker reißt mich schon um sechs Uhr morgens aus dem Schlaf. Verschlafen öffne ich die Augen.
Einen Moment lang frage ich mich, warum um alles in der Welt, ich so früh aufstehen wollte.
Glückselige Unwissenheit. Einen Augenblick später fällt es mir wieder ein.
Ich wollte ein paar Runden mit der U-Bahn drehen, denn wenn ich meiner Freundin glauben darf, dann lernt man dort sehr gut jemanden kennen.
Hastig springe ich aus dem Bett, schlüpfe in meine Jeans und streife mir mein Shirt über.
„Kleiner Tipp“, höre ich den Tod. „Du solltest dich wirklich waschen. Du riechst nicht besonders.“
Ich wirble herum und sehe den Tod vor mir stehen.
„Mein Geruchssinn“, rufe ich erschrocken aus. „Ich habe ihn verloren.“
Einen kurzen Moment lang erinnere ich mich an den modrigen Gestank des Todes und bin beinahe froh über diese Tatsache.
„Armer Kerl“, schießt es mir durch den Kopf. „Er muss es jetzt die ganze Zeit mit seinem eigenen Gestank aushalten.“
„Kann ich mich vielleicht duschen?“, fragt der Tod.
„Meinetwegen.“
Der Tod steht lange unter der Dusche. Kein Wunder, schließlich ist es die erste in seinem langen, langen Leben. Dass er seinen Gestank los wird, bezweifle ich allerdings.
„Ich bin fertig“, ruft er mir schließlich zu. Ich eile ins Bad und stelle mich auch unter die Dusche. Der Idiot hat fast das ganze warme Wasser verbraucht.
„Gott“, stöhnt der Tod. „Ich muss mich leider krank melden. Ich weiß, das ist noch nie vorgekommen, aber ich kann den Gestank nicht mehr ertragen.“
„So, so“, murmelt Gott und der Tod könnte schwören, dass seine Stimme sich spöttisch anhört.
„Es hatte durchaus Sinn dich so zu erschaffen, wie du bist.“
„Ach“, faucht der Tod. „Ich muss mich doch nur daran gewöhnen.“
Deprimiert sitze ich am späten Nachmittag wieder in einem Café. Wieder keinen Erfolg gehabt! Vielleicht habe ich in meinem Leben zu viele Liebesfilme gesehen und falsche Vorstellungen von meiner großen Liebe. Ich muss mich schleunigst um die richtigen bemühen, denn meine Zeit wird gefährlich knapp.
Gerade, als ich mich meinen Tränen hingeben möchte, betritt er den Raum. Engelschöre erschallen in meinen Gedanken, die Sonne scheint ein bisschen heller und ich bin mir sicher, dass die Blumen blumiger duften würden, wenn ich sie nur riechen könnte.
Er sieht nicht so aus, wie ich mir meinen Traummann vorgestellt habe. Er überragt mich nur um wenige Zentimeter und ich vermisse die strahlenden blauen Augen, mit denen er in meiner Phantasie ausgestattet war.
Ich weiß sofort, dass ich mein ganzes Leben mit ihm verbringen möchte. Wobei mein Leben ja, genau genommen, nur noch drei Tage dauern wird.
„Möchten Sie sich zu mir setzen“, rufe ich quer durch den Raum. Die anderen Leute starren mich an, halten für einen Moment in ihren Gesprächen inne und warten gespannt auf die Reaktion des Mannes.
Der kommt langsam auf mich zu. „Kennen wir uns?“, fragt er mich. Seine Stimme klingt unsicher.
„Nein, aber wir werden uns gleich kennen lernen. Sie sind nämlich meine große Liebe.“
„Idiotin“, höre ich die Stimme des Todes. „Kannst du nicht ein wenig sensibler vorgehen?“
Der Mann sieht mich ungläubig an und ich kann nichts anderes tun, als verlegen zu kichern.
„Nur ein Scherz“, sage ich beruhigend.
Er schüttelt lächelnd den Kopf: „So etwas ist mir noch nie passiert.“
„Ich habe nicht mehr viel Zeit“, sage ich und grinse.
„Ich liebe dich“, platze ich schließlich heraus und laufe danach puterrot an. Warum habe ich das gesagt?
„Wie bitte?“, fragt er irritiert.
„Ich. Liebe. Dich“, wiederhole ich.
Er schüttelt ungläubig den Kopf und fragt sich sicherlich, ob ich noch alle Tassen im Schrank habe. Vermutlich wird er gleich aufstehen, sich entschuldigen und gehen.
„Außerdem möchte ich mit dir schlafen. Wir könnten gleich morgen heiraten.“
„Ähm… ich weiß ehrlich gesagt gar nicht, was ich jetzt sagen soll.“
„Macht nichts“, sage ich und streiche ihm beruhigend über seine Hand. „Wie heißt du eigentlich?“
„Marco und selbst?“
„Sophia“, antworte ich.
Er schüttelt wieder den Kopf. „Soll ich dir etwas verraten?“, flüstert er und beugt sich zu mir herüber. „Ich glaube, du bist meine große Liebe.“
„Danke“, rufe ich. Eigentlich meinte ich den Tod, doch Marco grinst und winkt mit einem lässigen „Bitte“ ab.
Bald nach unserer Begegnung verlassen Marco und ich das Café, fahren auf dem schnellsten Weg in meine Wohung und gehen miteinander ins Bett.
Ich kann nicht fassen, dass ich tatsächlich mit Marco schlafen habe, nachdem ich ihn gerade mal eine halbe Stunde kenne.
Na ja, schließlich habe ich auch nicht die Zeit eine obligatorische Anzahl von Dates abzuwarten. Verzweifelte Situationen erfordern verzweifelte Maßnahmen.
Plötzlich wird mir schwer ums Herz. „Warum konnte ich ihm nicht früher begegnen?“, frage ich den Tod in Gedanken. Er antwortet nicht.
„Gib mir mehr Zeit“, flehe ich.
„Ich liebe dich“, haucht Marco mir ins Ohr.
Mein ganzes Leben lang habe ich nach meiner großen Liebe gesucht, warum soll jetzt, da ich sie gefunden habe, alles so schnell vorüber sein?
Es ist spät und ich höre Marcos gleichmäßiges Atmen neben mir. Der Tod meldet sich nicht. „Vielleicht hat er mich vergessen“, denke ich hoffnungsvoll.
„Vergessen?“, meldet er sich in diesem Moment zu Wort.
„Ich habe noch nie etwas vergessen. Welchen Sinn möchtest du morgen abtreten?“
„Meinen Tastsinn“, entschließe ich mich schweren Herzens.
„Das war es dann wohl mit meinem Liebesleben", kann ich mir nicht verkneifen zu sagen.
Tag 3
„Verdammter Mist“, kreischt der Tod. Wie immer während seiner Arbeitspausen hat er seine Sense wild um sich geschwungen und sie sich dabei versehentlich an seinen Kopf geschlagen. Ein heftiger Schmerz fährt ihm durch seinen Körper und reißt ihm beinahe den Boden unter den Füßen weg.
„Ich möchte diese Sinne nicht mehr“, denkt er sich. "Sie sind nur eine Belastung für mich."
Ich schlafe mit Marco, doch ich spüre nichts. Ich streiche über seine Bartstoppeln, doch meine Finger können sie nicht ertasten.
Ich beginne zu weinen. „Was ist los?“, fragt Marco mich entsetzt. „Hab ich etwas falsch gemacht?“
Hastig schüttle ich den Kopf. Soll ich ihm alles erzählen? Er würde doch nur gehen, weil sich meine Geschichte viel zu unglaubwürdig anhört.
Ich entschließe mich schließlich, ihm doch alles zu sagen. Schweigen war noch nie meine Stärke.
Während der ganzen Erzählung wage ich es kaum, ihn anzusehen.
„Ich weiß, dass sich alles ziemlich seltsam anhört, doch es ist die Wahrheit. Morgen werde ich nicht mehr hören und übermorgen nicht mehr sehen können… und dann…“
„Sag so was nicht. Du musst noch einmal mit ihm reden. Das kann der doch nicht machen.“
„Hör mal, wir sprechen hier vom Tod.“
„Na und?“, fragt Marco und zuckt die Schultern, als wäre seine Oma das Gesprächsthema.
„Ich glaube nicht, dass es etwas bringt.“
„Ich fürchte, ich muss schon wieder einen Tag frei nehmen“, erklärt der Tod. Gott mustert ihn mit strengem Gesicht. „Das geht nicht. Das weißt du doch genau, oder?“
„Ich kann nicht arbeiten. Mir wird von dem Gestank übel, mein Kopf tut so weh, dass ich keinen klaren Gedanken mehr fassen kann.“
„Da musst du durch“, antwortet Gott mit strenger Stimme. „Du wolltest es so, also höre jetzt endlich auf herumzujammern.“
Marco und ich sitzen in der Küche und schmieden Pläne. Er stellt sich alles viel zu einfach vor. Er denkt, ich könnte einfach zum Tod gehen, ein klärendes Gespräch führen und dann wäre alles wieder gut. Ich glaube, ihm ist wirklich nicht klar, mit wem ich meine Abmachung getroffen habe.
„Du musst es wenigstens versuchen“, beschwört er mich.
„Das ist doch sinnlos“, maule ich.
„Was hast du schon zu verlieren?“, fragt er mich.
Stimmt! Was habe ich schon zu verlieren?
Ich schließe mich im Badezimmer ein und rufe nach dem Tod. Ich glaube nicht, dass er kommen wird, solange Marco mit im Zimmer ist.
„Was ist?“, faucht der Tod mich an, als er wankend vor mir steht.
Soweit man das von einem Skelett behaupten kann, sieht er wirklich schrecklich aus.
„Ich wollte dich fragen, ob ich meine Abmachung rückgängig machen kann.“
Der Tod starrt mich aus den schwarzen Löchern in seinem Schädel an.
„Du bist wohl verrückt. Ich kann das sowieso nicht entscheiden.“
„Wer denn dann?“, frage ich blöde.
„Na wer wohl?“, fragt er zurück.
„Dann rede mit ihm.“
„Du hast wohl den Verstand verloren. Denkst du, ich kann einfach ankommen und ungehörige Bitten stellen?“
„Bitte“, wiederhole ich.
„Lass mich in Ruhe. Es geht mir wirklich sehr elend und du hältst mich nur auf.“
„Bitte“, wiederhole ich und sehe ihn mit meinen flehensten Augen an.
Der Tod stöhnt. „Ich wusste, dass man mit Menschen keine Abmachungen machen sollte.“
„Bitte.“
„Ich sehe, was ich machen kann.“
„Wie bitte?“, kreischt meine Mutter in das Telefon.
„Ich werde heiraten“, wiederhole ich meine Worte so langsam, als spräche ich mit einem kleinen Kind.
„Sophia, du kannst doch nicht einfach heiraten. Magst du uns deinen Freund nicht vorstellen?“
„Keine Zeit Mama.“
„Wie lange kennst du ihn denn schon?“
„Seit Gestern.“
Ich halte den Hörer vorsichtshalber einen halben Meter von meinem Ohr weg, sonst könnte ich taub werden, ehe der Tod mich dieses Sinnes beraubt.
„Du bist wohl wahnsinnig geworden“, höre ich sie zetern.
„Mama, ich muss jetzt zum Standesamt. Du kannst gerne kommen, aber schnell, sonst kommst du zu spät.“
Nervös stehe ich dann vor dem Standesbeamten. Ich bekomme kaum etwas von der Zeremonie mit. Im Hintergrund höre ich meine Mutter schluchzen und meinen Vater beschwichtigende Worte murmeln.
Sie fragt sich jetzt sicher, was sie bei meiner Erziehung falsch gemacht hat.
„Wenn du wüsstest“, denke ich mir.
Marco strahlt während der ganzen Trauung. Seine Eltern sind etwas gefasster, doch auch ihnen sieht man an, dass sie nicht verstehen, was vor sich geht.
Wäre sicherlich eine lustige Geschichte, die man später seinen Enkeln erzählen könnte: „Wisst ihr, damals als wir geheiratet haben, da hatte eure Oma eine Abmachung mit dem Tod…“
Abends im Bett bitte ich Marco mir eine Geschichte zu erzählen. Ich möchte mir seine Stimme einprägen, schließe meine Augen um sie in jeden Winkel meines Gehirnes eindringen zu lassen. Morgen werde ich ihn nicht mehr hören, übermorgen nicht mehr sehen… und danach werde ich gar nicht mehr da sein.
Ich möchte so gerne weinen, denn so langsam begreife ich, dass alles kein Spiel ist. Ich werde sterben, ich werde mein Glück genauso schnell verlieren, wie ich es gefunden habe.
„Ich hoffe wirklich, dass der Tod jede Anstrengung unternimmt Gott vom Gegenteil zu überzeugen“, sagt Marco schließlich nachdenklich.
Plötzlich muss ich lachen. Ich lache und lache. Tränen fließen über meine Wangen und wenn ich noch etwas spüren könnte, dann würde mein Bauch davon weh tun.
„Das ist so absurd“, sage ich. „Wenn uns jemand hören könnte“, kichere ich wieder.
Marco fällt in mein Kichern ein und mit einem Lächeln auf dem Gesicht schlafe ich schließlich ein.
Tag 4
Ich erwache und fühle nichts. Ich weiß nicht, ob es kalt oder warm ist. Ich kuschele mich an Marco und kann ihn nicht riechen. Ich sehe Vögel an meinem Fenstersims sitzen. Sie scheinen zu pfeifen, doch ich kann nichts hören.
Marco schlägt die Augen auf und an der Bewegung seiner Lippen erkenne ich, dass er etwas wie „Guten Morgen“ sagt.
„Morgen“, antworte ich und kann nicht einmal mehr meine eigene Stimme in meinem Kopf hören.
Marco steht auf, läuft aus dem Zimmer und kommt kurze Zeit später mit Block und Stift zurück.
„Ich liebe dich“, schreibt er darauf.
„Ich liebe dich auch“, antworte ich und entlocke ihm damit ein Lächeln.
„Ich komme dich zu holen“, sagt der Tod und hält sich die Ohren, ob seiner schrecklichen Stimme zu.
„Was habe ich nur getan?“, fragt er sich.
„Bereust du es jetzt etwa?“, hört er die höhnische Stimme Gottes, die so grell an sein Ohr dringt, dass er einen erstickten Schrei ausstößt.
„Nein, wieso denn?“, fragt er mit trotziger Stimme.
Marco und ich unterhalten uns den ganzen Tag mittels dieses Blockes.
„Soll ich dir etwas zu Essen machen?“, möchte er gerade wissen.
Ich nicke.
Marco bleibt lange weg und kommt mit einem Teller dampfender Pasta zurück.
„Vorsicht heiß“, lese ich seinen Lippen ab.
Ich winke ab. Ich merke sowieso nichts davon.
„Ich hab die Soße versalzen“, gesteht er mir später schriftlich.
Ich zucke die Schultern. Genau genommen hätte er mir alles servieren können.
Die Gabel rutscht mir immer aus der Hand, weil ich sie nicht spüren kann. Nur die jahrelange Gewohnheit ermöglicht mir, sie überhaupt in den Händen zu halten.
Zum ersten Mal während seiner langen, langen Existenz verspürt der Tod Angst. Er hat genug von diesen Sinnen. Er möchte keinen einzigen mehr. Er muss mit Gott sprechen und ihm gestehen, dass er einen großen Fehler gemacht hat.
Noch bevor er dazu kommt seine Gedanken in Worte zu fassen hört er schon Gottes Stimme.
„Pech, mein Freund. Da musst du durch.“
Tag 5
Ich vermute, dass es morgen ist, doch ich weiß es nicht. Die Schwärze hinter meinen Augen kommt mir hell vor.
Vielleicht berührt Marco mich in diesem Moment, doch ich kann nichts fühlen. Vielleicht hantiert er in der Küche mit dem Frühstücksgeschirr herum? Vielleicht liegt der Geruch von Spiegeleiern und gebratenem Speck in der Luft?
Vielleicht bin ich auch schon tot. So muss es sich anfühlen. Wie dieses undurchdringliche Nichts.
„Es stinkt“, kreischt der Tod. „Und es blendet so. Ich kann dieses grelle Licht nicht aushalten. Es tut so weh. Meine Augen tun so weh.“
„Bitte hilf mir doch, Gott. Bitte.“
Gott räuspert sich: „Siehst du ein, dass du einen Fehler gemacht hast?“
Der Tod nickt eifrig.
„Wirst du endlich damit aufhören an deiner Existenz herum zu maulen?“
Wieder nickt der Tod.
„Nun gut, dann geh zu dem Mädchen und sag ihr, dass sie ihre Sinne wiederbekommt und weiter leben darf.“
Der Tod schüttelt verwundert den Kopf. Er hätte nicht damit gerechnet, dass er ihr das Leben schenken darf.
Sollte am Ende alles ein Plan gewesen sein?
Die letzten Worte, die ich vom Tod hörte, waren: „Wir sehen uns wieder“.
Ich glaube er hat dabei gekichert.